Urteil des BFH vom 11.07.2018

Keine Billigkeitsmaßnahme wegen behaupteter Verfassungswidrigkeit der Mindestbesteuerung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 11.7.2018, XI R 33/16
ECLI:DE:BFH:2018:B.110718.XIR33.16.0
Keine Billigkeitsmaßnahme wegen behaupteter Verfassungswidrigkeit der
Mindestbesteuerung
Leitsätze
1. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der
Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt
keine Billigkeitsmaßnahme, weil Billigkeitsmaßnahmen nicht die einem
gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers
generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten
Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen dürfen.
2. Der Sanierungserlass, der nach dem Beschluss des Großen Senats
des BFH gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
verstößt, ist auch in Altfällen nicht anzuwenden.
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom
16. Juni 2016 13 K 984/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
1 Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine im Jahr ...
zunächst von drei Gesellschaften gegründete GmbH, an der im
Streitjahr (2006) vier Gesellschaften mit jeweils 25 % beteiligt
waren. Das Stammkapital betrug zunächst ... EUR.
2 Neben dem Gesellschaftsvertrag hatten die drei
Gründungsgesellschafter eine Gesellschaftervereinbarung
abgeschlossen, wonach sie die Klägerin mit Beträgen von bis zu
jeweils ... EUR als Beitrag oder Darlehen auszustatten hatten, falls
diese entsprechenden Kapitalbedarf geltend machte. In der Folge
war ein entsprechender Darlehensvertrag über insgesamt ... EUR
geschlossen worden. Der vierte Gesellschafter trat anlässlich
seines Eintritts in die Gesellschaft diesem Vertrag bei, so dass
seither auf jeden Gesellschafter Darlehen von ... EUR entfallen
sollten.
3 Im Jahr 2004 wurde das Stammkapital auf ... EUR erhöht. An der
Kapitalerhöhung nahmen alle vier Gesellschafter zu gleichen
Teilen teil.
4 Mit Wirkung zum 1. Januar 2006 erfolgte eine teilweise
Anteilsübertragung, so dass ab diesem Zeitpunkt drei
Gesellschafter mit jeweils 28,54 % und ein Gesellschafter mit
14,38 % an der Klägerin beteiligt waren.
...
5 Auf den 31. Dezember 2005 wurde der verbleibende
Verlustabzug zur Körperschaftsteuer auf ... EUR festgestellt.
6 Aufgrund der andauernden Verlustsituation kam es nach
Aufstellung eines Sanierungsplans im November 2006 zum
Abschluss einer Sanierungsvereinbarung, mit der die vier
Gesellschafter u.a. auf die Rückzahlung der
Gesellschafterdarlehen (einschließlich Zinsen sowie weitere
Forderungen aus laufendem Geschäftsverkehr) verzichteten.
7 Mit Vertrag vom ... 2006 übertrugen die drei anderen
Gesellschafter ihre Gesellschaftsanteile zum Preis von jeweils ein
oder zwei EUR auf die A-KG als einzig verbleibender
Gesellschafterin. Im Innenverhältnis hielt die alleinige
Gesellschafterin 49 % der Gesellschaftsanteile an der Klägerin
treuhänderisch für die frühere unmittelbare Gesellschafterin (zu
28,54 %), die B-GmbH. Im Treuhandvertrag erklärte die B-GmbH
ihre Bereitschaft, entsprechend ihrer Beteiligung
Gesellschafterdarlehen zur Fortführung des Geschäftsbetriebes
der Klägerin zur Verfügung zu stellen.
8 Die Alleingesellschafterin gab außerdem am 29. Juni 2007 eine
Patronatserklärung für die Klägerin ab.
9 Aufgrund der Sanierungsvereinbarung wies die Klägerin in ihrem
Jahresabschluss für 2006 neben einem laufenden Verlust von
... EUR einen außerordentlichen Ertrag von ... EUR aus. Die
kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen sanken von ... EUR
auf ... EUR.
10
Mit Einreichung der Körperschaftsteuererklärung für das Jahr
2006 im Februar 2008 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme
auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF)
vom 27. März 2003 IV A 6-S 2140-8/03 (BStBl I 2003, 240; --
Sanierungserlass--), die Körperschaftsteuer gemäß § 163 der
Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen abweichend
festzusetzen.
11
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--)
setzte im Körperschaftsteuerbescheid für das Jahr 2006 vom
23. Juli 2008 die Körperschaftsteuer auf ... EUR fest. Es minderte
den Gesamtbetrag der Einkünfte lediglich um einen Verlustvortrag
in Höhe von ... EUR, so dass ein Verlustvortrag in Höhe von
... EUR verblieb. Zugleich forderte es zum Antrag auf
abweichende Festsetzung weitere Unterlagen an. Die
Körperschaftsteuer wurde später mit Bescheid vom 3. August
2009 aufgrund eines Verlustrücktrags aus dem Jahr 2007 auf
... EUR herabgesetzt.
12
Mit Verfügung vom 16. Februar 2009 lehnte das FA u.a. die
abweichende Steuerfestsetzung der Körperschaftsteuer ab. Es
führte unter Bezugnahme auf den Sanierungserlass aus, ein
steuerlich begünstigter Sanierungsgewinn liege nicht vor.
13
Das FA wies die Einsprüche gegen die Ablehnung der Anträge
auf abweichende Festsetzung der Körperschaftsteuer 2006 nach
§ 163 AO mit Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2011 als
unbegründet zurück. Weder lägen die Voraussetzungen des
Sanierungserlasses noch sonstige Gesichtspunkte vor, die die
begehrte Billigkeitsmaßnahme rechtfertigen könnten.
Insbesondere sei in Bezug auf die sog. Mindestbesteuerung keine
Billigkeitsmaßnahme geboten. Ein Absehen von den
Verlustabzugsbeschränkungen aus sachlichen Billigkeitsgründen
scheide außerhalb der Fälle des Sanierungserlasses aus, da
ansonsten die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung, den
Verlustabzug zu beschränken, entgegen der gesetzlichen
Grundregel und den Wertungen des Gesetzes außer Kraft gesetzt
und die Geltungsanordnung des § 10d des
Einkommensteuergesetzes (EStG) unterlaufen würde. Eine
solche Rechtsfolge dürfe eine Billigkeitsmaßnahme nicht
herbeiführen.
14
Persönliche Billigkeitsgründe seien nicht ersichtlich.
15
Mit der Klage trug die Klägerin u.a. vor, dass infolge der
Anwendung der Regelungen über die Mindestbesteuerung
Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer in Höhe von ca. ... EUR
festgesetzt worden seien, die gemäß der Patronatserklärung von
ihrer Gesellschafterin zur Verfügung gestellt worden seien. Bei
unbeschränkter Verlustverrechnung hätten sich demgegenüber
nur Festsetzungen in Höhe von 0 EUR ergeben.
16
Nach ihrer Überzeugung liegt eine sachliche Unbilligkeit bei einer
Steuerfestsetzung dann vor, wenn das Ergebnis des allgemeinen
Gesetzesvollzugs mit der Einzelfallgerechtigkeit nicht mehr
vereinbar ist. Im Streitfall seien insbesondere die
verfassungsrechtlichen Grundsätze des Nettoprinzips und der
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verletzt. Die tatsächliche
und rechtliche Situation führe zu einer Ermessensreduzierung auf
null.
17
Die Klägerin hat im Laufe des Klageverfahrens betont, dass es im
Streitfall nach ihrer Überzeugung um Fragen der sachlichen
Unbilligkeit gehe.
18
Dem Finanzgericht (FG) wurden im Laufe des Klageverfahrens
Kopien der Körperschaftsteuerbescheide 2013 und 2014 sowie
der Bescheide über die Feststellung des verbleibenden
Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer auf den 31. Dezember
2013 und 2014 vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass der
verbleibende Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer auf den
31. Dezember 2012 noch ... EUR betrug. Davon wurden ... EUR
im Jahr 2013 verrechnet und ... EUR als gemäß § 8c des
Körperschaftsteuergesetzes (KStG) nicht mehr zu
berücksichtigender Verlustabzug ausgeschieden. Der danach
verbleibende Verlustabzug von ... EUR wurde mit dem laufenden
Gewinn des Jahres 2014 im Umfang von ... EUR verrechnet.
Weitere ... EUR wurden als nicht mehr zu berücksichtigende
Beträge gemäß § 8c KStG ausgeschieden. Der verbleibende
Verlustabzug zum 31. Dezember 2014 betrug ... EUR. Die
Klägerin trägt vor, der zukünftigen Verrechnung der Verluste
stünde aufgrund von zwischenzeitlichen Anteilsübertragungen
§ 8c KStG entgegen.
19
Das FG wies u.a. die Klage wegen Körperschaftsteuer mit seinem
in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 1756
veröffentlichten Urteil ab.
20
Es führte aus, die Klägerin habe u.a. keinen Anspruch auf
Verpflichtung des FA zu einer abweichenden Festsetzung der
Körperschaftsteuer 2006. Die angefochtene
Ermessensentscheidung erweise sich, soweit das FA die
abweichende Festsetzung der Körperschaftsteuer abgelehnt
habe, im Rahmen der eingeschränkten Prüfung gemäß § 102 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) als rechtmäßig.
21
Eine abweichende Steuerfestsetzung gemäß § 163 AO wegen
persönlicher Unbilligkeit werde von der Klägerin nicht begehrt.
22
Entgegen der Auffassung der Klägerin bestehe kein Fall der
sachlichen Unbilligkeit.
23
Eine solche ergebe sich zunächst nicht aus dem sog.
Sanierungserlass, der im Wesentlichen Gegenstand des
außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens gewesen sei.
24
Soweit die Klägerin ihren Antrag auf Verpflichtung zu einer
abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen auf eine
individuelle sachliche Unbilligkeit wegen der im Streitfall durch die
Erfassung von (ausschließlich erzielten) Buchgewinnen im
Zusammenwirken mit der Einschränkung der Verlustverrechnung
(§ 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 10d EStG) ausgelösten, ihres Erachtens
konfiskatorischen und erdrosselnden Wirkung der
Körperschaftsteuer 2006 stützt, sei die Klage ebenfalls
abzuweisen. Es fehle auch insoweit an einer sachlichen
Unbilligkeit i.S. des § 163 AO.
25
Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren in Bezug auf
die Körperschaftsteuer weiter. Sie macht geltend, das FG sei zu
Unrecht davon ausgegangen, dass die begehrte
Billigkeitsmaßnahme gegen gesetzgeberische
Grundentscheidungen verstoße. Die Gesetzesmaterialien
enthielten keinen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber die
Besteuerung von Buchgewinnen bewusst in Kauf genommen
habe; sie deuteten vielmehr darauf hin, dass der Gesetzgeber auf
komplizierte und streitanfällige Ausnahmeregelungen im
Gesetzeswege bewusst verzichtet und auf Billigkeitsregelungen
vertraut habe. Im Streitfall liege in geradezu exemplarischer Weise
eine sachliche Unbilligkeit wegen eines Überhangs des
gesetzlichen Tatbestands über die einzelgesetzlichen Wertungen
vor. Die Steuerfestsetzung im Einzelfall sei wegen Verstoßes
gegen Art. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 3, Art. 3 und Art. 14 des
Grundgesetzes (GG) verfassungswidrig. Das Ermessen des FA
sei deshalb auf null reduziert.
26
Unabhängig davon liege eine sachliche Unbilligkeit wegen des
Verlustuntergangs in den Jahren 2013 und 2014 vor.
27
Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der
Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung und des
Ablehnungsbescheids vom 16. Februar 2009 das FA zu
verpflichten, die Körperschaftsteuer 2006 gemäß § 163 AO aus
sachlichen Billigkeitsgründen unter Außerachtlassung der
Verlustabzugsbeschränkungen des § 10d EStG i.V.m. § 8 Abs. 1
KStG unter unbeschränkter Verrechnung des
körperschaftsteuerlichen Gesamtbetrags der Einkünfte 2006 mit
dem zum 31. Dezember 2005 festgestellten verbleibenden
Verlustabzug zur Körperschaftsteuer festzusetzen. Mit Schreiben
vom 18. Mai 2018 hat die Klägerin ergänzend beantragt, das
Ruhen des Verfahrens anzuordnen oder das Verfahren bis zu
einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im
Verfahren 2 BvR 242/17 auszusetzen.
28
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
29
Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a FGO. Der Senat hält
einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche
Verhandlung nicht für erforderlich. Das FG hat zutreffend
angenommen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die
beantragte Billigkeitsmaßnahme hat. Die Beteiligten sind davon
unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
30
1. Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt
werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern
erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben,
wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls
unbillig wäre.
31
a) Die Festsetzung einer Steuer ist aus (im Streitfall allein
streitigen) sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem
Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des
Gesetzes zuwiderläuft (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH--
vom 4. Juni 2014 I R 21/13, BFHE 246, 130, BStBl II 2015, 293,
Rz 10; BFH-Beschluss vom 12. Juli 2017 VI R 36/15, BFHE 258,
151, BStBl II 2017, 979). Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber
die Grundlagen für die Steuerfestsetzung anders als tatsächlich
geschehen geregelt hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als
regelungsbedürftig erkannt hätte. Eine für den Steuerpflichtigen
ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst
angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt dagegen
keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteil vom 21. September 2016
I R 65/14, BFH/NV 2017, 267, Rz 24; Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 19. Februar
2015 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255).
32
b) Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist zwar
sowohl im Festsetzungs- als auch im Erhebungsverfahren eine
Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO).
Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein
voraussetzungsloses Ermessen. Vielmehr setzen die
abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO und der
Erlass nach § 227 AO voraus, dass die Erhebung bzw.
Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig
wäre. Der Begriff "unbillig" ragt in den Ermessensbereich hinein
und bestimmt damit zugleich Inhalt und Grenzen der
Ermessensausübung (vgl. Beschluss des Gemeinsamen Senats
der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971
GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Da das in
§§ 163 und 227 AO verwendete Merkmal "unbillig" danach ein im
gerichtlichen Verfahren überprüfbarer Rechtsbegriff ist, kommt ein
dieses Merkmal einschließendes behördliches Ermessen nicht in
Betracht (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom
28. November 2016 GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393,
Rz 98 ff., 106).
33
2. Im Ergebnis zutreffend hat das FG angenommen, dass die
Klägerin keine abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen
aufgrund des Sanierungserlasses begehren kann.
34
Dies ergibt sich allerdings schon daraus, dass der
Sanierungserlass nach dem Beschluss des Großen Senats des
BFH (in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393) gegen den Grundsatz
der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt. Dies gilt nach der
Folgerechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat
anschließt, auch in Altfällen (vgl. BFH-Urteile vom 23. August
2017 I R 52/14, BFHE 259, 20, BStBl II 2018, 232; X R 38/15,
BFHE 259, 28, BStBl II 2018, 236; BFH-Beschlüsse vom 16. April
2018 X B 13/18, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2018, 1283; vom
8. Mai 2018 VIII B 124/17, BFH/NV 2018, 822; a.A. BMF-
Schreiben vom 29. März 2018 IV C 6-S 2140/13/10003, BStBl I
2018, 588).
35
3. Soweit die Klägerin geltend gemacht hat, die Anwendung der
Mindestbesteuerung sei in ihrem atypischen Einzelfall sachlich
unbillig, hat das FG zu Recht angenommen, dass keine sachliche
Unbilligkeit vorliegt.
36
a) Der erkennende Senat geht davon aus, dass --anders als das
FA möglicherweise meint-- auf besondere Gründe des Einzelfalls
gestützte Billigkeitsmaßnahmen (vgl. BFH-Beschluss in BFHE
255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 145) auch in Fällen der
Mindestbesteuerung durchaus zulässig sind (für die Zulässigkeit
von Billigkeitsmaßnahmen auch BFH-Urteile vom 20. September
2012 IV R 36/10, BFHE 238, 429, BStBl II 2013, 498, Rz 57;
IV R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, Rz 21). Eine
Billigkeitsmaßnahme kann geboten sein, wenn ein Gesetz, das in
seinen generalisierenden Wirkungen verfassungsgemäß ist, bei
der Steuerfestsetzung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führt
(BVerfG-Beschluss vom 28. Februar 2017 1 BvR 1103/15,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2017, 544,
Rz 11, zu § 10a des Gewerbesteuergesetzes --GewStG--).
37
b) Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der
Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat,
rechtfertigt hingegen keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteile in
BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, Rz 21; vom 23. Juli 2013
VIII R 17/10, BFHE 242, 134, BStBl II 2013, 820, Rz 12; vom
17. Dezember 2013 VII R 8/12, BFHE 244, 184, BFH/NV 2014,
748, Rz 10, 29 f.). Billigkeitsmaßnahmen dürfen nicht die einem
gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des
Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern
nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen
Steuertatbestandes abhelfen; Härten, die dem
Besteuerungszweck entsprechen und die der Gesetzgeber bei
der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewusst in Kauf
genommen hat, können Billigkeitsmaßnahmen nicht rechtfertigen,
sondern sind ggf. durch Korrektur des Gesetzes zu beheben
(BVerfG-Beschluss in HFR 2017, 544, Rz 12, zu § 10a GewStG).
38
c) Vorliegend ist der Umstand, dass der Gewinn der Klägerin auf
einem Forderungsverzicht der Gesellschafter beruht, kein
atypischer Einzelfall, der ein Absehen von der
Mindestbesteuerung wegen sachlicher Unbilligkeit erlaubt.
39
aa) Nicht ausgeglichene negative Einkünfte, die nicht nach § 10d
Abs. 1 EStG abgezogen worden sind, sind in den folgenden
Veranlagungszeiträumen bis zu einem Gesamtbetrag der
Einkünfte von 1 Mio. EUR unbeschränkt, darüber hinaus bis zu
60 % des 1 Mio. EUR übersteigenden Gesamtbetrags der
Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen
Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen
(Verlustvortrag).
40
bb) Die Annahme der Klägerin, der Gesetzgeber sei bei
Einführung der Vorschrift der Auffassung gewesen, die
Mindestbesteuerung solle nur in bestimmten Fällen gelten, hat
weder im Wortlaut noch in der Systematik Niederschlag gefunden.
41
(1) Vielmehr ist auf der Rechtsfolgenseite des § 10d Abs. 2 EStG
eine Differenzierung nach Verlustursachen bzw. nach
Zusammenhängen mit der Gewinnentstehung nicht vorgesehen
(BFH-Beschluss vom 26. Februar 2014 I R 59/12, BFHE 246, 27,
BStBl II 2014, 1016, Rz 32 und 41).
42
(2) Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang vorbringt, die
Gesetzesmaterialien ließen aus ihrer Sicht den Schluss zu, dass
der Gesetzgeber potentielle Problemlagen im Billigkeitswege habe
beheben wollen, und in diesem Zusammenhang auf die
Gesetzesmaterialien zu § 3 Nr. 66 EStG verweist, können zwar
Vorarbeiten für ein Gesetz unterstützend verwertet, die in den
Gesetzgebungsmaterialien dokumentierten Vorstellungen der
gesetzgebenden Instanzen aber nicht mit dem objektiven
Gesetzesinhalt gleichgesetzt werden (BVerfG-Beschluss vom
31. März 2016 2 BvR 1576/13, Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht-Rechtsprechungs-Report --NVwZ-RR-- 2016,
521, Rz 63, m.w.N.). Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift
ist der zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des
Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich aus dem
Gesetzeswortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den
diese hineingestellt ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG-
Urteile vom 21. Mai 1952 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, Rz 56;
vom 19. März 2013 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168,
Rz 66; BVerfG-Beschluss in NVwZ-RR 2016, 521, Rz 63; BFH-
Urteile vom 30. September 2015 II R 13/14, BFHE 251, 569,
BFH/NV 2016, 362, Rz 14; vom 15. Juni 2016 VI R 54/15, BFHE
254, 319, BStBl II 2016, 1010, Rz 20; Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 21. April 2016 I ZR 198/13, BGHZ 210,
77, Rz 69). Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten
von Verlusten ist danach nicht zu erkennen.
43
Unabhängig davon benennt die Klägerin keine konkrete
Äußerung der gesetzgebenden Körperschaften, die für eine vom
eindeutigen Wortlaut abweichende Auslegung sprechen könnte.
Sie deutet die Gesetzesmaterialien lediglich in ihrem Sinne.
44
(3) Überdies führt das Vorbringen der Klägerin schon deshalb
nicht zum Erfolg, weil der Große Senat des BFH (vgl. Beschluss in
BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 132) entschieden hat,
dass es nicht in der Kompetenz der Finanzverwaltung liegt,
vermeintlich unschlüssige Gesetzesänderungen durch
Billigkeitsmaßnahmen zu korrigieren. Es war und ist vor dem
Hintergrund einer beschränkten Verlustverrechnung allein Sache
des Gesetzgebers, die Aufhebung von Privilegierungen (wie z.B.
von Sanierungsgewinnen) zu überdenken oder --wie von der
Klägerin im Ergebnis begehrt-- eine Privilegierung von
Buchgewinnen neu zu schaffen.
45
cc) Der Verzicht der Gesellschafter der Klägerin hat auch --
entgegen der Auffassung der Klägerin-- die Leistungsfähigkeit der
Klägerin erhöht, obwohl der Klägerin keine Liquidität zugeflossen
ist (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255,
482, BStBl II 2017, 393, Rz 114 und 116). Sachliche
Billigkeitsgründe sind unabhängig von den wirtschaftlichen
Verhältnissen des Steuerpflichtigen, auf die die Klägerin abstellt,
zu beurteilen (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH in
BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 119). Es liegt deshalb im
Fall der Klägerin kein atypischer Ausnahmefall vor, der eine
Billigkeitsmaßnahme wegen sachlicher Unbilligkeit rechtfertigte.
Die Situation der Klägerin unterscheidet sich nicht von der anderer
Steuerpflichtiger, bei denen ein Forderungsverzicht zu einem
Gewinn geführt hat, ohne dass ihnen dadurch Liquidität zur
Begleichung der Steuer zugeflossen wäre, und für die der Große
Senat eine sachliche Unbilligkeit der Besteuerung des Gewinns
verneint hat.
46
dd) Der weitere Vortrag der Klägerin, sie mache (trotz des
ausdrücklichen Hinweises auf § 8c KStG) einen definitiven
Verlustuntergang in Bezug auf das Jahr 2006 nicht geltend,
sondern einen sonstigen atypischen Einzelfall, führt ebenfalls zu
keiner anderen Beurteilung; denn wenn eine Billigkeitsmaßnahme
beim Definitivwerden eines Verlustabzugshindernisses wegen
des Eingriffs in den Kernbereich einer Nettoertragsbesteuerung
ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG-Urteil in BVerwGE 151, 255,
Leitsatz und Rz 16 ff.; BFH-Beschluss in BFHE 246, 27, BStBl II
2014, 1016, Rz 38), betrifft dieser Ausschluss einer
Billigkeitsentscheidung erst recht die Situation bei fortbestehender
Verlustabzugsmöglichkeit (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2017, 267,
Rz 29).
47
ee) Ob § 10d Abs. 2 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG in Fällen nicht
liquiditätswirksamer Buchgewinne verfassungswidrig ist, wie die
Klägerin in der Revisionsbegründung umfangreich darlegt, ist
keine Frage des Billigkeitsverfahrens. Der Fall der Klägerin birgt
insofern keine singuläre Atypik, sondern wirft Fragen auf, welche
die Verfassungsmäßigkeit des § 10d Abs. 2 EStG i.V.m. § 8
Abs. 1 KStG insgesamt betreffen. Die Entscheidung solcher
Fragen obliegt nicht dem FA im Billigkeitsverfahren (vgl. BVerfG-
Beschluss vom 11. Mai 2015 1 BvR 741/14, HFR 2015, 882,
Rz 15).
48
d) Das bereits im Laufe des Klageverfahrens gegenüber dem FG
geltend gemachte weitere Argument der Klägerin, der
Verlustvortrag der Klägerin sei aufgrund von § 8c KStG im Jahr
2013 teilweise und im Jahr 2014 im verbleibenden Umfang
untergegangen, führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung.
49
aa) Die Klägerin ist darauf hinzuweisen, dass dies schon deshalb
keine Billigkeitsmaßnahme im Streitjahr rechtfertigt, weil dieser
definitive Untergang, zu dem das FG indes keine näheren
Feststellungen getroffen hat, nach dem Vortrag der Klägerin auf
Anteilsübertragungen in den Veranlagungszeiträumen 2013 und
2014 beruht. Insoweit steht es der Klägerin frei, sich dagegen mit
Rechtsbehelfen zur Wehr zu setzen, wenn sie den
Verlustuntergang für verfassungsrechtlich unzulässig halten sollte
(vgl. dazu BVerfG-Beschluss vom 29. März 2017 2 BvL 6/11,
BStBl II 2017, 1082; Vorlagebeschluss des FG Hamburg vom
29. August 2017 2 K 245/17, EFG 2017, 1906, Az. des BVerfG:
2 BvL 19/17), oder bezüglich jener Bescheide
Billigkeitsmaßnahmen zu beantragen, soweit eine sachliche oder
persönliche Unbilligkeit vorliegen sollte. Möglicherweise wird auch
der Gesetzgeber zugunsten der Klägerin tätig und ändert § 8c
KStG rückwirkend (vgl. § 34 Abs. 6 KStG i.d.F. des
Referentenentwurfs eines Jahressteuergesetzes 2018, abrufbar
unter www.bundesfinanzministerium.de; s. auch BRDrucks
372/18, S. 9, 54 f.).
50
bb) Ohnehin scheiden aber in Fällen der Mindestbesteuerung
Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO zur generellen Vermeidung
von Definitiveffekten aus, weil darin eine strukturelle
Gesetzeskorrektur läge (vgl. BVerwG-Urteil in BVerwGE 151, 255,
Leitsatz und Rz 16 ff.; BFH-Beschluss in BFHE 246, 27, BStBl II
2014, 1016, Rz 38). Soweit die Klägerin dagegen einwendet,
dieses Verständnis der Gesetzesmaterialien sei unhaltbar, trifft
dies nicht zu (vgl. BVerfG-Beschluss in HFR 2017, 544, Rz 15 ff.).
Soweit die Klägerin geltend macht, dies widerspreche der
Auffassung des IV. Senats des BFH, geht auch der IV. Senat des
BFH (Urteil in BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, Rz 21) davon
aus, dass eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge,
die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen
hat, keine Billigkeitsmaßnahme rechtfertigt. Der IV. Senat des BFH
hat im Urteil in BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505 ebenfalls einen
Anspruch auf eine Billigkeitsmaßnahme verneint, obwohl der
dortige Gewinn auf einem Forderungsverzicht beruhte, durch den
der dortigen Klägerin keine Liquidität zugeflossen war.
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e) Die Frage nach der --von der Klägerin bezüglich § 10d Abs. 2
EStG geltend gemachten-- Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes
und der auf seiner Grundlage ergangenen Steuerbescheide ist
kein Gegenstand des Billigkeitsverfahrens (vgl. BVerfG-Beschluss
in HFR 2017, 544, Rz 12, zu § 10a GewStG). Im vorliegenden
Verfahren wegen abweichender Festsetzung aus
Billigkeitsgründen kann deshalb offenbleiben, ob und ggf. in
welchem Umfang der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nach dem
Grundsatz der Ausrichtung der Besteuerung an der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Festsetzungsverfahren
generell die Möglichkeit eines
veranlagungszeitraumübergreifenden Verlustabzugs i.S. von
§ 10d EStG erfordert (ebenso offenlassend BVerfG-Beschluss in
BStBl II 2017, 1082, Rz 119). Dies ist im ruhenden
Einspruchsverfahren wegen Körperschaftsteuer 2006 zu klären
(zu § 8c KStG in den Jahren 2013 und 2014 s. unter II.3.d). Auf
die umfangreichen verfassungsrechtlichen Erwägungen der
Klägerin zur Mindestbesteuerung (vgl. dazu auch
Senatsbeschluss vom 6. September 2006 XI R 26/04, BFHE 214,
430, BStBl II 2007, 167, unter B.III., Rz 28 ff., zu § 2 Abs. 3 EStG
a.F.) braucht der Senat deshalb nicht weiter einzugehen.
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Der seitens der Klägerin in der Revisionsbegründung
angesprochenen, nicht erfolgten Aussetzung des
Klageverfahrens durch das FG im Hinblick auf die Verfahren
2 BvR 2998/12 oder 2 BvL 19/14 bedurfte es deshalb nicht.
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4. Persönliche Billigkeitsgründe hat die Klägerin nicht geltend
gemacht.
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5. Ein Ruhen des Verfahrens nach § 155 FGO i.V.m. § 251 der
Zivilprozessordnung scheidet aus, weil ein solches Ruhen
übereinstimmende Anträge der Beteiligten voraussetzt (vgl. BFH-
Beschlüsse vom 22. Juni 2012 IX B 52/12, BFH/NV 2012, 1619;
vom 9. September 2013 XI B 103/12, BFH/NV 2013, 1923, Rz 19;
vom 23. August 2016 V B 32/16, BFH/NV 2016, 1757). Daran fehlt
es hier. Das FA hat sich auf die Frage des Senats, ob dem
beantragten Ruhen des Verfahrens zugestimmt wird, nicht
geäußert.
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6. Der Senat setzt das Verfahren auch nicht nach § 74 FGO aus.
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a) Nach der Rechtsprechung des BFH ist zwar eine Aussetzung
des Verfahrens nach § 74 FGO u.a. dann geboten, wenn vor dem
BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes
Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm
anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der
Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an
einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der
umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG
anhängigen Verfahrens hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom
19. September 2007 XI B 52/06, BFH/NV 2008, 63, unter 1.a,
Rz 4; vom 27. April 2015 III B 127/14, BFHE 249, 519, BStBl II
2015, 901, Rz 7). Bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des
Musterverfahrens ist eine Aussetzung aber nicht geboten (vgl.
BFH-Urteile vom 18. August 2015 I R 43/14, BFH/NV 2016, 232,
Rz 23; vom 21. Februar 2018 VI R 11/16, BFHE 260, 507, DStR
2018, 1114, Rz 78, 80).
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b) Hiernach ist das Revisionsverfahren nicht auszusetzen. Der
Senat hält das Verfahren 2 BvR 242/17 angesichts des BVerfG-
Beschlusses in HFR 2017, 544 für aussichtslos.
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7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.