Urteil des BFH vom 29.06.2009
BFH: mittelpunkt der lebensinteressen, nichteheliche lebensgemeinschaft, rechtliches gehör, vermietung, wohnung, rüge, rechtseinheit, gehalt, verpachtung, besitz
BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 29.6.2009, IX B 74/09
Grundsätzliche Bedeutung - "willkürliche" Entscheidung - Rechtliches Gehör
Gründe
1 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) sind nicht gegeben.
2 1. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen zu den Begriffen "wohnen", "sich
aufhalten", "Besitz an einer Wohnung" und "nichteheliche Lebensgemeinschaft" haben keine grundsätzliche Bedeutung
i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; im Streitfall kam den genannten Begriffen keine Bedeutung für die finanzgerichtliche
Entscheidung zu. Maßgeblich für die Beurteilung, ob der Kläger Fahrtkosten für die Wege zwischen Wohnung und
Arbeitsstätte geltend machen konnte, war vielmehr zum einen die Frage, wo sich im Streitjahr 2003 der Mittelpunkt der
Lebensinteressen des Klägers befand (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 7 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr
geltenden Fassung); zum anderen war zu entscheiden, ob der Kläger aus der Vermietung eines Hauses an die Mutter
seiner nichtehelichen Kinder (negative) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt hat. Die in diesem
Zusammenhang aufgeworfenen Fragen sind vom Finanzgericht (FG) unter Berücksichtigung der Umstände des
Einzelfalles beantwortet worden. Hat das FG --wie im Streitfall-- die maßgeblichen Einzelumstände erwogen, kommt der
Entscheidung keine Bedeutung für die Allgemeinheit mehr zu.
3 Nach dem sachlichen Gehalt seines Beschwerdevorbringens wendet sich der Kläger nur gegen das Ergebnis der
erstinstanzlichen Entscheidung des FG und setzt seine eigene Rechtsauffassung an die Stelle des FG; mit der darin
liegenden Rüge einer fehlerhaften Rechtsanwendung kann der Kläger im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht
gehört werden (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Juni 2003 IX B 29/03, BFH/NV 2003, 1212).
4 2. Aus den genannten Gründen ist die Revision auch nicht wegen der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur
Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO) zuzulassen.
5 3. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision zur Sicherung der Rechtseinheit (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2.
Alternative FGO) liegen ebenfalls nicht vor. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, schlüssig vorzutragen, inwieweit die
angestrebte BFH-Entscheidung geeignet und notwendig sei, künftige unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen
über die genannten Rechtsfragen zu verhindern, oder hinreichend darzulegen, dass die Entscheidung des FG auf einer
offensichtlich falschen Rechtsanwendung beruht (BFH-Beschluss vom 11. Februar 2003 VII B 244/02, BFH/NV 2003,
833). Dies ist im Streitfall nicht geschehen. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich nur, dass das FG --nach seiner
Auffassung-- materiell-rechtliche Rechtsfehler begangen und in der Sache falsch entschieden habe; das Vorliegen
einer "willkürlichen" Entscheidung wird dadurch nicht bezeichnet (z.B. BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2005 IX B
38/05, BFH/NV 2006, 772, m.w.N.).
6 4. Der von dem Kläger sinngemäß behauptete Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt nicht vor. Nach dieser
Vorschrift hat das FG seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens, also den gesamten
konkretisierten Prozessstoff zugrunde zu legen. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO gebietet allerdings nicht, alle im Einzelfall
gegebenen Umstände im Urteil zu erörtern. Vielmehr ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass ein Gericht auch
denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht
ausdrücklich auseinander gesetzt hat (z.B. BFH-Beschluss vom 15. September 2006 IX B 209/05, BFH/NV 2007, 80,
unter 3. c, m.w.N.).
7 Das FG hat auch keine Überraschungsentscheidung erlassen und dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches
Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt. Eine solche Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf
rechtliche Gesichtspunkte stützt, zu denen sich die Beteiligten bisher nicht geäußert haben und nach dem bisherigen
Verlauf der Verhandlung auch nicht äußern brauchten (z.B. BFH-Beschluss vom 18. Juni 1996 IV B 96/95, BFH/NV
1996, 919). Allerdings müssen rechtskundig vertretene Beteiligte grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen
Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten (z.B. BFH-Beschluss vom 7.
Dezember 2006 IX B 50/06, BFH/NV 2007, 1135, m.w.N.); vorliegend ist die Streitsache ausweislich der Niederschrift
über die mündliche Verhandlung vom 17. März 2009 mit den Beteiligten erörtert worden.