Urteil des BFH vom 16.12.2008
Erstmalige Ermessensausübung in ersetzendem Haftungsbescheid - Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens i.S. des § 68 FGO - Erledigung der Hauptsache
BUNDESFINANZHOF Urteil vom 16.12.2008, I R 29/08
Erstmalige Ermessensausübung in ersetzendem Haftungsbescheid - Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens i.S. des § 68
FGO - Erledigung der Hauptsache
Leitsätze
Ersetzt das Finanzamt während eines Klageverfahrens den mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheid durch einen
anderen Haftungsbescheid, in dem es erstmals seine Ermessenserwägungen erläutert, so wird dieser Bescheid zum
Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Im weiteren Verlauf jenes Verfahrens sind die nunmehr angestellten
Ermessenserwägungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten über die verfahrensrechtlichen Folgen der Ersetzung eines Haftungsbescheids durch einen
anderen Haftungsbescheid.
2 Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein Verein, veranstaltet Konzerte. Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt --FA--) nahm an, dass der Kläger in diesem Zusammenhang seiner Verpflichtung zum Steuerabzug gemäß §
50a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes nicht nachgekommen sei, und erließ deshalb gegen ihn einen
Haftungsbescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für den Anmeldungszeitraum I/2000. Der
Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG)
enthalten weder der Bescheid selbst noch die Einspruchsentscheidung Ausführungen zur Ermessensbetätigung.
3 Der Kläger focht den Haftungsbescheid mit einer Klage an. Daraufhin hob das FA den Bescheid am 27. Februar 2008
auf. Gleichzeitig erließ es einen neuen Haftungsbescheid, der im Hinblick auf den Haftungsgegenstand und die
Haftungsbeträge mit dem ursprünglichen identisch ist. In diesem Bescheid heißt es u.a., der Kläger werde als
Haftungsschuldner in Anspruch genommen, weil er den maßgeblichen Vertrag geschlossen und die für die
Steuerschuld maßgebliche Vergütung gezahlt habe und weil der Steuerschuldner im Ausland ansässig sei; von einer
Inanspruchnahme des gesetzlichen Vertreters des Klägers werde zunächst abgesehen. Der Bescheid enthält ferner
den Hinweis, dass er gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des anhängigen
Klageverfahrens werde.
4 Nach Erhalt dieses Bescheids erklärte der Kläger im Klageverfahren den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Das FA gab keine Erledigungserklärung ab. Daraufhin erließ das FG ein Urteil mit dem Tenor, dass sich der
Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt habe (Niedersächsisches FG, Urteil vom 6. März 2008 11 K 300/01). Das Urteil
ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 1051 abgedruckt.
5 Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung des § 68 FGO. Es beantragt, das angefochtene
Urteil aufzuheben und festzustellen, dass der Haftungsbescheid vom 27. Februar 2008 zum Gegenstand des
finanzgerichtlichen Verfahrens geworden ist und dass die darin enthaltenen Ermessenserwägungen bei der
Entscheidung des FG zu berücksichtigen sind.
6 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
7
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der
Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Dieses hat zu Unrecht angenommen, dass der Haftungsbescheid
vom 27. Februar 2008 nicht zum Gegenstand des bei ihm anhängigen Verfahrens geworden ist.
8
1. Ein vor dem FG geführter Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt, wenn nach Eintritt der Rechtshängigkeit ein
Ereignis eingetreten ist, durch welches das gesamte im Verfahren streitige --nach Maßgabe des Klageantrags zu
bestimmende-- Klagebegehren objektiv gegenstandslos geworden ist (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 20.
Oktober 2004 II R 74/00, BFHE 207, 355, BStBl II 2005, 99, 100; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Rz 9, m.w.N.). Ist eine Erledigung eingetreten und erklärt daraufhin nur der Kläger
den Rechtsstreit für erledigt, während das FA der Erledigungserklärung widerspricht, so muss das FG die Erledigung
durch Urteil feststellen (BFH-Urteile vom 19. Januar 1971 VII R 32/69, BFHE 101, 201, BStBl II 1971, 307; vom 29.
November 1984 V R 146/83, BFHE 143, 101, 105, BStBl II 1985, 370, 372; Brandt in Beermann/Gosch,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Rz 191, m.w.N.). So ist das FG im Streitfall verfahren.
9
2. Das FG hat das erledigende Ereignis darin gesehen, dass das FA den ursprünglich angefochtenen
Haftungsbescheid aufgehoben hat. Es hat dabei dem Umstand, dass zugleich ein neuer Haftungsbescheid erlassen
wurde, keine Bedeutung beigemessen. Insbesondere hat es angenommen, dass jener neue Bescheid nicht gemäß §
68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden sei. Dem ist nicht beizupflichten.
10 a) Nach § 68 Satz 1 FGO wird, wenn ein angefochtener Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der
Einspruchsentscheidung geändert oder ersetzt wird, der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Ergeht
jener Verwaltungsakt während eines Klageverfahrens und wird durch ihn dem Begehren des Klägers nicht in vollem
Umfang abgeholfen, so wird durch seinen Erlass das Klageverfahren nicht erledigt. Es ist vielmehr fortzusetzen, wobei
Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung nunmehr der ändernde oder ersetzende Verwaltungsakt ist.
11 b) § 68 Satz 1 FGO greift u.a. dann ein, wenn ein angefochtener Verwaltungsakt aus formellen Gründen aufgehoben
und inhaltsgleich wiederholt wird (BFH-Urteile vom 8. Februar 2001 VII R 59/99, BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506;
vom 26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82). Denn dieser Vorgang ist als "Ersetzung" des angefochtenen
Bescheids i.S. des § 68 Satz 1 FGO anzusehen (ebenso Stöcker in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 68 FGO Rz 30;
Schallmoser in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 68 FGO Rz 39). Er unterfällt
§ 68 Satz 1 FGO auch dann, wenn der ursprüngliche Bescheid keine hinreichenden Ausführungen zur
Ermessensausübung enthielt und diese in dem "ersetzenden" Bescheid nachgeholt werden. Das hat der Senat zu §
68 FGO i.d.F. vor der Geltung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze
vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757, BStBl I 2000, 1567) entschieden (Urteil in BFH/NV 1988, 82), und
insoweit hat die Neufassung des Gesetzes die Reichweite der Vorschrift nicht verändert.
12 c) Das FG hat dies erkannt. Es hat jedoch angenommen, dass § 68 Satz 1 FGO nicht eingreife, wenn der ersetzte
Bescheid eine Ermessensentscheidung zum Gegenstand gehabt und keinerlei Erläuterung zur Ermessensbetätigung
enthalten habe. Die Finanzbehörde dürfe nämlich im gerichtlichen Verfahren ihre Ermessenserwägungen nur
ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO), nicht aber erstmalig Ermessenserwägungen anstellen (BFH-Urteil vom 11. März 2004
VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579). Deshalb müssten, wenn solche Erwägungen erstmals in einem
ersetzenden Bescheid angestellt würden und dieser Bescheid Gegenstand des Klageverfahrens werde, jene
Erwägungen unbeachtet bleiben. Das sei nicht sachgerecht, weshalb § 68 Satz 1 FGO im Wege der teleologischen
Reduktion dahin auszulegen sei, dass er einen solchen Sachverhalt nicht erfasse. Vielmehr sei in dieser Situation der
Rechtsstreit wegen des ursprünglichen Bescheids in der Hauptsache erledigt und in Bezug auf den ersetzenden
Bescheid die Möglichkeit des Einspruchs eröffnet.
13 d) Dem ist nicht beizupflichten. Zwar mag zwischen den Regelungen in § 102 FGO einerseits und in § 68 FGO
andererseits insofern ein gewisser Widerspruch bestehen, als § 102 Satz 2 FGO nur die "Ergänzung" von
Ermessenserwägungen gestattet, während § 68 Satz 1 FGO die vollständige Ersetzung des angefochtenen Bescheids
erlaubt und im Hinblick auf die Ermessensausübung keine Einschränkung enthält. Ein solcher Widerspruch könnte
aber nicht in der Weise ausgeräumt werden, dass die in § 102 Satz 2 FGO enthaltene Einschränkung auf den
Anwendungsbereich des § 68 Satz 1 FGO übertragen wird. Vielmehr stehen beide Regelungen gleichrangig
nebeneinander mit der Folge, dass die Ersetzung eines Verwaltungsakts auch dann unter § 68 Satz 1 FGO fällt, wenn
aus Rechtsgründen Ausführungen zur Ermessensausübung notwendig sind und der ersetzende Verwaltungsakt
erstmals solche Ausführungen enthält.
14 aa) § 68 FGO dient u.a. der Verfahrensbeschleunigung (BFH-Urteil vom 25. Juli 1991 XI R 2/86, BFHE 165, 324, BStBl
II 1992, 37; Stöcker in Beermann/Gosch, a.a.O., § 68 FGO Rz 3). Seine Zielsetzung besteht insoweit darin, dass ein
einmal anhängig gewordenes Klageverfahren ungeachtet einer Änderung der Bescheidlage fortgeführt werden kann
und dass dadurch Verzögerungen vermieden werden, die mit der Unterbrechung jenes Verfahrens und der Einleitung
eines weiteren --auf den Änderungsbescheid bezogenen-- Rechtsbehelfsverfahrens verbunden sein könnten. Dieses
Anliegen besteht auch in der hier in Rede stehenden Situation. Es entspricht daher dem Grundgedanken des § 68
Satz 1 FGO, die Norm in dieser Situation uneingeschränkt anzuwenden.
15 bb) Allerdings darf die Anwendung des § 68 FGO nicht dazu führen, dass die von der Finanzbehörde getroffene
Regelung einer inhaltlichen Überprüfung durch die Gerichte entzogen wird. Deshalb ist § 68 Satz 1 FGO nach
verbreiteter Ansicht nicht anwendbar, wenn ein mit einer Klage angefochtener Verwaltungsakt geändert oder ersetzt
wird, die Klage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt aber unzulässig ist (Schallmoser in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 68 FGO Rz 89, m.w.N.). Mit diesem Sachverhalt ist der hier zu beurteilende aber
nicht vergleichbar.
16 Denn die Unzulässigkeit der Klage hindert einerseits das Gericht an einer Sachentscheidung. Sie kann andererseits
nach der Rechtsprechung des BFH nicht vermittels einer Anwendung des § 68 FGO behoben werden (BFH-Urteile
vom 11. Dezember 1986 IV R 184/84, BFHE 148, 422, BStBl II 1987, 303; vom 19. Februar 1993 VI R 70/92, BFH/NV
1993, 552). Auf dieser Basis hätte eine Anwendung des § 68 FGO im Fall der unzulässigen Klage zur Folge, dass die
Klage gegen den ändernden oder ersetzenden Verwaltungsakt abgewiesen werden müsste, ohne dass es auf dessen
inhaltliche Rechtmäßigkeit ankäme. Da zudem § 68 Satz 2 FGO für den Anwendungsbereich des § 68 Satz 1 FGO den
Einspruch ausschließt, wäre der ändernde oder ersetzende Bescheid im Ergebnis keiner gerichtlichen
Rechtmäßigkeitskontrolle zugänglich. Deshalb ist der Gesetzgeber erklärtermaßen davon ausgegangen, dass in einer
solchen Situation der Einspruch gegen den "neuen" Bescheid zulässig sein soll; er hat dies durch die Einfügung des
Wortes "insoweit" in § 68 Satz 2 FGO klarstellen wollen (Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BTDrucks
14/4549, S. 11).
17 Im Zusammenhang mit § 102 Satz 2 FGO fehlt es dagegen nicht nur an einer vergleichbaren Äußerung des
Gesetzgebers, sondern auch an einer entsprechend eindeutigen Ausgangssituation. Dem Rechtsschutzinteresse des
Bürgers kann vielmehr in vollem Umfang durch eine Gesetzesauslegung des Inhalts Rechnung getragen werden,
dass im Anwendungsbereich des § 68 FGO die Nachholung von Ermessenserwägungen nicht gemäß § 102 Satz 2
FGO beschränkt ist. Einer solchen Auslegung stehen weder der Gesetzestext noch die Gesetzesmaterialien entgegen.
Daher lässt sich der vom FG angenommene Vorrang des § 102 Satz 2 FGO vor § 68 Satz 1 FGO aus dem Gesetz nicht
ableiten.
18 cc) Zu einer abweichenden Beurteilung der Rechtslage führt nicht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG), auf die das FG verwiesen hat. Danach ist es der Verwaltungsbehörde verwehrt, einen mit der Klage
angefochtenen Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt zu ersetzen und in dem ersetzenden
Verwaltungsakt erstmals eine vom Gesetz geforderte Ermessensbetätigung zum Ausdruck zu bringen. Ein solches
Vorgehen verstoße gegen den seinerzeit in § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB
X) verankerten Grundsatz, dass die notwendige Erläuterung einer Ermessensausübung (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X)
nur bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden könne (BSG-Urteile vom 24. August 1988 7 RAr 53/86, BSGE 64,
36; vom 15. Februar 1990 7 RAr 28/88, BSGE 66, 204, m.w.N.). Die genannte Rechtsprechung besagt indessen nicht,
dass in einem solchen Fall der ersetzende Bescheid nicht gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum
Gegenstand eines den ursprünglichen Bescheid betreffenden Klageverfahrens werde; im Gegenteil geht das BSG
ausdrücklich davon aus, dass in der von ihm behandelten Situation § 96 Abs. 1 SGG eingreift (BSG-Urteil in BSGE 64,
36). Nichts anderes gilt im Anwendungsbereich des § 68 FGO, dessen Regelungsgehalt insoweit demjenigen des §
96 SGG entspricht.
19 3. Im Streitfall ist hiernach der Haftungsbescheid vom 27. Februar 2008 zum Gegenstand des beim FG anhängigen
Verfahrens geworden. Daher hatte der Kläger sein mit der Klage verfolgtes Ziel, eine endgültige Aufhebung des
Haftungsbescheids zu erwirken, nicht erreicht. Daraus folgt, dass eine inhaltliche Erledigung des Klageverfahrens
nicht eingetreten ist. Das FG hätte mithin dem Feststellungsantrag des Klägers nicht stattgeben dürfen, weshalb sein
Urteil aufgehoben werden muss.
20 4. Doch kann der Senat nicht zugleich in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Insbesondere
kann er nicht deshalb, weil nur der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hat und eine
Erledigung tatsächlich nicht eingetreten ist, die Klage abweisen. Vielmehr muss die Sache an das FG
zurückverwiesen werden, damit dieses das Klageverfahren fortsetzen und über die Rechtmäßigkeit des
Haftungsbescheids vom 27. Februar 2008 befinden kann.
21 a) Erklärt der Kläger einen Rechtsstreit für erledigt und widerspricht das FA dieser Erklärung, so beschränkt sich der
Rechtsstreit in der Folge grundsätzlich auf die Erledigungsfrage. Für eine Entscheidung über den ursprünglichen
Klageantrag ist dann kein Raum (BFH-Urteil vom 27. September 1979 IV R 70/72, BFHE 128, 492, BStBl II 1979, 779;
BFH-Beschluss vom 20. März 2003 III B 74/01, BFH/NV 2003, 935). Der Kläger kann aber, wenn er eine
Erledigungserklärung abgibt, hilfsweise an seinem früheren Antrag festhalten (BFH-Urteil in BFHE 207, 355, BStBl II
2005, 99, 101; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 138 FGO Rz 36, m.w.N.). Ist das geschehen und die Erledigung nicht
eingetreten, so muss das FG über jenen Antrag entscheiden.
22 b) Im Streitfall hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem FG eine Erledigungserklärung abgegeben,
nachdem das FG darauf hingewiesen hatte, dass seiner Ansicht nach der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei.
Er hatte aber zuvor mitgeteilt, dass er an einer Klärung der streitigen Sachfrage interessiert sei und in erster Linie eine
Entscheidung des FG zu dieser Frage anstrebe (Schriftsatz vom 16. Januar 2008). Angesichts dessen muss der in der
mündlichen Verhandlung gestellte Antrag ergänzend dahin ausgelegt werden, dass er ein hilfsweises Festhalten an
dem ursprünglichen Klageantrag beinhaltet. Zu dieser Auslegung ist der erkennende Senat befugt, da das
Revisionsgericht Prozesserklärungen ohne Bindung an Tatsachenfeststellungen des FG auslegen darf (Ruban in
Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 48, m.w.N.). Mit der Situation, in der ein fachkundig vertretener
Kläger trotz eines Hinweises auf Zweifel am Eintritt der Erledigung von einem entsprechenden Hilfsantrag absieht und
keine anderen Gründe für ein fortbestehendes Interesse an einer Sachentscheidung erkennbar sind (dazu
Senatsbeschluss vom 3. April 2000 I B 68/99, BFH/NV 2000, 1226), ist der Streitfall nicht vergleichbar.
23 c) Dem hiernach zu bescheidenden Hilfsantrag des Klägers kann nicht schon deshalb stattgegeben werden, weil der
ursprünglich angefochtene Haftungsbescheid keine Ermessenserwägungen enthalten hat. Denn Gegenstand der
gerichtlichen Prüfung muss wegen § 68 Satz 1 FGO der Bescheid vom 27. Februar 2008 sein, und darin hat das FA
seine Ermessensausübung erläutert. Eine nachträgliche Ermessensbetätigung, die nur in den Grenzen des § 102
Satz 2 FGO zulässig wäre, liegt in Bezug auf diesen Bescheid nicht vor. Nur darauf kommt es jedoch an, da § 102 Satz
2 FGO ausschließlich die Ergänzung von Ermessenserwägungen "hinsichtlich des Verwaltungsakts" regelt.
24 Dieser Beurteilung steht die Rechtsprechung des BSG zur Ersetzung von Verwaltungsakten während eines
sozialgerichtlichen Verfahrens (dazu oben II.2.d cc) nicht entgegen. Denn die verfahrensrechtlichen
Rahmenbedingungen, auf denen sie beruht, weichen von den hier maßgeblichen in entscheidungserheblicher Weise
ab. Die für Haftungsbescheide geltende Regelungslage ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass die Anfechtung eines
solchen Bescheids den Ablauf der maßgeblichen Festsetzungsfrist hemmt (§ 171 Abs. 3a der Abgabenordnung --AO--
) und dass diese Hemmung fortwirkt, wenn --wie im Streitfall-- ein angefochtener Haftungsbescheid durch einen
anderen Haftungsbescheid ersetzt wird (BFH-Urteil vom 5. Oktober 2004 VII R 18/03, BFHE 208, 292, BStBl II 2005,
323). Das Gesetz geht mithin davon aus, dass die Finanzbehörde einen angefochtenen Haftungsbescheid bis zum
Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens ohne zeitliche Einschränkung ersetzen kann. Diese Möglichkeit muss auch
die Ergänzung des Bescheids um Ermessenserwägungen umfassen, da anderenfalls die in § 171 Abs. 3a AO
getroffene Regelung in diesem Bereich häufig versagen würde: Würde einerseits ein ersetzender Haftungsbescheid
zum Gegenstand eines anhängigen Klageverfahrens und könnten andererseits die in ihm angestellten
Ermessenserwägungen in jenem Verfahren nicht berücksichtigt werden, so könnte die Finanzbehörde eine
nachträgliche Ermessensausübung nur dadurch wirksam vornehmen, dass sie nach Ergehen des finanzgerichtlichen
Urteils und vor Ablauf der das Urteil betreffenden Rechtsmittelfrist erneut einen Haftungsbescheid erlässt; dass das
dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ist angesichts der in § 171 Abs. 3a AO getroffenen Regelung nicht
anzunehmen. Eine vergleichbare Regelungslage besteht in Bezug auf diejenigen Fragen, auf die sich die
Rechtsprechung des BSG bezieht, nicht. Daher kann jene Rechtsprechung nicht auf die hier anstehende
Fragestellung übertragen werden.
25 5. Im Ergebnis ist bei der Entscheidung des Rechtsstreits der nunmehr streitbefangene Bescheid auch insoweit zu
berücksichtigen, als es um die darin enthaltenen Erläuterungen zur Ermessensbetätigung geht. Mit diesen
Erwägungen hat sich das FG, von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig, nicht befasst. Ebenso hat es zu
Grund und Umfang einer Haftung des Klägers weder nähere tatsächliche Feststellungen getroffen noch rechtliche
Überlegungen angestellt. Die hiernach fehlenden Prüfungsschritte können im Revisionsverfahren nicht nachgeholt
werden, weshalb die Sache zu diesem Zweck an das FG zurückverwiesen werden muss.