Urteil des BFH vom 29.10.2008

Lebensmittelpunkt bei doppelter Haushaltsführung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 2.12.2009, VI B 124/08
Lebensmittelpunkt bei doppelter Haushaltsführung
Tatbestand
1 I. Streitig ist die einkommensteuerliche Anerkennung von Kosten einer doppelten Haushaltsführung als
Werbungskosten.
2 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wohnt seit seiner Geburt im Jahr 1966 in X. Seit dem 1. August 1991 geht er
--unterbrochen durch kurze Zeiten der Erwerbslosigkeit-- in Z und Umgebung verschiedenen beruflichen Tätigkeiten
nach. Seit 1. August 2001 ist er bei der Stadt Z im gehobenen nichttechnischen Dienst beschäftigt. In Z und Umgebung
unterhält der Kläger seit dem 15. März 1992 wechselnde Wohnsitze.
3 Der Kläger machte in seinen Einkommensteuererklärungen für die Jahre 2000 bis 2005 Mehraufwendungen für die am
Beschäftigungsort unterhaltene Wohnung sowie Fahrten zwischen Z und X im Rahmen einer doppelten
Haushaltsführung als Werbungskosten geltend.
4 Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) ließ die Kosten unberücksichtigt. Im Klageverfahren berief sich
der Kläger darauf, dass sich sein Lebensmittelpunkt in den Streitjahren in X und nicht am Beschäftigungsort in Z
befunden habe. Der Kläger hat für diese Behauptung mit Schriftsätzen vom 25. Juli, 31. August und 25. Oktober 2006
Beweis angeboten durch Vernehmung seiner Lebensgefährtin, die mit ihm zusammen in X wohnt. Auf mündliche
Verhandlung wurde verzichtet.
5 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit Urteil vom 29. Oktober 2008 2 K 889/06 ab. Bei einem ledigen Arbeitnehmer
spreche, je länger die Auswärtstätigkeit dauere, immer mehr dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen an den
Beschäftigungsort verlagert wurde und die Heimatwohnung nur noch für Besuchszwecke vorgehalten werde. Aus den
Gesamtumständen ergäbe sich, dass der Lebensmittelpunkt sich in Z und nicht in X befunden habe. Das FG würdigte
dabei, dass nach den Daten der Einwohnermeldeämter zumindest zeitweise der Hauptwohnsitz in Z bzw. A gemeldet
gewesen, der Wohnsitz in Z bzw. A auch während der Zeiten ohne Beschäftigung aufrechterhalten worden und in der 2-
Zimmer-Wohnung in Z bzw. A das Raumangebot im Ergebnis größer gewesen sei, da der Kläger die 2-Zimmer-
Wohnung in X gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin bewohnte. In Anbetracht dieser Gesichtspunkte sei es für eine
Begründung des Lebensmittelpunktes in X nicht hinreichend, dass der Kläger dort seine Lebensgefährtin habe und
diese am Wochenende regelmäßig besuche. Das FG unterließ eine Vernehmung der Lebensgefährtin, da es die
Anzahl der Fahrten nach X als wahr unterstellte.
6 Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine unzureichende Sachaufklärung und insbesondere eine trotz
mehrfachen Beweisantritts unterbliebene Beweiserhebung dazu, dass der Lebensmittelpunkt des Klägers in X
gewesen sei. Die Zeugenaussage hätte bestätigt, dass sich der Lebensmittelpunkt des Klägers in X befunden habe.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3
der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das angefochtene finanzgerichtliche Urteil wird gemäß § 116 Abs. 6 FGO
aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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1. Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und damit gegen § 76 Abs. 1
Satz 1 FGO verstoßen.
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a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und gemäß § 81 Abs. 1
Satz 2 FGO die erforderlichen Beweise zu erheben. Dabei hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt so
vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel
aufzuklären. Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen
Verfahrensmangel vermeiden will (vgl. auch Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Dezember 2005 I B
249/04, BFH/NV 2006, 780). Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das
Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des
Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das
Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsentscheidungen vom 13.
November 2007 VI B 100/07, BFH/NV 2008, 219; vom 1. Februar 2007 VI B 124/06, BFH/NV 2007, 956; vom 16.
November 2005 VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753; jeweils m.w.N.). Ferner ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten
Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. August 2006 IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; vom 2.
März 2006 XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; vom 10. März 2005 X B 66/04, BFH/NV 2005, 1339; BFH-Urteil vom 21.
Juni 1988 VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841).
10 b) Nach diesem Rechtsmaßstab hätte das FG den schriftsätzlich mehrfach angebotenen Zeugenbeweis zu der Frage
erheben müssen, ob der Kläger seinen Lebensmittelpunkt noch in X hatte.
11 aa) Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes vor,
wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch
am Beschäftigungsort wohnt. Zwischen dem Wohnen in einer Zweitwohnung am Beschäftigungsort und dem
Unterhalten eines eigenen Hausstandes außerhalb dieses Ortes ist zu unterscheiden. Mit dem "Hausstand" ist der
Ersthaushalt (Hauptwohnung) umschrieben, an dem sich der Arbeitnehmer --abgesehen von den Zeiten der
Arbeitstätigkeit und ggf. Urlaubsfahrten-- regelmäßig aufhält, den er fortwährend nutzt und von dem aus er sein
Privatleben führt, also seinen Lebensmittelpunkt hat. Das Vorhalten einer Wohnung außerhalb des
Beschäftigungsortes für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist dagegen nicht als Unterhalten eines
Hausstandes zu werten.
12 bb) Ob die außerhalb des Beschäftigungsortes liegende Wohnung des Arbeitnehmers als dessen Lebensmittelpunkt
anzusehen ist und deshalb seinen Hausstand darstellt, ist anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des
Einzelfalls festzustellen (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile vom 22. Februar 2001 VI R 192/97, BFH/NV
2001, 1111; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380, BStBl II 2007, 820; jeweils m.w.N.). Bei nicht
verheirateten Arbeitnehmern spricht, je länger die Auswärtstätigkeit dauert, immer mehr dafür, dass die eigentliche
Haushaltsführung und auch der Mittelpunkt der Lebensinteressen an den Beschäftigungsort verlegt wurden und die
Heimatwohnung nur noch für Besuchszwecke vorgehalten wird (vgl. BFH-Urteil vom 10. Februar 2000 VI R 60/98,
BFH/NV 2000, 949). Eine besondere Prüfung, ob der Lebensmittelpunkt gewechselt hat, ist daher angezeigt. Indizien
können sein, wie oft und wie lange sich der Arbeitnehmer in der einen und der anderen Wohnung aufhält, wie beide
Wohnungen ausgestattet und wie groß sie sind. Von Bedeutung sind auch die Dauer des Aufenthalts am
Beschäftigungsort, die Entfernung beider Wohnungen sowie die Zahl der Heimfahrten. Erhebliches Gewicht hat ferner
der Umstand, wo sich Bezugspersonen des Arbeitnehmers überwiegend aufhalten; dies gilt auch, soweit ein
alleinstehender Arbeitnehmer mit einer Lebensgefährtin zusammenlebt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 218, 380, BStBl II
2007, 820).
13 cc) Wie sich aus den vorbereitenden Schriftsätzen im finanzgerichtlichen Verfahren ergibt, hatte der Kläger mehrfach
schriftsätzlich beantragt, seine Lebensgefährtin unter Angabe einer ladungsfähigen Anschrift darüber zu vernehmen,
dass der Kläger in den Streitjahren seinen Lebensmittelpunkt in X gehabt habe. Im Ergebnis ist das FG diesem
Beweisantrag ohne nähere Begründung nicht nachgekommen. Das FG hat dezidiert lediglich einen weiteren
schriftsätzlich vorgetragenen Beweisantritt zur Anzahl der Fahrten zwischen Z und X mit der Begründung abgelehnt,
seitens des Gerichts werde die Anzahl der Fahrten als wahr unterstellt. Damit blieb aber gerade die
entscheidungserhebliche Frage ungeklärt, ob die Beziehungen und Bindungen zu Bezugspersonen in X noch derart
qualifiziert waren, dass sie die Würdigung rechtfertigen, der Kläger habe seinen Lebensmittelpunkt in X beibehalten.
14 c) Der Beweisantritt des Klägers war auch hinreichend substantiiert bzw. bestimmt.
15 Die Entscheidung über den Lebensmittelpunkt erfordert eine tatrichterliche Würdigung aller Umstände des
Einzelfalles, die sich aus einer Zusammenschau mehrerer Einzeltatsachen ergibt (u.a. Verhältnisse des
Steuerpflichtigen, Art und Intensität der sozialen Kontakte, Vereinszugehörigkeiten und andere Aktivitäten). Eine
Pflicht zur Angabe aller dieser Einzeltatsachen in einem Beweisantrag würde eine überspitzte Anforderung an die
Zulässigkeit des Beweisantrags darstellen (vgl. hierzu ausführlich zuletzt BFH-Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B
118/04, BFHE 216, 409, BStBl II 2007, 538, m.w.N.). Die Angaben des Klägers waren mithin konkret genug, um dem
Gericht eine Grundlage für seine Beweiserhebung zu geben bzw. den "Gegenstand der Vernehmung" (§ 377 Abs. 2
Nr. 2 der Zivilprozessordnung) hinreichend zu bestimmen.
16 d) Der vom Kläger gestellte Beweisantrag war auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass das FG bei ordnungsgemäßer Behandlung des Beweisantrags zu einem anderen Ergebnis in der Sache gelangt
wäre.
17 2. Der Kläger hat sein Rügerecht nicht verloren. Für die schlüssige Rüge des Verfahrensverstoßes kann auf
Darlegungen zum Gebrauch des Rügerechts verzichtet werden, wenn das FG im Einverständnis mit den Beteiligten
ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (BFH-Urteil vom 10. Dezember 1992 XI R 13/91, BFH/NV 1993, 483).
Der Vortrag des Klägers erfüllt im Übrigen die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Rüge des Verstoßes
gegen § 76 FGO.
18 3. Der Senat hält es für angezeigt, im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu
verfahren. Er hebt deshalb das Urteil der Vorinstanz auf und verweist die Sache an das FG zurück, damit dieses die
erforderlichen Feststellungen nachholen kann.