Urteil des BFH vom 10.11.2010

Kein Zulassungsgrund zur Rechtsfortbildung bei nicht zur Abstraktion geeigneten Fragen wegen tatsächlicher Besonderheiten - Verletzung des rechtlichen Gehörs

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 10.11.2010, VIII B 159/09
Kein Zulassungsgrund zur Rechtsfortbildung bei nicht zur Abstraktion geeigneten Fragen wegen tatsächlicher
Besonderheiten - Verletzung des rechtlichen Gehörs
Gründe
1
Die Beschwerde ist zulässig; mit den Beteiligten geht der Senat davon aus, dass die Kläger und Beschwerdeführer
(Kläger) die Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte zweimonatige Begründungsfrist (§ 116 Abs. 3 Satz 1
der Finanzgerichtsordnung --FGO--) rechtzeitig glaubhaft gemacht haben und ihnen deshalb nach § 56 Abs. 1
FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
2
Die Beschwerde ist aber nicht begründet. Die geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs.
2 FGO) liegen nicht vor.
3
a) Die Rechtssache ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i.S. von
§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Frage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse
besteht, weil sie rechtssystematisch bedeutsam ist und ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der
Entwicklung und Handhabung des Rechts betrifft (ständige Rechtsprechung, s. Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 23 ff., m.w.N.; Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. April 2007
VIII B 250/05, BFH/NV 2007, 1675). Die Frage muss zudem im Revisionsverfahren auch klärungsfähig sein.
4
Die Beschwerdebegründung lässt nicht erkennen, dass diese Voraussetzungen im Streitfall gegeben wären. Die
bloße Behauptung grundsätzlicher Bedeutung genügt nicht (vgl. BFH-Beschluss vom 31. August 1994 II B 68/94,
BFH/NV 1995, 240).
5
b) Eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO setzt voraus, dass über bisher ungeklärte
Rechtsfragen "zur Fortbildung des Rechts" zu entscheiden ist. Dieser Zulassungsgrund konkretisiert den der Nr. 1 und
gebietet eine Zulassung, wenn über bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfragen zu entscheiden ist (Gräber/Ruban,
a.a.O., § 115 Rz 41). Hingegen ist die von den Klägern aufgeworfene Frage, "ob die Bildung einer Ansparrücklage im
Rahmen einer Prognoseentscheidung aus Gründen der Unmöglichkeit versagt werden kann, weil die bestehenden
Räumlichkeiten für die Umsetzung eines Investitionsplans als ungenügend betrachtet werden", keine
klärungsbedürftige Rechtsfrage, sondern bezieht sich auf tatsächliche Verhältnisse des konkreten Einzelfalls und ihre
rechtliche Würdigung.
6
Einwendungen gegen die Sachverhalts- oder die Beweiswürdigung des Finanzgerichts (FG) und die daraus
gezogenen Schlussfolgerungen führen grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision (ständige Rechtsprechung, vgl.
z.B. BFH-Beschlüsse vom 28. April 2003 VIII B 260/02, BFH/NV 2003, 1336; vom 23. Juni 2003 IX B 119/02, BFH/NV
2003, 1289).
7
c) Der von den Klägern gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) einer Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör wegen Erlasses eines so genannten Überraschungsurteils ist nicht festzustellen.
8
Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das durch § 96 Abs. 2 FGO gewährleistete Recht der
Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und
Beweisergebnissen zu äußern und darüber hinaus, dem Gericht auch in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was
sie für wesentlich halten. Diesen Ansprüchen entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der
Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 10a, m.w.N.).
9
Darüber hinaus soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes) die Beteiligten auch in
rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen schützen. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist
gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen
Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und
kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom
18. Dezember 2007 XI B 178/06, BFH/NV 2008, 562, m.w.N.).
10 In diesem Sinne hat das FG keine Überraschungsentscheidung gefällt. Ausweislich des Protokolls der mündlichen
Verhandlung wurde die Streitsache mit den Beteiligten in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht erörtert;
insbesondere wurde auch über die Ernsthaftigkeit der geplanten Investitionen diskutiert. Im angefochtenen Urteil stellt
das FG heraus, dass es nach dem Gesetz (§ 7g Abs. 3 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr
geltenden Fassung) darauf ankommt, dass Wirtschaftsgüter "voraussichtlich" angeschafft werden, was nach den
Verhältnissen des Einzelfalls zu entscheiden sei. Die Frage nach der voraussichtlichen Anschaffung hat das FG im
Streitfall verneint und maßgeblich darauf abgestellt, dass nicht ansatzweise ersichtlich sei, was den Kläger zu Beginn
seiner Tätigkeit veranlasst haben könnte, eine seinem "Investitionsplan" entsprechende Entwicklung seines
Unternehmens für möglich zu halten. Zudem sei angesichts des Betriebsergebnisses des Streitjahres nicht
ansatzweise plausibel, dass der Kläger mit der Möglichkeit der Einstellung von weiteren sechs Mitarbeitern gerechnet
habe.
11 Nur "im Übrigen" hat das FG ergänzende Plausibilitätserwägungen zur praktischen Umsetzung des Investitionsplans,
insbesondere hinsichtlich der erforderlichen Räumlichkeiten angestellt, wobei der Beklagte und Beschwerdegegner
offenbar gerade auch diesen Gesichtspunkt zum Thema des Einspruchsverfahrens gemacht hat. Dabei kann
dahinstehen, ob dieser Gesichtspunkt im Rahmen der Urteilsbegründung des FG überhaupt von tragender Bedeutung
war. Denn auf nahe liegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht das Gericht zumindest dann nicht
ausdrücklich hinzuweisen, wenn --wie hier-- die Beteiligten fachkundig vertreten sind (BFH-Beschluss in BFH/NV
2008, 562).