Urteil des BFH vom 19.10.2006

BFH (unterbringung, abweisung der klage, ehefrau, psychische störung, haushalt, kläger, erziehung, verein, aufnahme, entgelt)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 2.4.2009, III R 92/06
Kindergeldanspruch für Pflegekinder - Aufnahme eines Kindes in den Haushalt zu Erwerbszwecken - Unterbringung des
Kindes in einer Pflegefamilie als sonstiger betreuter Wohnform nach § 34 SGB VIII - Pflegegelder nach § 33 SGB VIII -
Steuerrechtliche Tatbestandswirkung der sozialrechtlichen Einordnung
Leitsätze
1. Leistet ein als Betreiber einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII anerkannter Trägerverein einer
Pflegeperson Zahlungen für die Erziehung und Unterbringung eines fremden Kindes, so scheidet die Annahme eines
Pflegekindschaftsverhältnisses aus, weil das Kind zu Erwerbszwecken in den Haushalt der Pflegeperson aufgenommen
worden ist (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) .
2. Die sozialrechtliche Einordnung als sonstige betreute Wohnform hat steuerrechtliche Tatbestandswirkung. Es kommt daher
nicht darauf an, ob die Unterbringung des Kindes sozialrechtlich als Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII hätte behandelt
werden müssen .
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau nahmen im Juli 2002 die im Jahre 1993 geborene C in
ihren Haushalt auf, in dem auch die vier leiblichen Kinder lebten. Seit Oktober 2005 war die Ehefrau des Klägers für
den Verein "… e.V." tätig. Nach dem zwischen der Ehefrau des Klägers und dem Verein abgeschlossenen
"Erziehungsstellenvertrag nach § 34 SGB VIII" vom 27. September 2005 sollte in der sog. Fachfamilie des Klägers und
seiner Ehefrau eine Erziehungsstelle eingerichtet werden. Die Fachfamilie sollte C für die Dauer der Hilfe zur
Erziehung nach § 1688 des Bürgerlichen Gesetzbuches vertreten. Der Verein hat ein Weisungsrecht in grundsätzlichen
Fragen der Betreuung. Er bietet der Fachfamilie Beratung und Unterstützung an. Seine monatlichen Zahlungen an die
Ehefrau des Klägers schlüsselte der Verein wie folgt auf:
2
Beitrag zur Erziehung
1 200 EUR
Sachkosten
700 EUR
Altersversorgung
125 EUR
Versicherung Kfz (Vollkasko)
40 EUR
Beitrag zur Haushaltskraft
125 EUR
Summe
2 190 EUR
3 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gewährte dem Kläger Kindergeld, da sie der Ansicht war, C
befinde sich in Vollzeitpflege (§ 33 des Achten Buchs Sozialgesetzbuch --SGB VIII--). Mit Bescheid vom 16. September
2005 hob sie die Festsetzung ab 1. Oktober 2005 auf. Die Familienkasse war nunmehr der Auffassung, bei der
Aufnahme von C in den Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau handele es sich um eine sonstige betreute Wohnform
nach § 34 SGB VIII, die der Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) entgegenstehe.
4 Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Bescheid vom
16. September 2005 auf (Urteil vom 19. Oktober 2006 14 K 4922/05 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2007,
368). Es führte im Wesentlichen aus, zwischen C sowie dem Kläger und dessen Ehefrau bestehe ein familienähnliches,
auf längere Dauer berechnetes Band. C sei auch nicht zu Erwerbszwecken in den Haushalt aufgenommen worden.
Dies sei nicht etwa deshalb anzunehmen, weil nach dem System der Pflegekonzepte der Jugendhilfe eine Hilfe zur
Erziehung nach § 34 SGB VIII gewährt worden sei. Die Höhe des für die Unterbringung von C gezahlten Entgelts
rechtfertige nicht den Schluss auf eine Entlohnung nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Der Trägerverein zahle
nach Abzug der Sachkosten einen Tagessatz von ca. 44 EUR. Dieser entspreche nicht den Marktpreisen für eine
vollzeitige Tagesbetreuung, die sich auf mindestens 100 EUR je Tag beliefen.
5 Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse im Wesentlichen vor, C sei zu marktüblichen Preisen
untergebracht worden. Auch wenn ein Trägerverein zwischengeschaltet worden sei, handele es sich dennoch um eine
sonstige Unterbringung i.S. von § 34 SGB VIII. Die zwischen dem Jugendamt und dem Verein festgelegte Entlohnung
von täglich 110 EUR zur Deckung des Unterhalts- und Betreuungsaufwandes sei marktüblich und beruhe auf
wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
6 Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8 Er führt aus, der vom FG festgestellte Tagessatz von ca. 44 EUR, der auf die Betreuungsleistung der Pflegeeltern
entfalle, könne nicht als marktgerechte Entlohnung für eine Vollzeitbetreuung betrachtet werden. Es dürfe nicht danach
unterschieden werden, ob Pflegegelder nach § 33 SGB VIII oder nach § 34 SGB VIII geleistet würden. Beide
Betreuungsformen müssten kindergeldrechtlich gleich behandelt werden. Die psychische Störung von C sei so
gravierend, dass eine Unterbringung in einer normalen Pflegefamilie nach § 33 Satz 1 SGB VIII nicht möglich sei. Der
Trägerverein habe zu Unrecht die Betriebserlaubnis für eine sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII erhalten,
vielmehr sei die Betreuung von C von Anfang an als Vollzeitpflege für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder
und Jugendliche nach § 33 Satz 2 SGB VIII zu beurteilen gewesen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126
Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat dem Kläger zu Unrecht einen Anspruch auf Kindergeld
zuerkannt.
10 1. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG wird Kindergeld auch für Pflegekinder gewährt. Pflegekinder
sind nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2003 vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003,
2645) Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band
verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und
Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht. Die jetzige Gesetzesfassung löste die Vorgängerregelung ab, der
zufolge ein Pflegekindschaftsverhältnis u.a. davon abhing, dass der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem
nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhielt. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) war
dies der Fall, wenn die Pflegeeltern nach Abzug der Erstattung ihrer Aufwendungen mindestens 20 % der tatsächlich
entstandenen, angemessenen Unterhaltskosten (einschließlich der Kosten für Betreuung, Ausbildung und Erziehung)
trugen (Urteil vom 29. Januar 2003 VIII R 71/00, BFHE 201, 292, BStBl II 2003, 469). Da nach Ansicht des
Gesetzgebers diese Rechtsprechung zu praktischen Schwierigkeiten und zu erheblichem Verwaltungsaufwand führte
(vgl. BTDrucks 15/1945, S. 9), wurden die Tatbestandsvoraussetzungen für die Annahme eines
Pflegekindschaftsverhältnisses geändert. Entscheidend ist nach neuer Rechtslage, ob das Kind zu Erwerbszwecken
in den Haushalt aufgenommen worden ist. Betreiber einer Einrichtung nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung und
sonstige betreute Wohnform) haben keinen Anspruch auf Kindergeld für Pflegekinder (vgl. BFH-Urteil vom 23.
September 1998 XI R 11/98, BFHE 187, 39, BStBl II 1999, 133).
11 2. Pflegegelder, die bei Aufnahme eines Kindes in eine Familie zur Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII geleistet werden,
stellen den gesamten Unterhalt einschließlich der Kosten für die Erziehung sicher (§ 39 Abs. 1 SGB VIII). Die
monatlichen Pauschalbeträge bemessen sich nach den tatsächlichen Kosten, soweit diese einen angemessenen
Umfang nicht übersteigen (§ 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie ist im Pflegesatz
kein pauschalierter Ersatz für Personal- und Sachkosten der Pflegeeinrichtung enthalten (BFH-Urteil vom 23.
September 1999 VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448). Auch wenn Pflegegelder nach § 33 SGB VIII einen Anreiz zur
Aufnahme fremder Kinder schaffen sollen, sind sie nach ihrem Zweck und ihrer Bemessungsgrundlage kein nach
marktwirtschaftlichen Grundsätzen berechnetes Entgelt für Unterbringung und Betreuung, sondern lediglich
Kostenersatz. Nur wenn Pflegeeltern ein erheblich über den Pflegesätzen des zuständigen Jugendamtes liegendes
Pflegegeld gezahlt wird, kann angenommen werden, dass sie nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen für die
Unterbringung und Betreuung entlohnt werden (Senatsurteil vom 30. Juni 2005 III R 80/03, BFH/NV 2006, 262).
12 3. Im Streitfall bezog die Ehefrau des Klägers nicht die pauschalen Pflegebeträge, die bei der Unterbringung eines
Kindes in einer Pflegefamilie nach § 33 Satz 1 SGB VIII vorgesehen sind. Vielmehr erhielt sie Leistungen von dem
Trägerverein, der mit dem Träger der Jugendhilfe ein Entgelt für die Unterbringung in einer sonstigen betreuten
Wohnform nach § 34 SGB VIII vereinbart hatte. Dieses Entgelt unterscheidet sich schon wegen der darin enthaltenen
Erstattung von Personal- und Sachkosten von den Pauschalbeträgen, die bei einer Vollzeitpflege nach § 33 Satz 1
i.V.m. § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 SGB VIII geleistet werden. Bei der Aufnahme eines Kindes in ein Heim oder in
eine sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII sind deshalb Erwerbszwecke i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu
bejahen.
13 4. Der Einwand des Klägers, der Trägerverein habe zu Unrecht die Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII für eine
sonstige betreute Wohnform erhalten, vielmehr habe von Anfang an eine Vollzeitpflege für besonders
entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche nach § 33 Satz 2 SGB VIII vorgelegen, führt zu keiner anderen
Betrachtung. Die Unterbringung von C in der Familie des Klägers und seiner Ehefrau ist im streitigen Zeitraum nach §
34 SGB VIII behandelt worden. Diese sozialrechtliche Tatbestandswirkung ist steuerrechtlich zu beachten. Ob der
Kläger bei einer anderen sozialrechtlichen Einordnung kindergeldberechtigt gewesen wäre, braucht der Senat nicht
zu entscheiden.