Urteil des BFH vom 19.06.2008

BFH: anrechenbares einkommen, sozialhilfe, unterhalt, wohnung, rückgriff, erfüllung, haushalt, verfügung, lebenshaltungskosten, nebenkosten

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.6.2008, III R 89/07
Kein Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld wegen der dem Kind
erbrachen Sozialhilfeleistungen
Tatbestand
1 I. Die 1978 geborene Tochter (T) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) befand sich im streitigen Zeitraum
Januar 2003 bis März 2004 in Berufsausbildung. Sie lebte mit ihrem nicht ehelichen Sohn (geboren 2002) in einer
eigenen Wohnung und erhielt von der Sozialhilfeträgerin (Beigeladene) Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) ohne
Anrechnung von Kindergeld.
2 Auf Antrag der Klägerin setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit Bescheid vom 22. März 2004
rückwirkend ab Januar 2003 Kindergeld für T fest. Da die Beigeladene mit Schreiben vom 16. März 2004 einen
Anspruch auf Erstattung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. §§ 104, 107
Abs. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend gemacht hatte, zahlte die Familienkasse das Kindergeld
für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 an die Beigeladene aus. Der Klägerin wurde mit Abrechnungsbescheid
vom 19. August 2004 mitgeteilt, dass der Kindergeldanspruch für diesen Zeitraum gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt
gelte. Der Einspruch der Klägerin war erfolglos.
3 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte aus, der angefochtene Abrechnungsbescheid sei rechtmäßig, da
der Kindergeldanspruch der Klägerin durch die Auszahlung an die Beigeladene für den streitigen Zeitraum nach § 74
Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 104 Abs. 2, 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gelte. Der Erstattungsanspruch des § 104 SGB X setze
Gleichartigkeit und Nachrangigkeit der Leistungen voraus. Beides sei im Streitfall erfüllt. Nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) handle es sich bei der HLU für T um eine
mit dem Kindergeld zweckidentische Leistung i.S. von § 77 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) und damit
um anrechenbares Einkommen i.S. von § 76 Abs. 1 BSHG. Unabhängig davon, ob das Kindergeld der Förderung der
Familie diene oder die steuerliche Freistellung des Einkommens des Kindergeldberechtigten in Höhe des
Existenzminimums des Kindes bewirke, werde es letztlich zur Sicherstellung des Lebensunterhalts des Kindes gewährt,
sodass es sich in beiden Fällen um eine mit der Sozialhilfe zweckidentische und der Sozialhilfe vorrangige Leistung
handle. Unbeachtlich sei, dass die Klägerin durch die Übernahme der Nebenkosten für die Wohnung zum notwendigen
Unterhalt der T beigetragen habe, da die Beigeladene diese Kosten bereits bei der Bedarfsberechnung der Sozialhilfe
berücksichtigt habe. § 91 Abs. 1 BSHG stehe dem Erstattungsanspruch nicht entgegen, da er lediglich den Rückgriff
des Sozialhilfeträgers auf zivilrechtlich unterhaltspflichtige Personen einschränke, § 74 Abs. 2 i.V.m. §§ 102 ff. SGB X
dagegen den Erstattungsanspruch zwischen zwei Leistungsträgern der öffentlichen Hand regle.
4 Mit ihrer Revision rügt die Klägerin mangelnde Sachaufklärung durch das FG sowie Verletzung materiellen Rechts.
5 Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den Abrechnungsbescheid in der Fassung der
Einspruchsentscheidung aufzuheben.
6 Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Abrechnungsbescheids
und der Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Aufhebung des
Abrechnungsbescheids hat zur Folge, dass das festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004
an die Klägerin auszuzahlen ist. Einer ausdrücklichen Verpflichtung der Familienkasse durch den Senat bedarf es
nicht.
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Der Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig, weil der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld mangels
Erstattungsanspruchs der Beigeladenen nicht als erfüllt gilt.
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1. Nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch der Klägerin gegen die Familienkasse auf
Kindergeld nur als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch der Beigeladenen besteht. Entgegen der Auffassung des FG
hat die Beigeladene keinen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X. Die Familienkasse
hat daher das Kindergeld zu Unrecht an die Beigeladene ausgezahlt.
10 a) Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht --ohne dass die hier nicht
einschlägigen Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen--, ist nach § 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger
erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein
Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungserfüllung eines anderen Leistungsträgers selbst
nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt § 104 Abs. 1 SGB X auch dann, wenn ein
nachrangig verpflichteter Leistungsträger für den Angehörigen eines Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat und
der Berechtigte mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen vorrangig
verpflichteten Leistungsträger hat.
11 b) Der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X
unabhängiger Erstattungsanspruch eigener Art, sondern erweitert diesen nur. Daher kann ein Erstattungsanspruch
nach § 104 Abs. 2 SGB X nur dann gegeben sein, wenn auch die Anspruchsvoraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X
vorliegen (Urteil des BSG vom 22. September 1988 2 RU 9/88, BSGE 64, 96). Die Leistungen der unterschiedlichen
Leistungsträger müssen deshalb gleichartig sein und es muss zwischen ihnen ein Verhältnis von vorrangiger und
nachrangiger Verpflichtung zur Leistung bestehen.
12 c) Nach der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte ist das Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG, soweit es der
Familienförderung dient, wie die HLU dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern (Urteile des
BVerwG vom 21. Juni 2001 5 C 7/00, BVerwGE 114, 339, und vom 28. April 2005 5 C 28/04, Neue Juristische
Wochenschrift 2005, 2873, des BSG vom 8. Februar 2007 B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476, und des
Bundesfinanzhofs vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156), so dass es sich in den Fällen, in denen das
Kindergeld dem Einkommen des Hilfeempfängers zuzuordnen ist, um eine mit der HLU gleichartige und auch
vorrangige Leistung handelt. Bezieht der Hilfeempfänger Kindergeld, ist dieses daher bei der Ermittlung der HLU als
Einkommen i.S. des § 76 BSHG anzurechnen und mindert dementsprechend die HLU. Wird rückwirkend Kindergeld
festgesetzt, kann der Sozialleistungsträger das Kindergeld erstattet verlangen.
13 Ist Hilfeempfänger dagegen nicht der Elternteil, der Anspruch auf das Kindergeld hat, sondern das im eigenen
Haushalt lebende Kind, ist das Kindergeld nur dann als Einkommen des Kindes anzurechnen, wenn das Kindergeld
nach § 74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird (vgl. BVerwG-Urteil vom 17. Dezember 2003 5 C 25/02, BFH/NV
2005, Beilage 1, 68) oder ihm zumindest tatsächlich zufließt (streitig, vgl. z.B. Urteil des Landessozialgerichts Baden-
Württemberg --LSG Ba-Wü-- vom 13. Dezember 2006 L 7 SO 3131/06, juris; Revision, Az. B 8/9b SO 2/07 R).
14 d) Im Streitfall ist das Kindergeld dem Einkommen der Klägerin zuzurechnen. Bei rückwirkender Festsetzung scheidet
eine Zuordnung des Kindergeldes aufgrund tatsächlichen Zuflusses an T aus. Einen Antrag auf Abzweigung des
Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG hatte T nicht gestellt. Ob sie einen Anspruch auf Abzweigung gehabt hätte,
ist unerheblich. Denn dem sozialhilferechtlichen Einkommen i.S. des § 76 BSHG können nur solche Beträge
zugeordnet werden, die dem Hilfeempfänger auch tatsächlich gegenwärtig für seinen Unterhalt zur Verfügung stehen,
wobei es allein auf den tatsächlichen Zufluss von Geld und Geldeswert ankommt (vgl. Urteil des LSG Ba-Wü vom 13.
Dezember 2006 L 7 SO 3131/06, juris).
15 Aus § 104 Abs. 2 SGB X kann keine materiell-rechtliche Regelung abgeleitet werden, dass das dem
Anspruchsberechtigten zustehende Kindergeld auf das Einkommen des Kindes anzurechnen ist. Bei den §§ 102 ff.
SGB X handelt es sich lediglich um rechtstechnische Vorschriften, die den Ausgleich zwischen Leistungsträgern
regeln. Ob die Merkmale der Gleichartigkeit und des Vor- und Nachrangs der Leistungsverpflichtung erfüllt sind, ergibt
sich ausschließlich aus dem BSHG und den kindergeldrechtlichen Vorschriften.
16 2. Da die Revision der Klägerin Erfolg hat, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit ihrer Verfahrensrüge.