Urteil des BFH vom 18.07.2013

Voraussetzungen für die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a Satz 3 AO

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18.7.2013, II R 46/11
Voraussetzungen für die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a Satz 3 AO
Leitsätze
1. § 171 Abs. 3a Satz 3 AO erweitert die Ablaufhemmung des Rechtsbehelfsverfahrens, sofern das
Gericht keine abschließende Sachentscheidung trifft und ein weiteres Tätigwerden der
Finanzbehörde zur Umsetzung der gerichtlichen Entscheidung erforderlich ist.
2. Das Gericht trifft keine abschließende Sachentscheidung, wenn es den angefochtenen Bescheid
aus Gründen aufhebt, die dem Bescheid selbst anhaften und die nicht den der Steuerfestsetzung
zugrunde liegenden Steueranspruch betreffen.
Tatbestand
1 I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind die Erben ihrer 2002 verstorbenen Mutter. Der
1984 verstorbene Vater hatte seine Kinder als Erben eingesetzt und seine Ehefrau mit
mehreren Vermächtnissen bedacht. In der 1985 abgegebenen gemeinsamen
Erbschaftsteuererklärung wurde der Erwerb der Mutter mit 213.075 DM angegeben.
Außerdem wurde auf eine für steuerfrei gehaltene Witwenrente hingewiesen.
2 Mit Bescheid vom 23. November 1988 setzte das seinerzeit zuständige Finanzamt gegen die
Mutter Erbschaftsteuer in Höhe von 629.496 DM fest. Bei der Ermittlung des steuerpflichtigen
Erwerbs erfasste es nicht nur die erklärten Vermächtnisse und die Witwenrente, sondern
weitere Renten- und Versorgungsansprüche. Der Bescheid erging in vollem Umfang vorläufig
gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO).
3 Gegen den Bescheid legte die Mutter Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens
erging am 9. Dezember 1999 durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (das nunmehr
zuständige Finanzamt --FA--) ein für endgültig erklärter Änderungsbescheid. Darin setzte das
FA die Erbschaftsteuer u.a. unter Berücksichtigung von Vorerwerben auf über 2 Mio. DM
herauf. Mit der nach dem Tod der Mutter ergangenen Einspruchsentscheidung vom
15. November 2002 setzte das FA die Steuer auf ca. 1.850.000 DM herab.
4 Die dagegen eingelegte Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) setzte die
Steuer wegen seiner Ansicht nach zum Teil eingetretener Festsetzungsverjährung auf rund
1 Mio. DM herab. Mit ihrer Revision gegen diese Entscheidung rügten die Kläger u.a. die
fehlerhafte Anwendung der §§ 165 Abs. 2 und 171 Abs. 8 AO und beantragten die
vollständige Aufhebung des angefochtenen Bescheids. Im Anschluss an einen
Gerichtsbescheid des Bundesfinanzhofs (BFH) erließ das FA am 10. November 2009 einen
auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO gestützten Änderungsbescheid, in dem es die
Steuer auf den ursprünglichen Betrag in Höhe von 321.846 EUR (629.476,06 DM) festsetzte.
5 Der BFH gab der Revision mit Urteil vom 9. Dezember 2009 II R 39/07 (BFH/NV 2010, 821)
vollumfänglich statt und hob die Vorentscheidung, den während des Einspruchsverfahrens
ergangenen Änderungsbescheid, die Einspruchsentscheidung, den im Revisionsverfahren
ergangenen Änderungsbescheid und den ursprünglichen Bescheid auf. Nach den
Urteilsgründen waren die Voraussetzungen für den während des Revisionsverfahrens
ergangenen Änderungsbescheid nicht erfüllt, weil das FA dem Antrag der Kläger auf
vollständige Herabsetzung der Steuerschuld nicht entsprochen habe. Der
Änderungsbescheid vom 9. Dezember 1999 und die dazu ergangene
Einspruchsentscheidung hätten wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr ergehen
dürfen. Der Vorläufigkeitsvermerk, mit dem der ursprüngliche Bescheid vom 23. November
1988 versehen worden sei, sei rechtswidrig gewesen. Eine Vorläufigkeit zur Gänze sehe
§ 165 Abs. 1 AO nicht vor. Diese Rechtswidrigkeit habe auch auf diesen erstmaligen
Bescheid ausgestrahlt, so dass dieser ebenfalls aufzuheben sei.
6 Das FA erließ am 8. April 2010 unter Verweis auf § 171 Abs. 14 AO gegen die Kläger einen
Erbschaftsteuerbescheid wegen des Erwerbs der Mutter nach dem 1984 verstorbenen Vater
und setzte die Erbschaftsteuer erneut auf 321.846 EUR (629.476,06 DM) fest. Intern buchte
das FA den Erstattungsanspruch der Kläger wegen der von der Mutter bereits entrichteten
Erbschaftsteuer auf die neue Steuerschuld um. Die dagegen erhobene Sprungklage hatte
keinen Erfolg. Nach Auffassung des FG war das FA nicht wegen Ablaufs der
Festsetzungsverjährung am Erlass des angefochtenen Bescheids gehindert. Es greife sowohl
die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 14 AO als auch die des § 171 Abs. 3a AO. Das Urteil des
FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1951.
7 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision. Die Kläger rügen die fehlerhafte Anwendung
des § 171 Abs. 3, Abs. 3a und Abs. 14 AO. Das FG verkenne die Rechtswirkungen des BFH-
Urteils in BFH/NV 2010, 821. In dieser Entscheidung sei abschließend über den Ablauf der
Festsetzungsfrist entschieden worden. Im Übrigen sei Ablaufhemmung weder nach § 171
Abs. 3a AO noch nach § 171 Abs. 3 AO in der bis 29. Dezember 1999 geltenden Fassung
(a.F.) noch nach § 171 Abs. 14 AO eingetreten. Die Abs. 3 a.F. bzw. 3a des § 171 AO seien
schon deshalb nicht einschlägig, weil sich an das gerichtliche Verfahren kein weiteres
behördliches Verfahren angeschlossen habe. § 171 Abs. 14 AO greife nicht, weil der
Steuererstattungsanspruch erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist entstanden sei. Die
Vorschrift sei auf Erstattungsansprüche nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO aufgrund
rechtsgrundloser Zahlung beschränkt und auf die Fälle des § 37 Abs. 2 Satz 2 AO, in denen
der Grund für die Zahlung später wegfalle, nicht anwendbar.
8 Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung sowie den Erbschaftsteuerbescheid vom 8. April
2010 aufzuheben.
9 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zutreffend hat das FG entschieden, dass das FA nicht
wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist gehindert war, den angefochtenen
Erbschaftsteuerbescheid zu erlassen. Dabei kann dahinstehen, ob der Ablauf der
Festsetzungsverjährung --wie vom FG und vom FA angenommen-- nach § 171 Abs. 14 AO
gehemmt war. Jedenfalls war er --wie vom FG alternativ angenommen-- nach § 171 Abs. 3a
FGO gehemmt.
11 1. Die Festsetzungsfrist für den Erlass des angefochtenen Steuerbescheids vom 8. April
2010 war im Zeitpunkt seines Erlasses nicht abgelaufen.
12 a) Die Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
AO). Sie beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO),
in Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen ist, jedoch erst mit Ablauf des Jahres,
in dem die Steuererklärung tatsächlich abgegeben wird (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
13 b) Wird ein Steuerbescheid mit dem Einspruch oder einer Klage angefochten, läuft die
Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist (§ 171
Abs. 3a Satz 1 AO). Im Klageverfahren liegt eine unanfechtbare Entscheidung vor, wenn das
Urteil des FG formell rechtskräftig geworden oder eine abschließende Entscheidung des
BFH im Revisionsverfahren ergangen ist (BFH-Urteil vom 15. Dezember 1999 XI R 75/97,
BFH/NV 2000, 1067).
14 c) Nach § 171 Abs. 3a Satz 3 AO (§ 171 Abs. 3 Satz 3 AO a.F. ist in den Fällen des § 100
Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 und § 101 FGO über den Rechtsbehelf erst dann
unanfechtbar entschieden, wenn ein aufgrund der genannten Vorschriften erlassener
Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Ablauf der
Festsetzungs-frist gehemmt. Die Vorschrift ergänzt die Ablaufhemmung während des
laufenden Rechtsbehelfsverfahrens für den Fall, dass das Gericht keine abschließende
Sachentscheidung trifft, sondern ein weiteres Tätigwerden der Finanzbehörde zur
Umsetzung der gerichtlichen Entscheidung erforderlich ist (Banniza in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, FGO, § 171 AO Rz 68). § 171 Abs. 3a Satz 3 AO soll es der
Finanzbehörde ermöglichen, die noch ausstehende Entscheidung in der Sache im
Anschluss an die gerichtliche Entscheidung nachzuholen (Kruse in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Rz 29a). Da die Regelung des § 171
Abs. 3a Satz 3 AO der des § 171 Abs. 3 Satz 3 AO a.F. entspricht, ändert sich dadurch die
Verfahrenslage zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht.
15 d) Hebt das Gericht den im Rechtsbehelfsverfahren angefochtenen Bescheid gemäß § 100
Abs. 1 Satz 1 FGO ersatzlos auf (sog. echte Kassation), wird die Sache in den ungeregelten
Zustand vor Erlass des Bescheids zurückversetzt und bedarf einer weiteren Maßnahme der
Finanzbehörde (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 100 Rz 17). Die
Finanzbehörde muss entscheiden, ob es bei der durch die Aufhebung geschaffenen --
ungeregelten-- Rechtslage verbleibt oder ob sie --in den Fällen der gebundenen Verwaltung-
- erneut tätig werden muss (Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 100 FGO Rz 13). Hat dagegen
die Aufhebung des Bescheids durch das Gericht selbst regelnden Charakter (sog. unechte
Kassation), ist ein weiteres Tätigwerden der Finanzbehörde nicht erforderlich
(Gräber/von Groll, a.a.O., § 100 Rz 17; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 100 Rz 14). Ob eine
echte oder eine unechte Kassation vorliegt, ist anhand der Rechtskraftwirkung des Urteils
festzustellen. Die verlängerte Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a Satz 3 AO gilt nach ihrem
Zweck nur bei der echten Kassation, weil in diesem Fall das Verwaltungsverfahren nicht
abgeschlossen und ein weiteres Tätigwerden der Finanzbehörde erforderlich ist.
16 2. Ausgehend von diesen Grundsätzen war im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen
Bescheids am 8. April 2010 die Festsetzungsverjährung noch nicht eingetreten.
17 a) Die Festsetzungsfrist begann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres
1985, denn die Erbschaftsteuererklärung für den Erbfall des Jahres 1984 wurde im Laufe des
Jahres 1985 abgegeben. Der Ablauf der Festsetzungsfrist wurde gemäß § 171 Abs. 3
AO a.F. zunächst durch den 1988 eingelegten Einspruch, anschließend durch das
Klageverfahren gehemmt.
18 b) Nach Satz 3 des § 171 Abs. 3a AO, der von seinem Wortlaut und Regelungsgehalt dem
§ 171 Abs. 3 Satz 3 AO a.F. entspricht, war der Ablauf der Festsetzungsfrist über die
Rechtskraft des Urteils des BFH in BFH/NV 2010, 821 hinaus bis zum Erlass des
angefochtenen Bescheids vom 8. April 2010 gehemmt.
19 Die Rechtskraftwirkung des BFH-Urteils in BFH/NV 2010, 821 steht dem nicht entgegen. Der
BFH hat in diesem Urteil den Ursprungsbescheid vom 23. November 1988 unter Hinweis auf
den zu weit gefassten Vorläufigkeitsvermerk aufgehoben. Den während des
Revisionsverfahrens ergangenen Bescheid vom 10. November 2009 hat er aufgehoben, weil
die Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO, auf den dieser
Änderungsbescheid gestützt war, nicht gegeben waren. Beide Bescheide hat der BFH aus
Gründen aufgehoben, die den Bescheiden selbst anhafteten und nicht den Steueranspruch
betrafen.
20 Die Aufhebung des während des Einspruchsverfahrens ergangenen Änderungsbescheids
vom 9. Dezember 1999 und die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 15. November
2002 wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung berühren den Steueranspruch in seiner
ursprünglich festgesetzten Höhe nicht. Zwar erlischt der Steueranspruch mit Eintritt der
Festsetzungsverjährung (§ 47 AO). Für Steuern, bezüglich derer die Festsetzungsfrist bei
Inkrafttreten des § 171 Abs. 3a AO bereits abgelaufen war, gilt § 171 Abs. 3 AO a.F. fort.
Danach war eine Erhöhung der festgesetzten Steuer im Einspruchsverfahren nach Ablauf
der Festsetzungsfrist nicht mehr zulässig (BFH-Urteil vom 8. Juli 1998 I R 112/97, BFHE
186, 496, BStBl II 1999, 123, 127, m.w.N.). Der Steueranspruch in der durch den Bescheid
vom 8. April 2010 festgesetzten Höhe war davon jedoch nicht betroffen. Der Bescheid setzt
die Steuer auf genau den Betrag fest, der schon im ursprünglichen Steuerbescheid und
damit innerhalb der Festsetzungsfrist festgesetzt worden war. Die Aufhebung des
Änderungsbescheids vom 9. Dezember 1999 und der Einspruchsentscheidung vom
15. November 2002 betrifft nur den darüber hinausgehenden Steueranspruch. Den nach der
Aufhebung dieser Bescheide auflebenden Ursprungsbescheid hat der BFH im Urteil in
BFH/NV 2010, 821 nicht wegen Festsetzungsverjährung, sondern aus formellen Gründen
aufgehoben.
21 3. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Steueranspruchs haben die Kläger
weder im Verfahren vor dem FG noch im Revisionsverfahren erhoben.