Urteil des BFH vom 03.05.2010

Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs: Überraschungsentscheidung - Begründung - Verletzung der Sachaufklärungspflicht - Verfahrensaussetzung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 3.5.2010, VIII B 72/09
Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs: Überraschungsentscheidung - Begründung - Verletzung der Sachaufklärungspflicht
- Verfahrensaussetzung
Gründe
1
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet.
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1. Soweit die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit des
angefochtenen Urteils geltend machen, folgt daraus kein Zulassungsgrund. Einwände gegen die materielle Richtigkeit
des angefochtenen Urteils (hier etwa betreffend die Ausführungen zur Änderungsbefugnis nach § 165 Abs. 2 Satz 1
der Abgabenordnung) führen grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B.
Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. April 2003 VIII B 260/02, BFH/NV 2003, 1336; vom 23. Juni 2003
IX B 119/02, BFH/NV 2003, 1289).
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2. Das angefochtene Urteil leidet nicht unter den von den Klägern geltend gemachten Verfahrensmängeln (§ 115 Abs.
2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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a) Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße des Finanzgerichts (FG) gegen das
Gerichtsverfahrensrecht, nicht hingegen hier --auch-- gerügte Fehler des Beklagten und Beschwerdegegners
(Finanzamt) im Besteuerungsverfahren oder im außergerichtlichen Vorverfahren (Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 76, 77, m.w.N.).
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b) Das FG hat nicht gegen § 74 FGO verstoßen. Es war schon deshalb nicht gehalten, das Verfahren bis zum Erlass
des Urteils in einem Parallelverfahren (2 K 1386/08) auszusetzen, weil beide Verfahren beim selben Senat desselben
Gerichts anhängig waren (s. BFH-Beschluss vom 17. August 1995 XI B 123, 125/94, BFH/NV 1996, 219). Überdies
war die Entscheidung des Rechtsstreits in erster Instanz nicht i.S. von § 74 FGO "von dem Bestehen oder
Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses" abhängig, das Gegenstand des anderen Verfahrens war.
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c) Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO) nicht verletzt.
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf einen
rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen
Verfahren zur Sprache gekommen ist und mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst
unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens
nicht zu rechnen brauchte (BFH-Beschluss vom 7. Dezember 2005 I B 90/05, BFH/NV 2006, 601, m.w.N.; BFH-
Beschluss vom 2. Oktober 2007 IX B 24/07, BFH/NV 2008, 92). Nach diesen Grundsätzen war das angefochtene Urteil
nicht geeignet, die Kläger zu überraschen, denn der für die Entscheidung maßgebliche Gesichtspunkt fehlender
Gewinnerzielungsabsicht war bereits Gegenstand der Einspruchsentscheidung wie auch von Schriftsätzen der
Beteiligten im Klageverfahren. Ein Urteil ist nicht deshalb Überraschungsentscheidung im Rechtssinne, weil es nicht
den Erwartungen oder Hoffnungen eines Beteiligten entspricht.
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bb) Das FG hat auch im Übrigen nicht gegen den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen.
Der Anspruch umfasst in erster Linie das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen und --gegebenenfalls-- Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher
Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 10a, m.w.N.). Dem entspricht
die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung
zu ziehen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der
Beteiligten auch tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Es ist hingegen nicht verpflichtet, die maßgebenden
rechtlichen Gesichtspunkte vor der Entscheidung umfassend zu erörtern oder die einzelnen für die Entscheidung
erheblichen Gesichtspunkte im Voraus zu benennen (Gräber/ Ruban, a.a.O., § 119 Rz 10a, m.w.N.).
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Dass die Kläger am tatsächlichen oder rechtlichen Vortrag im Laufe des Verfahrens und insbesondere während der
mündlichen Verhandlung gehindert gewesen wären, wird nicht vorgetragen und ist nicht ersichtlich. Dass die
mündliche Verhandlung bei weiterhin streitigem Verfahrensstand von den Klägern als "harmonisch" empfunden
wurde, heißt nicht, dass das FG ihnen die Klagestattgabe als sicher in Aussicht gestellt und sie und ihren
fachkundigen Vertreter dadurch von weiterem Vortrag abgehalten hätte.
10 cc) Wegen der streitigen Gewinnerzielungsabsicht hätte es den Klägern oblegen, die insoweit zur Begründung ihrer
Klage dienenden Tatsachen und Umstände vorzutragen und gegebenenfalls geeignete Beweismittel zu benennen.
Zur Klagebegründung waren sie mit der gerichtlichen Eingangsverfügung aufgefordert worden, außerdem durch
weitere Verfügung vom 4. Dezember 2007 unter Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO zur Angabe der Tatsachen,
durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sie sich beschwert fühlten. Das
FG war nicht gehalten, zur Gewährung rechtlichen Gehörs die der Klagebegründung dienenden Tatsachen näher zu
konkretisieren und eine diesbezügliche weitere Frist nach § 79b FGO zu setzen, zumal die Kläger auf die Frage der
Gewinnerzielungsabsicht überhaupt erst mit einem zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung an das FG
übermittelten Schriftsatz eingegangen sind.
11 d) Ein Verstoß des FG gegen die Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) liegt ersichtlich nicht vor. Das FG
hat den Sachverhalt erschöpfend ausgewertet, ohne dabei gegen den klaren Inhalt der Akten zu verstoßen. Der
Schriftsatz der Kläger vom 23. Februar 2009 gab --auch im Hinblick auf die Konzentrationsmaxime (§ 79 Abs. 1 Satz 1
FGO)-- keinen zwingenden Anlass zu weiterer Sachaufklärung, zumal die Kläger dort weder Beweisanträge gestellt
noch Beweismittel benannt haben, wozu im Falle von möglichen Zeugen die Angabe der ladungsfähigen Anschriften
gehört hätte.
12 Ohnehin ist die Rüge unzureichender Sachverhaltsermittlung im Streitfall ausgeschlossen. Derjenige Beteiligte, der in
der mündlichen Verhandlung keine Beweisanträge stellt und die aus seiner Sicht mangelnde Sachaufklärung durch
das Gericht in der mündlichen Verhandlung nicht rügt, übt einen sog. Rügeverzicht (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der
Zivilprozessordnung) aus und kann sich nach ständiger Rechtsprechung nicht auf die Verletzung der
Aufklärungspflicht berufen (s. etwa Beschluss des beschließenden Senats vom 6. September 2006 VIII B 187/05,
BFH/NV 2007, 74; Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 33, m.w.N.). Was die Frage der Gewinnerzielungsabsicht
angeht, haben die Kläger weder einen Beweisantrag gestellt noch mangelnde Sachaufklärung gerügt. Der in der
mündlichen Verhandlung zu mehreren zur Verhandlung miteinander verbundenen Verfahren gestellte Beweisantrag
bezog sich nicht auf die für den Streitfall maßgebliche Frage der Gewinnerzielungsabsicht, sondern nur auf
nachrangige Fragen, die für das vorliegende Verfahren nicht entscheidungserheblich waren.
13 3. Dem Verfahrensantrag, das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des Senats im Parallelverfahren VIII B
71/09 auszusetzen, war nicht zu entsprechen (vgl. die Ausführungen in diesem Beschluss zu 2.b).