Urteil des BFH vom 22.09.2010

Zuschlagsregelung des § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG nicht formell verfassungswidrig

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 22.9.2010, VI R 55/09
Zuschlagsregelung des § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG nicht formell verfassungswidrig
Leitsätze
Die mit dem Jahressteuergesetz 1996 nach Anrufung des Vermittlungsausschusses auf Grundlage der
Beschlussempfehlungen dieses Gremiums zu Stande gekommenen einkommensteuerrechtlichen Regelungen über die
private Nutzung eines betrieblichen Kraftfahrzeugs überschreiten nicht die von Verfassungs wegen zu beachtenden Grenzen
für die Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses.
Tatbestand
1 I. I. Streitig ist die zutreffende Anwendung der 0,03 %-Zuschlagsregelung nach § 8 Abs. 2 Satz 3 des
Einkommensteuergesetzes (EStG).
2 Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden als Eheleute in den Streitjahren (2004, 2005) zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war als angestellter Bauleiter nichtselbständig tätig. Sein Arbeitgeber hatte ihm
einen Kraftwagen zur auch privaten Nutzung überlassen. Der Kläger hatte den geldwerten Vorteil daraus mittels
Fahrtenbücher ermittelt. Auf dieser Grundlage wurden der Lohnsteuerabzug vorgenommen und die Kläger
erklärungsgemäß zur Einkommensteuer veranlagt.
3 Im Anschluss an eine beim Arbeitgeber des Klägers durchgeführte Lohnsteuer-Außenprüfung vertrat der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Ansicht, dass die vom Kläger geführten Fahrtenbücher nicht
ordnungsgemäß seien, weil Angaben zu den Zwecken der dienstlichen Fahrten und aufgesuchten Personen/Firmen
überwiegend fehlten. Das FA änderte daher die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der
Abgabenordnung mit den hier streitigen Änderungsbescheiden. Die geldwerten Vorteile aus der Kraftfahrzeugnutzung
für private Zwecke sowie für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ermittelte das FA nun auf Grundlage der 1 %-
Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG und nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG (0,03 %-Regelung).
Dadurch erhöhten sich die Lohneinkünfte des Klägers um 6.222 EUR (1. Mai bis 31. Dezember 2004) sowie um 9.170
EUR (2005).
4 Die von den Klägern nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG)
gelangte zwar zu der Auffassung, dass das vom Kläger geführte Fahrtenbuch nicht ordnungsgemäß sei, so dass das FA
den geldwerten Vorteil aus der Nutzung des dem Kläger von seinem Arbeitgeber überlassenen Kraftfahrzeugs zu
privaten Zwecken zu Recht nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG bemessen habe. Entgegen der
Auffassung des FA sei aber auf Grundlage der Entscheidung des VI. Senats (vgl. Senatsurteil vom 4. April 2008 VI R
85/04, BFHE 221, 11, BStBl II 2008, 887) der Vorteil aus der Kraftfahrzeugnutzung für Fahrten zwischen Wohnung und
Arbeitsstätte nicht pauschal nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG, sondern nach der konkreten Anzahl der Fahrten zu ermitteln.
5 Mit der dagegen eingelegten Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
6 Das FA beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil des Niedersächsischen FG vom 11. Mai 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7 Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
8 Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten (§ 122 Abs. 2 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zu Recht im Rahmen
der Anwendung des § 8 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 5 EStG im Streitjahr 2004 nur 68 Fahrten und im Streitjahr 2005 nur
61 Fahrten zu Grunde gelegt und das zu versteuernde Einkommen und die festzusetzende Einkommensteuer
entsprechend herabgesetzt.
10 1. Der Senat hält auch nach erneuter Überprüfung an seiner Rechtsprechung fest, dass die Zuschlagsregelung nach §
8 Abs. 2 Satz 3 EStG einen Korrekturposten zum Werbungskostenabzug darstellt und sie deshalb nur insoweit zur
Anwendung kommt, wie der Arbeitnehmer den Dienstwagen tatsächlich für Fahrten zwischen Wohnung und
Arbeitsstätte benutzt hat (Entscheidungen in BFHE 221, 11, BStBl II 2008, 887; vom 4. April 2008 VI R 68/05, BFHE
221, 17, BStBl II 2008, 890). Die Zuschlagsregelung des § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG hat insbesondere nicht die Funktion,
eine irgendwie geartete zusätzliche private Nutzung des Dienstwagens zu bewerten. Sie bezweckt vielmehr lediglich
einen Ausgleich für abgezogene, aber tatsächlich nicht entstandene Erwerbsaufwendungen. Denn die
Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) gestattet einen Werbungskostenabzug unabhängig davon, ob
dem Steuerpflichtigen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte tatsächlich Kosten entstanden waren.
Angesichts dieser Korrekturfunktion ist der Zuschlag nur insoweit gerechtfertigt, als tatsächlich Werbungskosten
überhöht zum Ansatz kommen konnten. Bei der Ermittlung des Zuschlags ist deshalb darauf abzustellen, ob und in
welchem Umfang der Dienstwagen tatsächlich für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte genutzt worden
ist; der Senat verweist zur weiteren Begründung auf sein Urteil vom 22. September 2010 VI R 57/09, BFHE 231, 139.
11 2. Der Senat geht auch weiterhin davon aus, dass die streitige Regelung formell verfassungsgemäß zu Stande
gekommen ist, insbesondere der Vermittlungsausschuss die ihm von Verfassungs wegen gezogenen Grenzen nicht
überschritten hat. Das beigetretene BMF hat zwar u.a. vorgebracht, dass die Regelung im Jahr 1996 erst durch den
Vermittlungsausschuss in das Gesetz aufgenommen worden sei und eine detaillierte Dokumentation des historischen
gesetzgeberischen Willens zur 0,03 %-Zuschlagsregelung daher fehle. Aber auch das BMF selbst leitet daraus nicht
ab, dass die streitige Regelung deshalb formell verfassungswidrig sei.
12 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darf der Vermittlungsausschuss eine
Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen, wenn und
soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des Anrufungsbegehrens und des ihm zu Grunde liegenden
Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Dabei ist die Stellungnahme des Bundesrates auch dann in den
Vermittlungsvorschlag einzubeziehen, wenn diese vom Bundestag in seinem Gesetzesbeschluss nicht berücksichtigt
worden ist (BVerfG-Urteil vom 7. Dezember 1999 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297, 307).
13 b) Daran gemessen überschreiten die mit dem Jahressteuergesetz 1996 nach Anrufung des Vermittlungsausschusses
auf Grundlage der Beschlussempfehlungen dieses Gremiums zu Stande gekommenen einkommensteuerrechtlichen
Regelungen über die private Nutzung eines betrieblichen Kraftfahrzeugs nicht die von Verfassungs wegen geltenden
Grenzen für die Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Zwar war die Frage der
einkommensteuerrechtlichen Erfassung des Vorteils aus der privaten Nutzung betrieblicher Kraftfahrzeuge im
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Jahressteuergesetz 1996 (BTDrucks 13/901) und im
Gesetzentwurf der Bundesregierung dazu (BTDrucks 13/1173), die vom Bundestag am 2. Juni 1995 in zweiter und
dritter Lesung beraten worden waren, noch nicht enthalten. Zuvor war jedoch schon von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit Antrag vom 28. März 1995 (BTDrucks 13/936) --insoweit noch ohne gesetzestechnisch ausformulierten
Text-- die Einschränkung der Absetzbarkeit betrieblich genutzter PKW und die Änderung der bis dahin pauschal
unterstellten Annahme, dass Geschäftsfahrzeuge regelmäßig zu 65 % bis 70 % geschäftlich genutzt würden, gefordert
worden. Weiter hatte auch ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD (BTDrucks 13/1590) in Verbindung mit der
vorgeschlagenen Entfernungspauschale bereits in gesetzestechnisch ausformulierter Weise die Kürzung des
Betriebsausgabenabzugs für betrieblich genutzte Kraftfahrzeuge in Höhe von 0,04 % des Listenpreises des
Kraftfahrzeugs je Entfernungskilometer und Monat zum Gegenstand. Überdies nahm der Bundesrat, der ebenfalls am
2. Juni 1995 das Jahressteuergesetz 1996 beraten hatte, in seiner Stellungnahme u.a. auf die Empfehlungen des
Finanzausschusses vom 23. Mai 1995 Bezug (BRDrucks 171/95 --Beschluss-- mit Anlage BRDrucks 171/2/95, S. 14
ff.). Dieser hatte u.a. ebenfalls schon in gesetzestechnisch ausformulierter Weise die Regelungen zu § 8 Abs. 2 Sätze
3, 4 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG vorgeschlagen, wie sie im Wesentlichen dann auch nach zweimaliger Anrufung
des Vermittlungsausschusses (BTDrucks 13/1779, BTDrucks 13/2016) Gesetz geworden waren. Angesichts dessen
hatten sich die Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses vom 7. Juli 1995 (BTDrucks 13/1960) sowie
vom 2. August 1995 (BTDrucks 13/2100) im Rahmen der Kontroversen zwischen Bundestag und Bundesrat und der
parlamentarischen Debatte bewegt und mit den §§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2, 8 Abs. 2 Sätze 3, 4 EStG keinen
Regelungsvorschlag zum Gegenstand, der außerhalb dieser bisherigen Auffassungsunterschiede und
Gegenläufigkeiten zwischen Bundestag und Bundesrat im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG liegt (vgl. Urteil in
BVerfGE 101, 297, 308; Beschluss vom 15. Januar 2008 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56 <75 f.>).