Urteil des BFH vom 21.10.2010
Erledigung der Hauptsache ohne Erledigungserklärung des beigetretenen BMF - Kostenentscheidung nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung - Geringfügigkeit des Unterliegens i.S.d. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO
BUNDESFINANZHOF Entscheidung vom 21.10.2010, III R 5/09
EuGH-Vorlage zur Kindergeldberechtigung von polnischen Staatsangehörigen, die als entsandte Arbeitnehmer
vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind
Leitsätze
Dem EuGH werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat, in
den ein Arbeitnehmer entsandt wird und der auch nicht der Wohnmitgliedstaat der Kinder des Arbeitnehmers ist, jedenfalls
dann die Befugnis nimmt, dem entsandten Arbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer durch
seine Entsendung in diesen Mitgliedstaat keinen Rechtsnachteil erleidet?
2. Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird:
Ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass der nicht zuständige Mitgliedstaat, in den ein
Arbeitnehmer entsandt wird, jedenfalls nur befugt ist, Familienleistungen zu gewähren, wenn feststeht, dass in dem anderen
Mitgliedstaat kein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen besteht?
3. Falls auch diese Frage verneint wird:
Stehen dann gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Vorschriften einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG entgegen, die einen Anspruch auf Familienleistungen ausschließt, wenn eine vergleichbare Leistung
im Ausland zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre?
4. Falls diese Frage bejaht wird:
Wie ist die dann gegebene Kumulation des Anspruchs im zuständigen Staat, der zugleich Wohnmitgliedstaat der Kinder ist,
und des Anspruchs im nicht zuständigen Staat, der auch nicht Wohnmitgliedstaat der Kinder ist, zu lösen?
Tatbestand
1 I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für seine im Jahr 2005 geborene
Tochter in der Zeit von Februar bis Dezember 2006 (Streitzeitraum) einen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff.
des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) hat.
2 Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er wohnt zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in
Polen. Dort ist er auch sozialversichert. Seine Ehefrau war u.a. im Streitzeitraum in Polen ausschließlich
gesundheitsversichert. Sie erhielt u.a. in dieser Zeit dort Kindergeld für die Tochter in Höhe von monatlich 48 Zloty.
3 Der Kläger arbeitete im Streitzeitraum als entsandter Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland
(Bundesrepublik). Für das Jahr 2006 wurde er in der Bundesrepublik zusammen mit seiner Ehefrau zur
Einkommensteuer veranlagt.
4 Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers ab, ihm für den Streitzeitraum
Kindergeld für seine Tochter in Höhe von monatlich 154 EUR nach den §§ 62 ff. EStG zu gewähren. Einspruch und
Klage des Klägers hatten keinen Erfolg (Urteil des Finanzgerichts --FG-- vom 22. Dezember 2008 10 K 404/08 Kg,
Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 497).
5 Mit seiner gegen das Urteil des FG gerichteten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist insbesondere
der Ansicht, aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 20. Mai 2008 C-352/06, Bosmann
(Slg. 2008, I-3827) ergebe sich, dass die nationalen Vorschriften der §§ 62 ff. EStG auch dann anwendbar seien, wenn
nach den Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2.
Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und
aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 13. April 2005 (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2005 Nr. L 117, S. 1) --wie hier nach Art. 14
Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71-- die deutschen Rechtsvorschriften nicht als die auf eine Person anwendbaren
Rechtsvorschriften bestimmt seien. Sein danach gegebener Anspruch auf deutsches Kindergeld sei auch nicht nach §
65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG ausgeschlossen, da diese Vorschrift gemeinschafts- bzw.
unionsrechtswidrig sei; jedenfalls aber sei sie im Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht anzuwenden.
Entscheidungsgründe
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II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 Satz 1, § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legt
dem EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die im Leitsatz
bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor.
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1. Zur ersten Vorlagefrage:
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a) In den Art. 13 ff. der für den Streitzeitraum noch maßgebenden VO Nr. 1408/71 wird bestimmt, welche
Rechtsvorschriften auf innerhalb der Gemeinschaft (jetzt: Union) zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden
sind. Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 bezwecken u.a., dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen
Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften
und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden. Dieser Grundsatz kommt insbesondere
in Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 zum Ausdruck (z.B. EuGH-Urteile vom 12. Juni 1986 C-302/84, Ten Holder, Slg.
1986, 1821 Rz 19 f.; Bosmann in Slg. 2008, I-3827 Rz 16; vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, www.curia.eu
Rz 40).
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Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig
beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats wohnt. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 für
entsandte Arbeitnehmer. Wird eine Person im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie
gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt und von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen
Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt, unterliegt sie weiterhin den Rechtsvorschriften des
ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht
eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.
10 Da der Kläger nach den den Senat bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG im Streitzeitraum in der
Bundesrepublik als entsandter Arbeitnehmer i.S. des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 tätig war, unterliegt
er für den Zeitraum der Entsendung weiterhin den polnischen Rechtsvorschriften.
11 b) Nach (bislang) ständiger Rechtsprechung des EuGH bilden die Vorschriften der VO Nr. 1408/71 ein geschlossenes
System von Kollisionsnormen, das den nationalen Gesetzgebern die Befugnis nimmt, in diesem Bereich den
Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu
bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalten sollen (z.B. EuGH-
Urteile Ten Holder in Slg. 1986, 1821; vom 10. Juli 1986 C-60/85, Luijten, Slg. 1986, 2365 Rz 14; vom 11. November
2004 C-372/02, Adanez-Vega, Slg. 2004, I-10761 Rz 18; vom 26. Januar 2006 C-2/05, Herbosch Kiere, Slg. 2006, I-
1079 Rz 21).
12 Dem folgend geht auch der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Person, die
nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterliegt, auch dann
keinen Anspruch auf deutsches Kindergeld hat, wenn sie an sich die Voraussetzungen der §§ 62 ff. EStG erfüllt (z.B.
BFH-Urteile vom 13. August 2002 VIII R 61/00, BFH/NV 2002, 1508, und VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588;
Senatsurteil vom 24. März 2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BStBl II 2008, 369; ebenso Urteil des
Bundessozialgerichts vom 15. Dezember 1992 10 RKg 18/91, Sozialrecht 3-6050 Art. 13 Nr. 3; vgl. ferner Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 Rz 20; s. auch Devetzi,
Familienleistungen in der Verordnung (EG) 883/2004, in: 50 Jahre nach ihrem Beginn - neue Regeln für die
Koordinierung sozialer Sicherheit 2009, 291, 299 f.; dies., Die Kollisionsnormen des Europäischen Sozialrechts, 2000,
S. 162).
13 c) Den Grundsatz, dass ein Arbeitnehmer, für den --wie hier für den Kläger-- die VO Nr. 1408/71 gilt, den
Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt, hat der EuGH auch in seinem Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-
3827 erneut betont (ebenso im Urteil Schwemmer, www.curia.eu Rz 40). In Anwendung der Art. 13 ff. der VO Nr.
1408/71 kam der EuGH daher auch im Fall Bosmann zunächst zu dem Ergebnis, dass Frau Bosmann nach Art. 13
Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den niederländischen Rechtsvorschriften unterfalle, weshalb die Bundesrepublik
gemeinschaftsrechtlich nicht verpflichtet sei, Frau Bosmann Kindergeld zu gewähren. Der EuGH hielt es dann
allerdings nicht (mehr) für ausgeschlossen, dass die Bundesrepublik auch als nicht nach den Art. 13 ff. der VO Nr.
1408/71 zuständiger Staat Kindergeld gewähren könne und erinnerte in diesem Zusammenhang insbesondere daran,
dass die Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 im Licht des Art. 42 des Vertrages zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft (EG) auszulegen seien, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern solle und u.a. impliziere,
dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere
Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben
(EuGH-Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827 Rz 29). Der EuGH kam daher zu dem Ergebnis, dass "unter den
Umständen des Ausgangsverfahrens" im Fall Bosmann dem Wohnmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen
werden könne, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren (EuGH-Urteil Bosmann in
Slg. 2008, I-3827 Rz 31).
14 d) Die "Umstände des Ausgangsverfahrens" im Fall Bosmann waren dadurch gekennzeichnet, dass Frau Bosmann
mit ihren volljährigen Kindern in der Bundesrepublik wohnte und hier einen Anspruch auf Kindergeld hatte. Da sie in
Ausübung ihres Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Beschäftigung in den Niederlanden aufnahm und die --
nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 auf sie nunmehr anzuwendenden-- niederländischen
Rechtsvorschriften für volljährige Kinder kein Kindergeld vorsahen, verlor sie ihren im Wohnsitzstaat bestehenden
Kindergeldanspruch. Sie erlitt also infolge der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts und dem damit in ihrem Fall
verbundenen Wechsel des Sozialrechtsstatuts einen Rechtsnachteil.
15 aa) Dass die Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 im Licht des Art. 42 EG (jetzt: Art. 48 AEUV) auszulegen sind,
entspricht ständiger Rechtsprechung des EuGH. Danach sollen die Art. 39 bis 42 EG (jetzt: Art. 45 bis 48 AEUV) sowie
die zu ihrer Durchführung erlassenen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften wie insbesondere die VO Nr. 1408/71
verhindern, dass ein Arbeitnehmer von seinem Recht auf Freizügigkeit deshalb keinen Gebrauch macht, weil er
dadurch Nachteile erleidet (z.B. EuGH-Urteile vom 21. Oktober 1975 C-24/75, Petroni, Slg. 1975, 1149 Rz 11 ff.; vom
7. März 1991 C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119 Rz 17 f.; vom 7. Mai 1998 C-113/96, Gomez Rodriguez, Slg. 1998, I-
2461 Rz 22 ff.; vom 9. November 2006 C-205/05, Nemec, Slg. 2006, I-10745 Rz 37 ff.).
16 Diese Rechtsprechung galt bislang allerdings nicht für die Bestimmungen des anzuwendenden Rechts --Titel II der
VO Nr. 1408/71-- (EuGH-Urteile Ten Holder in Slg. 1986, 1821 Rz 21 f., und Luijten in Slg. 1986, 2365 Rz 12 ff.). Die
Bedeutung des Urteils im Fall Bosmann besteht nach Ansicht des vorlegenden Senats daher in der Übertragung der
Rechtsgrundsätze auch auf diese Bestimmungen. Danach soll ein nach Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht
zuständiger Mitgliedstaat dann die Befugnis haben, einem Wanderarbeitnehmer Familienleistungen nach seinem
nationalen Recht zu gewähren, wenn dieser sonst einen Rechtsnachteil erleidet, weil er von seinem Recht auf
Freizügigkeit Gebrauch macht.
17 bb) Dagegen lässt sich dem Urteil des EuGH im Fall Bosmann nach Ansicht des vorlegenden Senats nicht
entnehmen, dass ein nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht zuständiger Mitgliedstaat nun generell einem
Wanderarbeitnehmer Familienleistungen nach seinem nationalen Recht soll gewähren können, d.h. unabhängig
davon, ob der Wanderarbeitnehmer dadurch, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, einen
Rechtsnachteil erleidet. Für eine solch weitreichende Befugnis besteht kein Bedürfnis. Sie widerspräche zudem dem
Zweck der Verordnung, der auch darin besteht, die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die
sich daraus ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden.
18 cc) Die im Fall Bosmann aufgestellten Rechtsgrundsätze können nach Ansicht des vorlegenden Senats nicht auf
einen Fall wie den des Klägers übertragen werden. Denn er erleidet durch seine vorübergehende Tätigkeit in der
Bundesrepublik keinen Rechtsnachteil.
19 Die auf den Kläger anzuwendenden Rechtsvorschriften bestimmen sich --anders als im Fall von Frau Bosmann-- nicht
nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71, sondern nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71. Diese
Vorschrift hat nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere das Ziel, die Dienstleistungsfreiheit zugunsten von
Unternehmen zu fördern, die Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten als den Staat ihrer Betriebsstätte entsenden.
Diese Bestimmung soll Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer überwinden helfen sowie die gegenseitige
wirtschaftliche Durchdringung fördern und dabei administrative Schwierigkeiten insbesondere für die Arbeitnehmer
und die Unternehmen vermeiden. Ohne die Regelung in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 wäre ein in
einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen verpflichtet, seine im Übrigen dem System der sozialen Sicherheit
dieses Staates unterliegenden Arbeitnehmer beim entsprechenden System eines anderen Mitgliedstaats
anzumelden, wenn sie zur Verrichtung von Arbeiten von begrenzter Dauer in diesen entsandt werden; das würde die
Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit erschweren. Um dies zu vermeiden, kann es das Unternehmen nach Art.
14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 bei der Anmeldung seiner Arbeitnehmer beim System des ersten
Mitgliedstaats belassen (z.B. EuGH-Urteil vom 10. Februar 2000 C-202/97, FTS, Slg. 2000, I-883).
20 Anders als bei Anwendung des für Frau Bosmann maßgeblichen Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ändert
sich also bei Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 das auf den Arbeitnehmer anwendbare
Sozialrechtsstatut nicht. Diese Bestimmung schützt damit gerade auch das Interesse des Arbeitnehmers, in seiner
bisherigen Sozialversicherungsordnung zu verbleiben und vermeidet damit die mit einem Wechsel des
Sozialversicherungssystems verbundenen Nachteile. Die vorübergehende Auslandsbeschäftigung führt weder zum
Verlust des bisherigen noch zum Erwerb des Sozialrechtsstatuts im Staat der vorübergehenden Tätigkeit. Daher kann
der entsandte Arbeitnehmer durch seine Tätigkeit in dem anderen Mitgliedstaat auch keine ihm bislang zustehenden
Rechte verlieren - er kann lediglich Rechte, die ihm bislang nicht zustanden, nicht erwerben.
21 Ungeachtet der Frage, ob und ggf. inwieweit sich der Kläger als polnischer Staatsangehöriger im Streitzeitraum nach
Maßgabe der Akte über die Bedingungen des Beitritts (u.a.) der Republik Polen und die Anpassungen der die
Europäische Union begründenden Verträge --Beitrittsakte-- (ABlEU 2003, Nr. L 236, S. 33) überhaupt schon auf die
Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EG berufen konnte, hat er also --anders als Frau Bosmann-- infolge der
Ausübung dieses Rechts keinen Rechtsverlust erlitten. Denn auf ihn blieben auch während seiner Entsendung in die
Bundesrepublik weiterhin die polnischen Rechtsvorschriften anwendbar. Die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a
der VO Nr. 1408/71 führte lediglich dazu, dass er den für ihn günstigeren deutschen Kindergeldanspruch nicht
erwerben konnte. Eine solche Möglichkeit hätte sich ihm aber auch dann nicht geboten, wenn er seine Tätigkeit
weiterhin in Polen ausgeübt hätte.
22 e) Darüber hinaus unterscheiden sich der Fall des Klägers und derjenige von Frau Bosmann in einem weiteren, nach
Ansicht des vorlegenden Senats erheblichen Umstand, der einer Übertragung der Grundsätze des Bosmann-Urteils
auf den des Klägers entgegen stehen könnte. Denn abgesehen davon, dass die Bundesrepublik nicht der nach den
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zuständige Mitgliedstaat ist, ist sie --anders als im Fall von Frau Bosmann-- auch nicht
der Wohnmitgliedstaat der Kinder, aus dessen Recht sich ein nach der VO Nr. 1408/71 bzw. der Verordnung (EWG)
Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die
Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABlEG 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und
aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 13. April 2005 (ABlEU 2005, Nr. L 117, S. 1) --VO Nr. 574/72-- zu berücksichtigender konkurrierender
Anspruch auf Familienleistungen ergeben könnte.
23 Während sich im Fall Bosmann nicht nur ihr Wohnsitz, sondern auch der ihrer Kinder in der Bundesrepublik befanden,
liegt der Familienwohnsitz des Klägers, an dem er zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter lebt,
in Polen. Ein Anspruch im Wohnmitgliedstaat des Kindes, dessen Berücksichtigung Art. 76 der VO Nr. 1408/71 bzw.
Art. 10 der VO Nr. 574/72 grundsätzlich neben dem Anspruch nach den nach Titel II zu bestimmenden
Rechtsvorschriften zulassen, scheiterte im Fall von Frau Bosmann am Fehlen einer Anspruchskumulierung, da im
(abweichenden) Beschäftigungsmitgliedstaat (Niederlande) gerade kein Anspruch bestand. Anders stellt sich die
Situation des Klägers dar. Da seine Tochter in Polen lebt, kann sich ein etwa für sie aufgrund ihres Wohnsitzes zu
berücksichtigender Anspruch nur aus polnischem Recht ergeben. Die im Rahmen der VO Nr. 1408/71 bzw. der VO Nr.
574/72 grundsätzlich zu berücksichtigenden konkurrierenden Ansprüche nach dem Recht des zuständigen Staates
einerseits und nach dem Recht des Wohnmitgliedstaats des Kindes andererseits richten sich im Fall des Klägers --
anders als in dem Fall von Frau Bosmann-- also ausschließlich nach polnischem Recht.
24 f) Nach Auffassung des vorlegenden Senats gelten trotz der Ausnahme im Fall Bosmann die Grundsätze der
bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu den Vorschriften des Titels II der VO Nr. 1408/71 als geschlossenes System
von Kollisionsnormen weiterhin. Im Regelfall sind die nationalen Gesetzgeber daher nicht befugt, im Bereich der
Kollisionsnormen den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im
Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet sie gelten sollen. Der
vorlegende Senat geht davon aus, dass der EuGH (neben den bereits in der VO Nr. 1408/71 selbst vorgesehenen
Ausnahmen wie z.B. Art. 76) eine Durchbrechung dieses Ausschließlichkeitsprinzips nur dann für geboten erachtet,
wenn andernfalls ein Wanderarbeitnehmer infolge der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit einen
Rechtsnachteil erleiden würde. Gelten für den Arbeitnehmer nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71
während seiner (vorübergehenden) Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat weiterhin die bisher auf ihn
anwendbaren Rechtsvorschriften, ist nach Ansicht des vorlegenden Senats der nicht zuständige Mitgliedstaat daher
auch dann nicht berechtigt, nach seinem nationalen Recht Familienleistungen zu gewähren, wenn sich diese
Möglichkeit tatsächlich aus seinen Rechtsvorschriften ergibt.
25 Sind deutsche Vorschriften auf eine Person in der Situation des Klägers nicht anwendbar, ist die Revision als
unbegründet zurückzuweisen. Steht der Bundesrepublik hingegen die Befugnis zu, auch einem i.S. des Art. 14 Abs. 1
Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in ihr Gebiet entsandten Arbeitnehmer unabhängig vom Eintritt eines Rechtsnachteils
Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu gewähren, hängt die Erfolgsaussicht der Revision von der Beantwortung der
weiteren Vorlagefragen ab. Denn der Kläger erfüllt nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG im
Streitzeitraum --lässt man die Frage des Anspruchsausschlusses nach § 65 EStG zunächst außer Betracht (dazu
Vorlagefrage 3)-- die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs nach den §§ 62 ff. EStG.
26 2. Zur zweiten Vorlagefrage:
27 Geht man --anders als der vorlegende Senat-- davon aus, dass auch in einem Fall wie dem des Klägers die VO Nr.
1408/71 den nicht zuständigen Mitgliedstaat nicht daran hindert, Familienleistungen nach seinem nationalen Recht zu
gewähren, stellt sich die weitere Frage, ob dies nur gilt, wenn in dem anderen Mitgliedstaat kein Anspruch auf
vergleichbare Familienleistungen besteht, oder ob die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 den nicht zuständigen Staat
generell nicht daran hindern, nach seinem nationalen Recht zu bestimmen, ob und ggf. unter welchen
Voraussetzungen er als nach der VO Nr. 1408/71 nicht zuständiger Staat gleichwohl Familienleistungen gewähren
will.
28 Im Fall Bosmann stand fest, dass Frau Bosmann nach den auf sie nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71
anwendbaren niederländischen Vorschriften wegen des Alters ihrer Kinder keinen Anspruch auf Kindergeld hatte.
Diese Feststellung lag auch den dort gestellten Vorlagefragen zugrunde (vgl. EuGH-Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-
3827 Rz 13, 14). Dem Urteil im Fall Bosmann lässt sich daher nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnehmen, ob
der EuGH die Befugnis des nicht zuständigen Mitgliedstaats zur Anwendung seines nationalen Rechts von der
Feststellung abhängig macht, dass im zuständigen Mitgliedstaat kein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen
besteht.
29 Ist diese Befugnis von einer solchen Feststellung abhängig, ist die Revision des Klägers unbegründet, denn es steht
fest, dass in Polen für seine Tochter im Streitzeitraum ein Anspruch auf Familienleistungen bestand und
entsprechende Leistungen auch ausgezahlt wurden. Besteht die Befugnis des nicht zuständigen Mitgliedstaats,
Familienleistungen nach seinem Recht zu gewähren hingegen generell, kommt es für die Entscheidung des
Revisionsverfahrens darauf an, ob neben den dann anzuwendenden §§ 62 ff. EStG auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG anwendbar ist (unten Vorlagefrage 3). Ist dies der Fall, ist die Revision als unbegründet
zurückzuweisen, denn nach dieser Vorschrift wird kein Kindergeld --auch nicht in Höhe einer etwa gegebenen
Differenz zu einem niedrigeren ausländischen Anspruch-- für ein Kind gezahlt, für das --wie hier in Polen-- dem
Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen
wären. Ist § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG hingegen wegen des Anwendungsvorrangs des
Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts oder wegen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht nicht
anwendbar, steht dem Kläger Kindergeld (auch) nach deutschem Recht zu und es stellt sich die Frage, wie die dann
gegebene Kumulation von Ansprüchen zu lösen ist (unten Vorlagefrage 4).
30 3. Zur dritten Vorlagefrage:
31 Geht man davon aus, dass der nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat generell die
Befugnis hat, Familienleistungen nach seinem nationalen Recht zu gewähren, steht nach Ansicht des vorlegenden
Senats Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht der Anwendung einer Vorschrift wie der des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. §
65 Abs. 2 EStG nicht entgegen.
32 a) Diese Vorschrift lautet --soweit hier von Bedeutung--:
33 (1) Kindergeld wird nicht für ein Kind gezahlt, für das eine der folgenden Leistungen zu zahlen ist oder bei
entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre:
1. Kinderzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder Kinderzuschüsse aus den gesetzlichen
Rentenversicherungen,
2. Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter Nummer 1
genannten Leistungen vergleichbar sind,
3. … .
34 (2) Ist in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 der Bruttobetrag der anderen Leistung niedriger als das Kindergeld
nach § 66, wird Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrags gezahlt, wenn er mindestens 5 EUR beträgt.
35 b) Wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts ist § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65
Abs. 2 EStG im Anwendungsbereich der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nach ständiger Rechtsprechung deutscher
Gerichte (vgl. nur BVerfG-Beschluss in BVerfGE 110, 412, unter I. 2. Buchst. a) zwar grundsätzlich nicht anzuwenden.
Ein solcher Fall des Anwendungsvorrangs ist hier nach Ansicht des vorlegenden Senats jedoch nicht gegeben. Geht
man davon aus, dass ein in Anwendung der vorrangig anzuwendenden Rechtsvorschriften der VO Nr. 1408/71
gerade nicht zuständiger Mitgliedstaat gleichwohl die Befugnis hat zu bestimmen, ob und ggf. unter welchen
Voraussetzungen er in diesem Fall Familienleistungen gewähren will, muss er auch entscheiden dürfen, ob und ggf.
in welcher Weise er berücksichtigen will, dass in einem anderen, insbesondere in dem nach der VO Nr. 1408/71
zuständigen Mitgliedstaat ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung besteht.
36 c) Einer Vorschrift wie der des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG steht in einem solchen Fall nach Ansicht
des vorlegenden Senats auch Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht im Übrigen nicht entgegen.
37 aa) Ungeachtet der Frage, ob sich ein polnischer Staatsangehöriger wie der Kläger im Streitzeitraum Februar bis
Dezember 2006 im Hinblick auf die Übergangsregelungen in der Beitrittsakte bereits auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit
des Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) berufen konnte, steht dieses Freizügigkeitsrecht der Anwendung einer Vorschrift
wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG in einem Fall wie dem des Klägers jedenfalls nicht entgegen.
38 Auf den Kläger sind nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 nur polnische Rechtsvorschriften anzuwenden,
ohne dass insoweit ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorliegt. Besteht damit für den nicht zuständigen
Staat (hier: die Bundesrepublik) im Hinblick auf Art. 39 EG schon keine Verpflichtung, in einem solchen Fall überhaupt
Familienleistungen zu gewähren, so kann Art. 39 EG den nicht zuständigen Staat auch nicht daran hindern,
Familienleistungen jedenfalls nur dann zu gewähren, wenn im zuständigen Mitgliedstaat kein Anspruch auf
vergleichbare Familienleistungen besteht.
39 bb) Der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG stehen in einem Fall wie dem des Klägers
auch gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Diskriminierungsverbote nicht entgegen.
40 Der Kläger wird als in die Bundesrepublik entsandter Arbeitnehmer durch die Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG insbesondere nicht gegenüber in der Bundesrepublik nicht nur vorübergehend Beschäftigten
diskriminiert. Denn die Situation eines entsandten und damit nur vorübergehend im Inland tätigen Arbeitnehmers ist
schon nicht vergleichbar mit der Situation eines im Inland nicht nur vorübergehend Beschäftigten. Anders als im Inland
nicht nur vorübergehend Beschäftigte verlangen entsandte Arbeitnehmer keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt des Staates,
in den sie entsandt werden, da sie nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunfts- oder Wohnsitzland zurückkehren
(vgl. EuGH-Urteile vom 27. März 1990, C-113/89, Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417 Rz 15, und vom 9. August 1994
C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I-3803 Rz 21). Entsandte Arbeitnehmer sollen nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO
Nr. 1408/71 auch nicht mit den Arbeitnehmern des Mitgliedstaats gleichbehandelt werden, in den sie entsandt
werden, sondern mit den Arbeitnehmern des Mitgliedstaats, aus dessen Gebiet sie in das Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats entsandt werden. Insoweit stellt Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 eine besondere
Bestimmung i.S. des Art. 3 Abs. 1, 2. Halbsatz der VO Nr. 1408/71 dar.
41 4. Zur vierten Vorlagefrage:
42 Falls Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG entgegensteht, stellt sich die Frage, wie eine dann gegebene Anspruchskumulation zu lösen
ist.
43 Die Antikumulierungsregeln des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und des Art. 10 der VO Nr. 574/72 dürften auf eine solche
Sachlage keine Anwendung finden. Denn durch diese Regeln soll eine Kumulierung der Ansprüche nach den
Rechtsvorschriften des Staates, in dem die Kinder wohnen, mit denjenigen nach den Rechtsvorschriften des
zuständigen Staates verhindert werden. Im Fall des Klägers besteht aber keine solche Anspruchskumulierung, da
sowohl zuständiger Staat als auch Wohnmitgliedstaat der Kinder Polen ist.
44 Wie die gegebene Kumulation dieses nach polnischem Recht gegebenen Anspruchs und des (in der Regel höheren)
Anspruchs nach deutschem Recht als dem Recht des nicht zuständigen Staates, der auch nicht Wohnmitgliedstaat der
Kinder ist, zu lösen ist, bedarf als Auslegung einer gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Frage ebenfalls der Klärung
durch den EuGH.