Urteil des BFH vom 31.01.2008

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BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 31.1.2008, VIII B 253/05
Klärungsbedarf bei einer höchstrichterlich bereits entschiedenen Rechtsfrage - Erlass von Nachzahlungszinsen wegen
sachlicher Unbilligkeit oder Verwirkung des Zinsanspruchs, wenn das FA die Auswertung von Betriebsprüfungsberichten
erheblich verzögert hat
Gründe
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Die Beschwerde ist unzulässig. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben die behaupteten Gründe für die
Zulassung der Revision nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt.
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Soweit die Beschwerde von der Klägerin eingelegt wurde, ist sie auch deshalb unzulässig, weil das Finanzgericht
(FG) ihre Klage wegen Fehlens der Sachentscheidungsvoraussetzung des § 44 FGO als unzulässig abgewiesen hat;
insoweit haben die Kläger keinen Zulassungsgrund gegen das Urteil des FG vorgetragen.
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1. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache; Rechtsfortbildung
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a) Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache verlangt substantiierte Ausführungen
insbesondere zur Klärungsbedürftigkeit einer hinreichend bestimmten Rechtsfrage, die im konkreten Streitfall
voraussichtlich auch geklärt werden kann und deren Beurteilung von der Klärung einer zweifelhaften oder
umstrittenen Rechtslage abhängig ist. Hierzu muss sich die Beschwerde insbesondere mit den in der Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs (BFH) und in der Literatur vertretenen Auffassungen zu der aufgeworfenen Rechtsfrage
auseinandersetzen. Hat der BFH bereits früher einmal über die Rechtsfrage entschieden, muss sich der
Beschwerdeführer mit dieser Rechtsprechung auseinandersetzen und substantiiert begründen, weshalb er gleichwohl
eine erneute Entscheidung des BFH zu dieser Frage im Interesse der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung für
erforderlich hält (BFH-Beschluss vom 20. Juni 2007 X B 116/06, BFH/NV 2007, 1705). Darüber hinaus ist auf die
Bedeutung einer höchstrichterlichen Entscheidung über die konkrete Rechtsfrage für die Allgemeinheit einzugehen
(BFH-Beschluss vom 2. September 2003 X S 2/03 (PKH), BFH/NV 2004, 342). Allein das Fehlen einer Entscheidung
des BFH zu der konkreten Fallgestaltung begründet weder einen Klärungsbedarf noch das erforderliche
Allgemeininteresse. Diese Voraussetzungen für eine den Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO genügende
Beschwerdebegründung gelten auch für den Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO (Fortbildung
des Rechts), da es sich hierbei um einen Unterfall des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung handelt
(BFH-Beschluss vom 31. Mai 2005 I B 186/04, BFH/NV 2005, 1620).
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b) Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
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aa) Die Kläger haben die Klärungsbedürftigkeit der von ihnen für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Rechtsfrage,
ob die Festsetzung von Nachzahlungszinsen auch dann rechtmäßig ist, wenn der Steuerpflichtige keine
Liquiditätsvorteile gehabt hat, weil die nacherhobene Steuer bei rechtlich zutreffender Beurteilung nicht hätte
festgesetzt werden dürfen und deshalb von ihm tatsächlich nicht geschuldet sei, nicht schlüssig dargelegt. Hierfür
hätten sie sich insbesondere mit der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Beschluss vom 3. Mai 2000 II B 124/99,
BFH/NV 2000, 1441) auseinandersetzen müssen, nach der der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von
Nachzahlungszinsen auch dann nicht entgegensteht, wenn dem Finanzamt bei der Bearbeitung der Steuererklärung
Fehler unterlaufen sind. Entgegen der Ansicht der Kläger sind in einem die Rechtmäßigkeit eines Zinsbescheids i.S.
von § 233a der Abgabenordnung (AO) betreffenden Verfahren auch die zum Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen
(§§ 163, 227 AO) ergangenen BFH-Entscheidungen bedeutsam, weil die dort maßgebliche Frage der atypischen
Fallgestaltung oder des Wertungswiderspruchs im Einzelfall nicht ohne Rückgriff auf den generellen Gesetzeszweck
beantwortet werden kann (BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505). Die Kläger hätten
sich deshalb auch im Rahmen ihrer gegen die Entscheidung des FG zur Zinsfestsetzung gerichteten
Nichtzulassungsbeschwerde mit der Rechtsprechung auseinandersetzen müssen, nach der eine mit Unrichtigkeit der
Steuerfestsetzung begründete sachliche Unbilligkeit der Zinsfestsetzung nur dann angenommen werden kann, wenn
die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht
zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheids rechtzeitig zu wehren (vgl. dazu BFH-Beschlüsse
vom 30. September 1996 X B 131/96, BFH/NV 1997, 326; vom 5. Juni 2003 V B 59/02, BFH/NV 2003, 1531, m.w.N.;
vom 7. Mai 2007 X B 222/06, juris). Die Kläger haben insoweit lediglich vorgetragen, sie hätten der --nach ihrer
Ansicht fehlerhaften-- Herabsetzung des Teilpraxiswerts durch die Betriebsprüferin nur deshalb nicht widersprochen,
weil sie die Außenprüfung nicht länger hinauszögern wollten. Damit ist aber die Unzumutbarkeit eines Einspruchs
gegen die im Anschluss an die Außenprüfung erlassenen Bescheide nicht schlüssig dargetan.
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Eine grundsätzliche Bedeutung der streitigen Rechtsfrage ergibt sich auch nicht daraus, dass der Beklagte und
Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) die Auswertung der Prüfungsberichte und die Bearbeitung der
eingereichten Steuererklärungen für die Folgejahre 1997 bis 1999 zum Teil erheblich verzögert hat.
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Hierfür hätten die Kläger sich mit der umfangreichen Rechtsprechung des BFH und den Äußerungen in der Literatur
zur Verwirkung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auseinandersetzen müssen (vgl. dazu die
Nachweise bei Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO, Rz 169 ff.). Das ist nicht
geschehen.
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bb) Auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage, ob sich der Fiskus im Rahmen der Ermessensentscheidung
über einen Billigkeitserlass von Nachzahlungszinsen Vorteile anrechnen lassen müsse, die er aufgrund einer
rechtswidrigen Steuerfestsetzung erlangt habe und die der Höhe nach auf eine Nichtbearbeitung während mehrerer
Jahre zurückzuführen seien, ist nicht ausreichend dargelegt. Hängt die Beurteilung eines Steuerfalls wesentlich von
den Umständen des Einzelfalls ab, wie dies bei einem Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen der Fall ist, bedarf es
besonderer Darlegungen, weshalb der Rechtsfrage ausnahmsweise eine über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung zukommen soll, weil insoweit allgemeine abstrakte Grundsätze durch den BFH aufzustellen sind (vgl. BFH-
Beschlüsse vom 2. August 2006 I B 135/05, juris; ferner vom 24. Juli 2002 VI B 205/99, BFH/NV 2002, 1603, m.w.N.).
Mit dem Vorbringen, der BFH erhalte durch die Zulassung der Revision Gelegenheit darüber zu entscheiden, bis zu
welcher zeitlichen Grenze die Nichtbearbeitung einer Steuererklärung noch hingenommen werden könne, ist ein
solcher Ausnahmefall nicht dargetan, weil eine für alle Steuerfälle geltende zeitliche Grenze, nach deren
Überschreiten die Festsetzung von Nachforderungszinsen sachlich unbillig ist oder dem Grundsatz von Treu und
Glauben widerspricht, nicht bestimmt werden kann.
10 Im Übrigen haben sich die Kläger auch nicht mit der Rechtsprechung des FG Hamburg (Urteil vom 18. September
2002 II 283/01, juris) auseinandergesetzt, das den Erlass von Nachzahlungszinsen in einem Fall abgelehnt hat, in
dem zwischen dem Eingang der Steuererklärung beim Finanzamt und der Bekanntgabe des Steuerbescheids ein
Zeitraum von 37 Monaten lag. Die gegen dieses Urteil gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg (vgl.
BFH-Beschluss vom 2. August 2004 IV B 194/02, juris).
11 2. Sicherung der Rechtseinheit
12 Die Revision ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Zu diesem Zweck kann zwar
eine Entscheidung des BFH erforderlich sein, wenn das angefochtene Urteil von anderen Gerichtsentscheidungen
abweicht. Die von den Klägern gerügte Divergenz ist jedoch nicht schlüssig dargetan.
13 Macht der Kläger geltend, das FG sei von Entscheidungen des BFH abgewichen, müssen tragende abstrakte
Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und den behaupteten Divergenzentscheidungen
andererseits so genau bezeichnet und einander gegenübergestellt werden, dass eine Abweichung erkennbar wird.
Für eine schlüssige Divergenzrüge reichen weder eine Abweichung in der Würdigung von Tatsachen noch die
fehlerhafte Umsetzung von Grundsätzen der Rechtsprechung des BFH auf die Besonderheiten des Einzelfalls aus
(BFH-Beschluss vom 20. Januar 2003 IX B 94/02, BFH/NV 2003, 617, m.w.N.). Ferner muss es sich um einen
vergleichbaren Sachverhalt und eine identische Rechtsfrage handeln.
14 Die Kläger haben in der Beschwerdebegründung zwar vorgetragen, das FG habe in den Urteilsgründen den
abstrakten Rechtssatz aufgestellt, Aspekte der Verfahrensdauer wie das Verschulden der Verzögerung könnten in
keinem Fall einen Erlass der Nachzahlungszinsen rechtfertigen. Sie haben aber keinen hiervon abweichenden
Rechtssatz in der angeführten Entscheidung des BFH in BFH/NV 2000, 1441 herausgearbeitet. Die Kläger tragen
selbst vor, das BFH-Urteil befasse sich nicht mit der Frage des Erlasses von Zinsansprüchen, sondern mit der
Rechtmäßigkeit einer Zinsfestsetzung. Im Ergebnis rügen sie daher mit ihrem Vorbringen, das FG habe sich bei seiner
Entscheidung über die Frage eines Erlasses der Nachzahlungszinsen zu Unrecht auf das BFH-Urteil in BFH/NV 2000,
1441 gestützt, eine unzutreffende Rechtsanwendung des FG im Einzelfall. Damit kann die Zulassung der Revision
jedoch nicht begehrt werden (BFH-Beschluss vom 12. März 2002 VIII B 2/01, BFH/NV 2002, 1273).
15 3. Verfahrensfehler
16 Die Kläger haben keinen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO schlüssig bezeichnet (§ 116 Abs. 3 Satz 3
FGO).
17 Die Kläger rügen, das FG habe sich mit ihrem wesentlichen Einwand gegen die Zinsfestsetzung, nämlich der
Verwirkung des Zinsanspruchs, nicht oder jedenfalls nicht ausreichend auseinandergesetzt; es habe sich auch nicht
mit dem von ihnen geltend gemachten Verstoß gegen Treu und Glauben befasst. Auch habe es nicht hinreichend
differenziert zwischen der Frage der Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzungen (insbesondere der Verwirkung) und der
des Erlasses der Zinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen.
18 Mit diesem Vorbringen rügen die Kläger der Sache nach eine Verletzung des Rechts auf Gehör (§ 96 Abs. 2, § 119 Nr.
3 FGO). Diese Rüge ist jedoch nicht schlüssig erhoben. Denn das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs
verpflichtet das Gericht nicht, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Urteilsgründen ausdrücklich
auseinanderzusetzen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26. April 1995 I B 166/94, BFHE 177, 451, BStBl II 1995, 532; vom 2.
Februar 2006 VII B 160/05, BFH/NV 2006, 1048). Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das
wesentliche Vorbringen der Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zur Kenntnis genommen und in
Erwägung gezogen hat. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist erst dann gegeben, wenn im
Einzelfall aus den Urteilsgründen deutlich erkennbar ist, dass das Gericht wesentliche Ausführungen eines Beteiligten
entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung
gezogen hat. Einen solchen Verstoß behaupten die Kläger jedoch selbst nicht, wenn sie rügen, das FG habe sich
nicht ausreichend ("nur rudimentär") mit ihren Einwendungen gegen die Zinsfestsetzung auseinandergesetzt und in
der Begründung nicht hinreichend differenziert zwischen der Frage der Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung und der
des Erlasses aus sachlichen Billigkeitsgründen. Im Übrigen ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils,
dass sich das FG der Sache nach sowohl mit dem von den Klägern geltend gemachten Verstoß gegen Treu und
Glauben (S. 11 ff. des FG-Urteils unter II. der Entscheidungsgründe) als auch mit der Frage der Verwirkung wegen
überlanger Bearbeitungsdauer (S. 12 f. des FG-Urteils unter II. der Entscheidungsgründe) befasst hat.