Urteil des BFH vom 06.05.2008

Zoll: Nichtpräferenzieller Warenursprung - Ursprungsbegründende Bearbeitung oder Verarbeitung

BUNDESFINANZHOF Entscheidung vom 6.5.2008, VII R 18/07
Nichtpräferenzieller Ursprung - Ursprungsbegründende Bearbeitung oder Verarbeitung - Wechsel in eine andere
Tarifposition - Keine Bindung an Listenregeln der Kommission
Leitsätze
Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind den nichtpräferenziellen Ursprung begründende wesentliche Bearbeitungen oder Verarbeitungen von Waren der Pos.
7312 KN nur solche, die zur Folge haben, dass das aus der Bearbeitung oder Verarbeitung hervorgegangene Erzeugnis in
eine andere Position der KN einzureihen ist?
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte im Mai 2005 die Erteilung verbindlicher
Ursprungsauskünfte (vUA) für verschiedene Arten von Stahlseilen, die in der Demokratischen Volksrepublik Korea
(Nordkorea) aus Litzen mit Ursprung in der Volksrepublik China (China) hergestellt werden. Die Beklagte und
Revisionsklägerin (die Bundesfinanzdirektion --BFD--, seinerzeit Oberfinanzdirektion) erteilte unter dem 11. Januar
2006 fünf vUA, mit denen China als Ursprungsland der Stahlseile erklärt wurde. In Nordkorea finde eine wesentliche
Be- oder Verarbeitung der Litzen nicht statt, denn diese seien nicht in eine andere Position der Kombinierten
Nomenklatur (KN) in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche
und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG--
Nr. L 256, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1719/2005 der Kommission vom 27. Oktober 2005 (Amtsblatt der
Europäischen Union Nr. L 286, S. 1) geänderten Fassung einzureihen als die aus ihnen hergestellten Stahlseile.
2 Auf die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hob das Finanzgericht (FG) aus den in der Zeitschrift für Zölle und
Verbrauchsteuern (ZfZ) 2008, Beilage 1, S. 3 veröffentlichten Gründen die angefochtenen vUA auf und verpflichtete die
BFD, vUA des Inhalts zu erteilen, dass die Stahlseile ihren nichtpräferenziellen Ursprung in Nordkorea haben. Das FG
urteilte, dass die gemäß Art. 24 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung
des Zollkodex der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 302, S. 1) für die Begründung des Ursprungs maßgebliche
wesentliche Be- oder Verarbeitung der Litzen in Nordkorea stattfinde. Die Stahlseile würden in Nordkorea in einem
dazu eingerichteten Unternehmen hergestellt, was einen nicht unerheblichen maschinellen Aufwand erfordere, der
über eine bloße Minimalbehandlung hinausgehe. Durch das Zusammendrehen der Litzen auf den Maschinen
entstünden neue Waren mit im Vergleich zu den Vorprodukten anderen Eigenschaften. Die fertigen Stahlseile wiesen
eine höhere Tragfähigkeit als die Litzen auf und seien daher geeignet, unmittelbar ihrem spezifischen
Verwendungszweck entsprechend eingesetzt zu werden. Die von der BFD herangezogenen sog. Listenregeln der
Kommission, denen zufolge für eine ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung von Waren der Pos. 7312 KN allein
der Wechsel der Tarifposition maßgeblich sei, seien mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) nicht zu vereinbaren und seien auch kein verbindlicher Rechtsakt der Gemeinschaft.
Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Herstellung der Stahlseile in Nordkorea i.S. des Art. 25 der Verordnung Nr.
2913/92 nur die Umgehung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen betreffend bestimmte Länder bezwecke, seien
weder seitens der BFD vorgetragen noch ersichtlich.
3 Mit ihrer Revision macht die BFD geltend, dass die Listenregeln zwar keine unmittelbare Rechtswirkung hätten, dass
sie aber eine bestimmte Auslegung des Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92 für verschiedene Waren vorgäben, so wie
es im Bereich des Zolltarifs durch die Erläuterungen zur KN geschehe.
Entscheidungsgründe
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II. Der Senat setzt das Verfahren aus (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung) und legt dem EuGH gemäß
Art. 234 Abs. 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) die im Tenor bezeichnete Frage zur
Vorabentscheidung vor, weil die Auslegung der für die Entscheidung des Streitfalls maßgeblichen Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts Zweifelsfragen aufwirft.
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1. Da nach den Feststellungen des FG an der Herstellung der Stahlseile zwei Länder, nämlich China und Nordkorea,
beteiligt sind, beurteilt sich ihr Ursprung nach Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92. Nach dieser Vorschrift ist eine
derartige Ware Ursprungsware des Landes, in dem sie der letzten wesentlichen und wirtschaftlich gerechtfertigten Be-
oder Verarbeitung unterzogen worden ist, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen worden ist
und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.
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Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92 greift den Wortlaut von Art. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 802/68 des Rates vom 27.
Juni 1968 über die gemeinsame Begriffsbestimmung für den Warenursprung (ABlEG Nr. L 148, S. 1) auf, die vor
Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2913/92 galt. In Auslegung dieser Verordnung hat der EuGH entschieden, dass die
Bestimmung des Warenursprungs auf einer objektiven und tatsächlich feststellbaren Unterscheidung zwischen dem
Ausgangserzeugnis und dem aus der Verarbeitung hervorgegangenen Erzeugnis beruhen muss, wobei wesentlich
auf die spezifischen Beschaffenheitsmerkmale eines jeden dieser Erzeugnisse abzustellen ist; die Be- oder
Verarbeitung muss eine erhebliche qualitative Veränderung des Ausgangserzeugnisses dergestalt bewirkt haben,
dass das aus ihm hervorgegangene Erzeugnis besondere Eigenschaften besitzt und von einer Beschaffenheit ist, die
es vor der Be- oder Verarbeitung nicht hatte (EuGH-Urteile vom 26. Januar 1977 49/76, Slg. 1977, 41; vom 23.
Februar 1984 93/83, Slg. 1984, 1095).
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2. Unter Zugrundelegung dieser vom EuGH für maßgeblich gehaltenen Gesichtspunkte hat das FG erkannt, dass die
streitigen Stahlseile ihren Ursprung in Nordkorea haben, obgleich sowohl die Litzen als Ausgangserzeugnisse als
auch die Stahlseile als die aus der Verarbeitung hervorgegangenen Erzeugnisse von derselben Tarifposition, nämlich
Pos. 7312 KN, erfasst werden.
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Nach den Feststellungen des FG ist das Verseilen der aus China stammenden Stahllitzen wirtschaftlich gerechtfertigt,
weil es für die industrielle Verwendung der aus der Verarbeitung hervorgehenden Erzeugnisse erforderlich ist, und es
findet in Nordkorea in einem dazu eingerichteten Unternehmen statt. Das Verseilen der Litzen erfordert einen nicht
unerheblichen maschinellen Aufwand, weshalb keine bloße Minimalbehandlung vorliegt, und führt zum Entstehen
neuer Waren mit im Vergleich zum Ausgangserzeugnis anderen Eigenschaften, weil die Stahlseile eine höhere
Tragfähigkeit als die Litzen aufweisen und daher geeignet sind, entsprechend ihrem spezifischen Verwendungszweck
unmittelbar eingesetzt zu werden. All dies ist zwischen den Beteiligten nicht im Streit.
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Die aufgrund der festgestellten Tatsachen vorgenommene Würdigung des FG, dass die Stahlseile in Nordkorea ihrer
letzten wesentlichen Verarbeitung unterzogen worden sind, steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH,
derzufolge die Frage, welcher Teil des Herstellungsvorgangs als ursprungsbegründend anzusehen ist, in erster Linie
anhand technischer Kriterien zu beantworten ist (vgl. EuGH-Urteil vom 8. März 2007 C-447, 448/05, Slg. 2007, I-2049,
ZfZ 2007, 100). Selbst wenn es als zweifelhaft anzusehen sein sollte, ob die Verarbeitung der Litzen zu einem neuen
Erzeugnis geführt hat, wird doch von einer in Nordkorea erreichten bedeutenden Herstellungsstufe für die Stahlseile
gesprochen werden können.
10 3. Auch die Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der
Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 253, S. 1)
enthält keine Vorschriften, welche für Waren der vorliegenden Art die ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung
von weiteren Voraussetzungen wie zum Beispiel dem durch sie bewirkten Wechsel in eine andere Tarifposition
abhängig machen. Für andere Waren als Spinnstoffe und Waren daraus des Abschn. XI KN gelten gemäß Art. 39 der
Verordnung Nr. 2454/93 als ursprungsbegründend die in Spalte 3 des Anhangs 11 der Verordnung Nr. 2454/93
aufgeführten Be- oder Verarbeitungen. Zur Pos. 7312 KN gehörende Waren werden von Anhang 11 der Verordnung
Nr. 2454/93 jedoch nicht erfasst.
11 Art. 37 der Verordnung Nr. 2454/93, der (mit zahlreichen Ausnahmen) für als ursprungsbegründend geltende (Art. 36
der Verordnung Nr. 2454/93) "vollständige Be- oder Verarbeitungen" vorschreibt, dass diese den Wechsel in eine
andere Position der KN zur Folge haben müssen, gilt nur für Spinnstoffe und Waren daraus des Abschn. XI KN. Seine
entsprechende Anwendung auf Waren anderer Art kommt nicht in Betracht, weil nicht angenommen werden kann,
dass für Waren anderer Art insoweit eine vom Gemeinschaftsgesetzgeber nicht gewollte Regelungslücke besteht.
12 4. Der Rechtsprechung des EuGH lassen sich ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine Be- oder
Verarbeitung einen Wechsel der Tarifposition zur Folge haben muss, um ursprungsbegründend zu sein. Der EuGH
hat vielmehr in dem Urteil in Slg. 1977, 41 ausgeführt, dass es nicht genüge, die Kriterien für die Bestimmung des
Warenursprungs der tariflichen Einordnung der verarbeiteten Erzeugnisse zu entnehmen, weil der Zolltarif für eigene
Zwecke und nicht für die Bestimmung des Warenursprungs geschaffen worden sei. Soweit der EuGH in den Urteilen
vom 17. Oktober 2000 C-114/99 (Slg. 2000, I-8823) und vom 15. Mai 2003 C-282/00 (Slg. 2003, I-4741) hinsichtlich
der Verarbeitung von Erzeugnissen den Wechsel in eine andere Tarifposition mitberücksichtigt hat, geschah dies in
einem anderen Zusammenhang als dem nichtpräferenziellen Ursprung bzw. war ersichtlich nur ein Hilfsargument, um
die bereits aufgrund anderer Kriterien bejahte ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung zusätzlich zu
rechtfertigen.
13 5. Bei den nur über das Internet und allein in englischer Sprache zu findenden sog. Listenregeln der Kommission,
denen zufolge bei Waren der Pos. 7312 KN die ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung einen Wechsel der
Tarifposition zur Folge haben muss, handelt es sich nicht um eine gemäß Art. 249 Abs. 2 EG verbindliche und in den
Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Verordnung oder um eine gemäß Art. 249 Abs. 3 EG für die Mitgliedstaaten
verbindliche Richtlinie, was keiner weiteren Erörterung bedarf und zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit ist.
Wie dem im finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegten Dokument vom 5. April 2006 TAXUD/1406/2006-DE "Art und
Rechtswirkung von Leitlinien" zu entnehmen ist, beansprucht auch die Kommission keine Rechtswirkung für die von
ihr erarbeiteten Erläuterungen und Leitlinien, sondern sieht sie als Hilfsmittel für eine einheitliche Auslegung des
Gemeinschaftsrechts an und als Ersatz für nationale Anweisungen in dem jeweiligen Bereich. Offenbleiben kann
dabei die in der Literatur diskutierte Frage, ob derartige Leitlinien der Kommission als Empfehlungen oder als an die
nationalen Zollverwaltungen gerichtete Verwaltungsvorschriften anzusehen sind, weil Empfehlungen nach Art. 249
Abs. 5 EG nicht verbindlich sind und Verwaltungsvorschriften jedenfalls die Gerichte nicht binden.
14 6. Allerdings sind die Listenregeln der Kommission, auch wenn sie die Gerichte bei der Anwendung des Art. 24 der
Verordnung Nr. 2913/92 auf den Einzelfall nicht binden, bei der Entscheidungsfindung gleichwohl zu berücksichtigen
(vgl. EuGH-Urteile vom 13. Dezember 1989 C-322/88, Slg. 1989, 4407, und vom 21. Januar 1993 C-188/91, Slg.
1993, I-363). Es handelt sich bei den Listenregeln um die Auslegung abstrakter Rechtsbegriffe durch ein
Gemeinschaftsorgan, welches am Gesetzgebungsverfahren beteiligt und vom Rat beauftragt ist, die zur Durchführung
des Zollkodex erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb können die Listenregeln in ähnlicher Weise, wie es
der EuGH in ständiger Rechtsprechung in Bezug auf die Erläuterungen zur KN formuliert, als ein wichtiges
Erkenntnismittel für die Auslegung des Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92 angesehen werden. Wenn also --wie im
Streitfall-- die Kommission für Waren einer bestimmten Tarifposition --in Abweichung von den nach der
Rechtsprechung des EuGH maßgebenden Kriterien-- die Ansicht vertritt, dass die Be- oder Verarbeitung solcher
Waren nur dann ursprungsbegründend ist, wenn die aus der Be- oder Verarbeitung hervorgegangenen Erzeugnisse
in eine andere Position als die Vormaterialien einzuordnen sind, so rechtfertigt dies die Anrufung des EuGH.