Urteil des BFH vom 11.12.2012

Nebeneinander von Progressionsvorbehalt und Tarifermäßigung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 11.12.2012, IX R 23/11
Nebeneinander von Progressionsvorbehalt und Tarifermäßigung
Leitsätze
Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG und Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG sind mit der
Folge nebeneinander anwendbar (sog. integrierte Steuerberechnung), dass sich ein negativer
Progressionsvorbehalt im Rahmen der Ermittlung des Steuerbetrags nach § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG
wegen des niedrigeren Steuersatzes notwendig steuermindernd auswirkt.
Tatbestand
1 I. Streitig ist die Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer bei Zusammentreffen eines
negativen verbleibenden zu versteuernden Einkommens mit Einkünften, die dem negativen
Progressionsvorbehalt unterliegen.
2 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde für 2008 (Streitjahr) antragsgemäß getrennt
zur Einkommensteuer veranlagt. Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung hatte er einen
Betrag von 3.374 EUR als im Streitjahr an die Arbeitsverwaltung zurückgezahltes
Arbeitslosengeld angegeben. Seine frühere Arbeitgeberin hatte in der
Lohnsteuerbescheinigung als Dauer des Arbeitsverhältnisses den Zeitraum vom 1. bis zum
31. Juli des Streitjahres sowie einen ermäßigt besteuerten Arbeitslohn von 260.000 EUR
angegeben. Diese Lohnzahlung behandelte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt --FA--) als nach § 24 Nr. 1a, § 34 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes i.d.F.
des Streitjahres (EStG) tarifbegünstigte Abfindungsleistung.
3 Mit geändertem Einkommensteuerbescheid vom Februar 2010 und später vom November
2010 ermittelte das FA Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 256.751 EUR, ein
zu versteuerndes Einkommen (zvE) von 248.879 EUR und ein nach § 34 Abs. 1 EStG
"verbleibendes zu versteuerndes Einkommen" von -7.872 EUR und setzte entsprechend
H 34.2 Beispiel 4 des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2008 (EStH) die tarifliche
Einkommensteuer (Grundtarif) auf 62.480 EUR --unter Abzug der Steuerermäßigung nach
§ 35a EStG in Höhe von 300 EUR-- die Einkommensteuer auf 62.180 EUR fest.
4 Einspruch und Klage, mit denen der Kläger aufgrund einer anderweitigen Berechnung die
Festsetzung der tariflichen Einkommensteuer letztlich auf 41.565 EUR begehrte, hatten
keinen Erfolg (Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1788). Das Finanzgericht
(FG) entschied, dass die Steuerberechnung des FA nicht zu beanstanden sei. Träfen nämlich
Tarifermäßigung mit negativem Progressionsvorbehalt zusammen, kämen beide
Vergünstigungen zur Anwendung und es sei eine sog. integrierte Steuerberechnung nach
dem Günstigkeitsprinzip vorzunehmen. Die Belastungsvergleichsrechnung des FA zeige,
dass die finanzamtliche Ermittlung unter Berücksichtigung von Tarifermäßigung und
negativem Progressionsvorbehalt zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis führe.
5 Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 32b, § 34 Abs. 1 EStG).
Er führt zur Begründung aus: Treffe die Tarifermäßigung mit einem negativen Progressions-
vorbehalt zusammen, habe eine integrierte Steuerberechnung nach dem Günstigkeitsprinzip
zu erfolgen, wobei die ermäßigt besteuerten außerordentlichen Einkünfte bei der Ermittlung
des besonderen Steuersatzes i.S. des § 32b Abs. 2 EStG einzubeziehen sei. Nach dem Urteil
des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. November 2007 VI R 66/03 (BFHE 219, 313, BStBl II
2008, 375) sei die Fünftel-Regelung des § 34 Abs. 1 EStG im Rahmen des negativen
Progressionsvorbehalts anzuwenden "und nicht umgekehrt". Dabei sei nicht nur das zvE mit
einem Fünftel, sondern vielmehr auch "die dem Progressionsvorbehalt unterliegenden
Einkünfte" wie auch die ermäßigt besteuerten außerordentlichen Einkünfte nur mit einem
Fünftel zu berücksichtigen, so dass sich ein wesentlich geringerer (besonderer) Steuersatz
ergebe und dies zu einem günstigeren Ergebnis für den Kläger führe.
6 Der bei Gegenüberstellung des um das zurückgezahlte Arbeitslosengeld von 3.774 EUR
verminderte zvE von 245.105 EUR zu den außerordentlichen Einkünften von 260.000 EUR
resultierende Negativbetrag von 14.895 EUR ergebe eine Steuer von 0 EUR. Addiere man
diesen Negativbetrag zu 1/5 des außerordentlichen Einkommens, nämlich den 52.000 EUR
hinzu, ergebe sich auf die Summe von 37.105 EUR eine Einkommensteuer von 8.187 EUR.
Die Steuer auf die außerordentlichen Einkünfte betrage demnach (8.187 EUR x 5 =)
40.935 EUR. Hieraus folge ein Steuersatz von 16,7010 % (40.935 EUR zu 245.105 EUR).
Diesen angelegt auf das zvE von 248.879 EUR ergebe eine tarifliche Einkommensteuer von
41.565 EUR und unter Abzug der vom FA zuerkannten Ermäßigung für
Handwerkerleistungen eine festzusetzende Einkommensteuer von 41.265 EUR.
7 Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuer 2008 unter Änderung des
Einkommensteuerbescheids in der Fassung vom 25. November 2010 auf 41.265 EUR
festzusetzen.
8 Das FA beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9 II. Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat die Berechnung der Einkommensteuer des
Klägers für das Streitjahr durch das FA zu Recht nicht beanstandet.
10 1. Die tarifliche Einkommensteuer bemisst sich nach dem zu versteuernden Einkommen,
vorbehaltlich u.a. der § 32b und § 34 EStG (§ 32a Abs. 1 Satz 1, Satz 2 1. Satzteil EStG).
Sind in dem zu versteuernden Einkommen außerordentliche Einkünfte enthalten, so ist
gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG die auf alle (im Veranlagungszeitraum bezogenen)
außerordentlichen Einkünfte (nicht nur auf die Einnahmen) entfallende Einkommensteuer
nach der sog. Fünftel-Regelung zu berechnen. Ist --wie im Streitfall-- das verbleibende zu
versteuernde Einkommen negativ und das zu versteuernde Einkommen positiv, so beträgt
die Einkommensteuer gemäß § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG das Fünffache der auf ein Fünftel des
zu versteuernden Einkommens entfallenden Einkommensteuer. Hat ein Steuerpflichtiger --
wie der Kläger-- Arbeitslosengeld bezogen, so ist auf das nach § 32a Abs. 1 zu versteuernde
Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden (§ 32b Abs. 1 Satz 1 EStG); das ist
gemäß § 32b Abs. 2 Satz 1 EStG der Steuersatz, der sich ergibt, wenn bei der Berechnung
der Einkommensteuer das nach § 32a Abs. 1 zu versteuernde Einkommen vermehrt oder
vermindert wird, und zwar um den Saldo --hier-- der Arbeitslosengeld-Leistungen in Höhe
von -3.374 EUR.
11 Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG und Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG sind
nebeneinander anwendbar (sog. integrierte Steuerberechnung, vgl. BFH-Urteile in BFHE
219, 313, BStBl II 2008, 375; vom 22. September 2009 IX R 93/07, BFHE 226, 510, BStBl II
2010, 1032, unter II.1.b aa, m.w.N.). Bei Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG muss sich wegen
seines Zwecks der Abmilderung der Progressionswirkung eine geringere Einkommensteuer
ergeben als bei einer Besteuerung der außerordentlichen Einkünfte nach § 32a Abs. 1 EStG;
das gilt erst recht, wenn die Tarifermäßigung mit einem negativen Progressionsvorbehalt
zusammentrifft (vgl. BFH-Urteil in BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375, unter II.4.b bb), weil
sich ein negativer Progressionsvorbehalt im Rahmen der Ermittlung des Steuerbetrags für
die außerordentlichen Einkünfte nach § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG notwendig
steuersatzmindernd auswirkt (vgl. BFH-Urteile vom 17. Januar 2008 VI R 44/07, BFHE 220,
269, BStBl II 2011, 21; vom 1. April 2009 IX R 87/07, BFH/NV 2009, 1787; in BFHE 226, 510,
BStBl II 2010, 1032).
12 2. Diesen Grundsätzen entspricht die Vorentscheidung; die Revision hat daher keinen
Erfolg. Die Berechnung des FA hat das FG (im Ergebnis) zutreffend für rechtens erachtet. Auf
die Hilfserwägung des FG, die aufgrund der nicht zweifelsfreien Annahme eines (zusätzlich)
als Arbeitslohn zugeflossenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 8.538 EUR zu einer höheren
Steuer geführt hätte, kommt es wegen des im gerichtlichen Verfahren geltenden
Verböserungsverbots --so auch das FG-- nicht an.
13 a) Das FA hat in Anlehnung an H 34.2 Beispiel 4 EStH und unter Beachtung der
vorstehenden Grundsätze die tarifliche Einkommensteuer für das Streitjahr gemäß § 32a
Abs. 1, § 32b Abs. 2, § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG zutreffend angesetzt. Dabei ist es von
Einkünften i.S. des § 34 Abs. 2 EStG in Höhe von 256.751 EUR, einem zvE in Höhe von
248.879 EUR und einem verbleibenden negativen zvE in Höhe von -7.872 EUR
ausgegangen. Auf dieser Basis hat es vom 1/5-zvE in Höhe von (248.879 EUR : 5 =)
49.775 EUR unter Abzug des Arbeitslosengeld-Saldos in Höhe von 3.374 EUR das
maßgebende verbleibende 1/5-zvE in Höhe von 46.401 EUR errechnet. Darauf ergibt sich
eine Einkommensteuer nach Grundtarif in Höhe von 11.649 EUR bei einem
(durchschnittlichen =) besonderen Steuersatz von 25,1051 %. Dieser angewandt auf das 1/5-
zvE (49.775 EUR) führt zu einer Einkommensteuer in Höhe von 12.496 EUR, multipliziert mit
fünf ergibt eine tarifliche Einkommensteuer in Höhe von 62.480 EUR.
14 b) Dieser Steuerbetrag trägt auch dem Günstigkeitsprinzip Rechnung, wie eine Berechnung
der anderen Fall-Varianten aufzeigt: nämlich eine Steuerberechnung ohne Tarifermäßigung
und ohne Progressionsvorbehalt (96.615 EUR), ohne Tarifermäßigung und mit negativem
Progressionsvorbehalt von 3.374 EUR (96.506 EUR), mit Tarifermäßigung und ohne
Progressionsvorbehalt (65.020 EUR) sowie mit Tarifermäßigung und ohne
Progressionsvorbehalt, aber mit negativen Einkünften von 3.374 EUR (FA: 63.700 EUR).
15 c) Die Berechnung des Klägers geht schon von unzutreffenden Annahmen aus; denn der
Saldo der Arbeitslosengeld-Leistungen beträgt nicht 3.774 EUR, sondern 3.374 EUR, und
die anzusetzenden Einkünfte i.S. des § 34 Abs. 2 EStG belaufen sich auf 256.751 EUR,
nicht auf die reinen Einnahmen in Höhe von 260.000 EUR. Auch ist kein sog.
Unterschiedsbetrag (i.S. von § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG) zu ermitteln, denn im Streitfall sind
nach den bindenden Feststellungen des FG die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 3
EStG (verbleibendes zvE negativ mit -7.872 EUR und zvE positiv mit 248.879 EUR)
gegeben. Zudem ist die Steuer auch nicht auf ein Fünftel der außerordentlichen Einkünfte
(wie in § 34 Abs. 1 Satz 2 a.E. EStG) zu ermitteln und in die Berechnung einzubeziehen,
sondern die auf ein Fünftel des zvE. Daher entspricht die Berechnung des Klägers nicht den
gesetzlichen Vorgaben.