Urteil des BFH vom 29.10.1999
Verletzung rechtlichen Gehörs bei Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung erst in der mündlichen Verhandlung - Zweck der mündlichen Verhandlung - Wechselwirkung zwischen gerichtlichen Hinweispflichten und prozessualer Mitwirkung der Beteiligten
BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 1.2.2010, XI B 50/09
Verletzung rechtlichen Gehörs bei Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung erst in der mündlichen Verhandlung - Zweck
der mündlichen Verhandlung - Wechselwirkung zwischen gerichtlichen Hinweispflichten und prozessualer Mitwirkung der
Beteiligten
Gründe
1
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an
das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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1. Die vom Kläger erhobene Rüge, das Urteil des FG beruhe auf einem Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3
FGO, weil das FG das in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO, § 119 Nr. 3 FGO gewährleistete
rechtliche Gehör verletzt habe, ist begründet.
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a) Der Kläger trägt insoweit vor, das FG habe ihm im Termin der mündlichen Verhandlung am … März 2009 in
Abwesenheit seines ordnungsgemäß geladenen Prozessbevollmächtigten erstmals die Einspruchsentscheidung
betreffend Umsatzsteuer 2003 und 2004 vom … März 2006 ausgehändigt und mit ihm persönlich inhaltlich erörtert.
Die genannte Einspruchsentscheidung sei weder vom FG noch vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --
FA--) zu irgendeinem Zeitpunkt --auch nicht als Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung-- seinem
Prozessbevollmächtigten zugestellt worden. Darin liege ein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
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b) Der behauptete Verfahrensverstoß ist gegeben.
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Das FG hat dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, dass es ohne Vertagung der
mündlichen Verhandlung eine Entscheidung über die Einspruchsentscheidung getroffen hat, obwohl diese bis zur
mündlichen Verhandlung weder dem Kläger persönlich noch seinem Prozessbevollmächtigten bekannt war. Der
Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör bedeutet, dass dieser Anspruch bei Bestellung eines
Prozessbevollmächtigten (vgl. § 62 Abs. 2 FGO) auch von diesem wahrgenommen werden kann.
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Im Streitfall hatte der Prozessbevollmächtigte keine Möglichkeit zu einer Stellungnahme zum Inhalt der
Einspruchsentscheidung gehabt, weil er ihn nicht kannte.
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Dem steht nicht entgegen, dass der Prozessbevollmächtigte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, obwohl
er ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden war, dass bei seinem Ausbleiben ohne
ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 91 Abs. 2 FGO).
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Zwar wird der Anspruch auf rechtliches Gehör begrenzt durch die Mitverantwortung der Beteiligten (Gräber/von Groll,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 96 Rz 27, m.w.N.). Danach haben diese alles in ihren Kräften Stehende und nach
Lage der Dinge Erforderliche zu tun, um ihr Recht auf Gehör zu verwirklichen. Daran kann es fehlen, wenn der
Beteiligte bzw. sein Prozessbevollmächtigter trotz rechtzeitiger und ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin
erscheint (Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Rz 33, m.w.N.). So stehen etwa die Hinweispflichten des Gerichts aus § 76
Abs. 2 FGO mit der prozessualen Mitwirkung der Beteiligten in einer gewissen Wechselwirkung. Wer zur mündlichen
Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erscheint, kann regelmäßig anschließend nicht die
Verletzung des § 76 Abs. 2 FGO rügen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 29. Oktober 1999 III B
32/99, BFH/NV 2000, 580).
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Damit ist der Streitfall jedoch nicht vergleichbar.
10 Denn die mündliche Verhandlung dient dazu, den Prozessstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu
vervollständigen (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl
II 2001, 802), nicht aber dazu, dem FA eine Möglichkeit zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung einzuräumen.
Durch die Aushändigung einer Kopie der Einspruchsentscheidung in der mündlichen Verhandlung an den Kläger
persönlich hatte der Prozess eine für den ausgebliebenen Prozessbevollmächtigten nicht zu erwartende Wendung
genommen, die das FG zu einer Vertagung (§ 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung --ZPO--) von Amts
wegen zur Gewährung rechtlichen Gehörs hätte veranlassen müssen, wenn es --wie geschehen-- diese Entscheidung
zum Gegenstand seines Urteils machen wollte.
11 Dies gilt unabhängig davon, ob durch die Übergabe einer Kopie der Einspruchsentscheidung in der mündlichen
Verhandlung an den Kläger persönlich eine wirksame Bekanntgabe möglich war oder ob die Einspruchsentscheidung
während des Klageverfahrens nur durch eine Zustellung an den Prozessbevollmächtigten (vgl. auch § 62 Abs. 6 Satz
5 FGO) wirksam bekannt gegeben werden konnte (vgl. dazu Klein/Brockmeyer, AO, 10. Aufl., § 122 Rz 43, m.w.N.).
12 Auf jeden Fall musste das FG dem bestellten Prozessbevollmächtigten ausreichend Gelegenheit zu einer
Stellungnahme geben, wenn es über eine erst in der mündlichen Verhandlung ausgehändigte
Einspruchsentscheidung eine Entscheidung treffen wollte.
13 Da der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war, kann das Fehlen eines
Vertagungsantrags auch nicht als Rügeverzicht (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO) gewertet werden.
14 2. Der Senat hält es für angezeigt, das angefochtene Urteil durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).