Urteil des BFH vom 16.01.2007
BFH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, die post, einhaltung der frist, post, frist, verschulden, wiedereinsetzung, absendung, behörde, mitarbeiter)
BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 25.11.2008, III R 78/06
Keine Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist mangels wirksamer Postausgangskontrolle
Tatbestand
1 I. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) wegen Kindergeld für das Jahr
2003 statt und ließ die Revision zu.
2 Das Urteil des FG wurde der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) laut Empfangsbekenntnis am 1.
September 2006 zugestellt. Die Familienkasse legte am 20. September 2006 fristgerecht Revision ein. Die
Revisionsbegründung der Familienkasse ging dem Bundesfinanzhof (BFH) aber erst am 7. November 2006 nach
Ablauf der Begründungsfrist zu.
3 Nachdem die Senatsvorsitzende auf die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist hingewiesen hatte, beantragte die
Familienkasse am 17. November 2006 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie trug vor, die Revisionsbegründung
sei am 18. Oktober 2006 erstellt und am 20. Oktober 2006 zur Post gegeben worden. Eine Postlaufzeit von fast drei
Wochen entspreche nicht dem normalen Verlauf und sei für die Familienkasse unvorhersehbar gewesen, sodass sie an
dem verspäteten Zugang kein Verschulden treffe.
4 Die Senatsvorsitzende teilte der Familienkasse daraufhin mit, der Briefumschlag mit der Revisionsbegründung sei nicht
frankiert und trage auch keinen Poststempel; in der rechten oberen Ecke des Briefumschlags sei lediglich
handschriftlich mit Kugelschreiber die Zahl "4" vermerkt. Die Senatsvorsitzende wies außerdem auf die von der
Rechtsprechung des BFH geforderten organisatorischen Maßnahmen zur Fristüberwachung hin.
5 Daraufhin führte die Familienkasse ergänzend aus, die Poststelle habe die Revisionsbegründung am 20. Oktober 2006
entgegen genommen; die Angestellte S habe auf der übersandten Verfügung einen Datumsstempel mit
Namenszeichen angebracht. Im Allgemeinen werde die Post nach Eingang in zwei Bereiche getrennt. Der
innerdienstliche Schriftverkehr werde in die Postaustauschfächer gelegt, die übrigen Schriftstücke würden maschinell
frankiert und zur Post gegeben. Die Angestellten in der Poststelle seien darüber belehrt worden, dass Post an die
Gerichte immer einzeln und so schnell wie möglich mit der Post zu versenden sei. Dabei werde nicht zwischen
fristfreien und fristwahrenden Schriftsätzen unterschieden. Alle Schriftsätze würden immer offen an die Poststelle
geleitet, damit diese Unterscheidung getroffen werden könne. Nur wenn ein Schriftsatz erst kurz vor Fristablauf erstellt
werde, wende sich der Verfasser persönlich an die Poststelle, um den Versandweg zur Sicherung des rechtzeitigen
Zugangs zu besprechen. Da im Streitfall der Zeitraum zwischen der Annahme durch die Poststelle und dem Fristende
fast zwei Wochen betragen habe, sei eine persönliche Vorsprache nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge nicht
notwendig gewesen. Die Angestellte S habe bisher fehlerfrei zwischen Schriftstücken unterschieden, die in die
Postaustauschfächer zu legen seien und solchen, die frankiert und zur Post gegeben würden. Vermutlich sei die
Revisionsbegründung --ohne Absendestempel-- aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Büroversehens in das
Postaustauschfach für die X, München, gelangt. Die Post für München werde zumeist durch die Paketpost (DHL) und
anschließend über das Bayerische … (dort über das Fach mit der Nummer "4") ausgetauscht. Da der Briefumschlag die
Ziffer "4" trage, habe er wahrscheinlich im Postfach für den BFH gelegen. Warum der Schriftsatz erst am 7. November
2006 beim BFH eingegangen sei, könne nicht mehr ermittelt werden. Die Organisation der Poststelle der Familienkasse
sei für ihre gute Qualität vor kurzem von der Deutschen Post AG zertifiziert worden. Ein Organisationsmangel sei im
Streitfall nicht gegeben, sodass ein Verschulden nicht vorliege.
6 Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7 Der Kläger beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag abzulehnen und die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unzulässig und deshalb durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Die Familienkasse hat die Revision nicht rechtzeitig begründet.
10 Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des
vollständigen Urteils zu begründen. Da das FG-Urteil der Familienkasse am 1. September 2006 zugestellt wurde und
das Fristende 1. November 2006 auf einen Feiertag fiel, lief die Frist für die Begründung der Revision am 2. November
2006 ab (§ 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--). Die Revisionsbegründung ist aber erst am 7.
November 2006 beim BFH eingegangen.
11 2. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Fristversäumung liegen nicht vor.
12 a) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Revision nur zu gewähren,
wenn der Revisionskläger ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war, den Wiedereinsetzungsantrag
innerhalb von einem Monat nach Kenntnisnahme von der Fristversäumnis gestellt und die zur Begründung des
Antrags vorgetragenen Tatsachen glaubhaft gemacht hat (§ 56 Abs. 2 Sätze 1 und 2 FGO).
13 Bei der Beurteilung, ob eine Behörde sich die Versäumung einer gesetzlichen Frist als schuldhaft anrechnen lassen
muss, gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen
der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 16.
Januar 2007 IX R 41/05, BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.).
14 Eine Behörde braucht deshalb das Verschulden eines Mitarbeiters in der Absendestelle nicht gegen sich gelten zu
lassen, wenn eine wirksame Ausgangskontrolle besteht oder der Mitarbeiter zumindest auf die Bedeutung und
Eilbedürftigkeit des Schriftstücks ausdrücklich hingewiesen wurde (BFH-Beschluss vom 10. Juli 1996 II R 12/96,
BFH/NV 1997, 47).
15 Daher ist auch eine Behörde zu einer wirksamen Postausgangskontrolle verpflichtet. Eine wirksame
Postausgangskontrolle setzt voraus, dass die Absendung des fristwahrenden Schriftsatzes, d.h. die Übergabe des
Schriftstücks an die Post durch eine Person kontrolliert wird, die den gesamten Bearbeitungsvorgang überwachen
kann. Die einfache Zuleitung oder kommentarlose Übergabe des jeweiligen Schriftstücks an die amtsinterne
Postausgangsstelle reichen hierfür ebenso wenig aus wie ein bloßer Abgangsvermerk der Stelle, die das Schriftstück
an diese Postausgangsstelle weiterleitet, weil dadurch noch nicht ausreichend sichergestellt ist, dass das Schriftstück
auch tatsächlich unmittelbar zur Weiterbeförderung an die Post gelangt. Vielmehr ist erforderlich, dass die
ordnungsgemäße Absendung eines fristwahrenden Schriftsatzes durch einen Absendevermerk der Poststelle in den
Akten festgehalten wird (BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.).
16 Ist eine solche zentrale Ausgangskontrolle nicht vorgesehen, muss zumindest derjenige, der den Vorgang zuletzt
bearbeitet hat oder an der Bearbeitung beteiligt war, die mit der Absendung beauftragte Poststelle auf die Frist und die
Wichtigkeit des Schriftstücks hinweisen; die tatsächliche Übergabe der Briefsendung an die Post muss in der Akte
vermerkt werden (BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 47).
17 b) Nach den Ausführungen der Familienkasse zur Organisation der Postausgangsstelle ist eine wirksame
Ausgangskontrolle nicht gewährleistet.
18 Die allgemeine Anweisung an die mit der Versendung beauftragten Angestellten der Poststelle, Schreiben an die
Gerichte --anders als den innerdienstlichen Schriftverkehr-- immer einzeln und so schnell wie möglich mit der Post zu
versenden, reicht nicht aus, um die richtige Versandart und den rechtzeitigen Eingang bei Gericht sicherzustellen. Aus
den offen der Absendestelle zugeleiteten Schriftsätzen ist für die Mitarbeiter der Poststelle in der Regel nicht
erkennbar, ob es sich um einen fristwahrenden Schriftsatz handelt, auf dessen pünktliche Absendung besonders zu
achten ist. Auch ist für die Mitarbeiter nicht immer eindeutig erkennbar, ob der Schriftsatz für ein Gericht bestimmt ist.
So wird die Bezeichnung "Bundesfinanzhof" von Personen, die mit der Finanzgerichtsbarkeit nicht vertraut sind, häufig
als eine Behörde der Finanzverwaltung angesehen. Werden die Behördenpost und die Gerichtspost auf
unterschiedliche Weise versendet, ist sicherzustellen, dass die fristwahrenden Schreiben besonders gekennzeichnet
werden, um auszuschließen, dass sie über andere Behörden ausgetauscht werden und dadurch verspätet beim
Gericht eingehen.
19 c) Wie die Familienkasse selbst vorgetragen hat, hat die Verfasserin der Revisionsbegründung die Angestellte S auch
nicht auf die Bedeutung und Eilbedürftigkeit des Schriftstücks hingewiesen.
20 d) Zudem ist der Vortrag, die Angestellte S sei über die Bedeutung und Behandlung der Gerichtspost belehrt worden
und habe den Schriftsatz nur versehentlich in das Postaustauschfach gelegt, nicht in der erforderlichen Form glaubhaft
gemacht worden. Nach § 155 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 ZPO wäre als präsentes Beweismittel eine dienstliche
Erklärung oder eidesstattliche Versicherung der für die Fristversäumnis als verantwortlich bezeichneten Mitarbeiterin
vorzulegen gewesen.