Urteil des BFH vom 16.10.2008

BFH: Anforderungen an die Rüge unzureichender Sachaufklärung, berufliche tätigkeit, behinderung, kontaktaufnahme, beweiswürdigung, jugendhilfe, unterlassen, behinderter, gewalttätigkeit, beweismittel

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 16.10.2008, III B 177/07
Anforderungen an die Rüge unzureichender Sachaufklärung
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) begehrt für seinen im Juli 1986 geborenen, zwischenzeitlich verstorbenen
Sohn (S) Kindergeld für die Zeit von August 2004 bis einschließlich Februar 2006, da S i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
des Einkommensteuergesetzes (EStG) wegen seelischer Behinderung außerstande gewesen sei, sich selbst zu
unterhalten. Er stützt sich auf ein kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten des Dr. X vom November 2004, welches
das Jugendamt, das für S zeitweise Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe nach den §§ 27 ff. des Achten Buches
Sozialgesetzbuch --Kinder- und Jugendhilfe-- (SGB VIII) erbracht hat, zur Feststellung von Bedarfsdefiziten des S und
zum Aufzeigen geeigneter Jugendhilfemaßnahmen in Auftrag gegeben hatte.
2 Einspruch und Klage gegen den die Gewährung von Kindergeld ablehnenden Bescheid der Beklagten und
Beschwerdegegnerin (Familienkasse) blieben erfolglos. Der Aufforderung des Finanzgerichts (FG), durch Vorlage
eines amtsärztlichen Gutachtens nachzuweisen, dass S aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage sei, sich selbst
zu unterhalten, war der Kläger nicht nachgekommen, da ihm eine Kontaktaufnahme mit S, der zu diesem Zeitpunkt eine
mehrmonatige Gefängnisstrafe in der Jugendvollzugsanstalt (JVA) verbüßte, nicht zuzumuten sei, weil S ihm und seiner
Mutter (der Ehefrau des Klägers) gegenüber in der Vergangenheit mehrfach gewalttätig geworden sei.
3 Das FG führte in seinem klageabweisenden Urteil aus, dass auch das Gutachten des Dr. X als Nachweis einer
Behinderung i.S. des § 32 Abs. 4 EStG nicht geeignet sei. Wegen der mangelnden Kooperation des S sei dessen
Begutachtung unvollständig gewesen. Daher stellten die im Gutachten genannten deutlichen Hinweise auf eine
Entwicklungs- und Kommunikationsstörung kein gesichertes Ergebnis dar, sondern seien lediglich eine
Teileinschätzung anhand unvollständiger Erhebungen. Zudem enthalte das Gutachten keine Aussage darüber, ob die
nach den Teilerhebungen diagnostizierte Entwicklungs- und Kommunikationsstörung ursächlich dafür sei, dass S zum
Selbstunterhalt außerstande sei. Auch die bloße Angabe der Heroinabhängigkeit des S führe nicht zu einer
Behinderung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, denn es sei nicht ersichtlich, welches Ausmaß und welche Folgen
die Drogenabhängigkeit in psychischer, physischer oder beruflicher Sicht für S gehabt habe. Eine weitere
Sachaufklärung durch den Senat habe unterbleiben können, da sich der Kläger geweigert habe, das vom Gericht
angeforderte Gutachten vorzulegen. Die Aufforderung sei nicht unverhältnismäßig gewesen, denn der Aufenthaltsort
des S in der JVA sei dem Kläger bekannt gewesen und der Kläger und die Kindesmutter hätten für eine Begutachtung
nicht den von ihnen unerwünschten persönlichen Kontakt mit S aufnehmen müssen.
4 Mit seiner hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3
der Finanzgerichtsordnung --FGO--) eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht des FG: Dr. X weise in seinem
Gutachten zwar darauf hin, dass die Begutachtung wegen eines Verweigerungsverhaltens des S nicht habe zu Ende
geführt werden können. Gleichwohl führe er aus, dass die bis dahin gewonnenen medizinischen Erkenntnisse
ausreichend für die Feststellung einer seelischen Behinderung des S gemäß § 35a SGB VIII gewesen seien. Die
Beweiswürdigung des FG, das Gutachten stelle "kein gesichertes Ergebnis", sondern lediglich eine "Teileinschätzung
anhand unvollständiger Erhebungen" dar, sei daher nicht nachvollziehbar. Objektiv willkürlich sei die Beweiswürdigung
des FG, das Gutachten treffe keine Aussage darüber, "ob die nach den Teilerhebungen diagnostizierte Entwicklungs-
und Kommunikationsstörung ursächlich dafür ist, dass S zum Selbstunterhalt außerstande" sei. Denn Dr. X habe
deutlich darauf hingewiesen, dass S an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft angesichts seiner seelischen
Behinderung gemäß § 35a SGB VIII beeinträchtigt gewesen sei. Eine entsprechende Teilhabe sei aber --so der Kläger-
- zwingende Voraussetzung für eine Existenz sichernde Ausbildung oder eine berufliche Tätigkeit. Das FG sei mithin
verpflichtet gewesen, "dem Beweisantritt des Klägers zu entsprechen und Dr. X als Zeugen zu vernehmen". Das FG
wäre dann zu der Feststellung gelangt, dass S angesichts seiner seelischen Behinderung i.S. des § 35a SGB VIII
außerstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Der Vollständigkeit halber werde darauf hingewiesen, dass der
Kläger sich nicht geweigert habe, "dass sein behinderter Sohn einer weiteren Begutachtung zustimmen möchte".
Angesichts der Gewalttätigkeit des S habe er bei einer Kontaktaufnahme jedoch um sein Leben fürchten müssen. In
Beweisnot geraten, habe er daher das FG gebeten, über die JVA direkt Kontakt mit S aufzunehmen und diesen um
entsprechende Mitwirkung zu bitten. Auf die beigefügte eigene Stellungnahme des Klägers werde verwiesen.
Entscheidungsgründe
5
II. Die Beschwerde ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen.
6
1. Mit seinen Einwendungen gegen die Würdigung des Gutachtens des Dr. X durch das FG legt der Kläger keinen
Verfahrensfehler dar. Die Würdigung von Tatsachen und Beweisen ist dem materiellen Recht zuzuordnen und
deshalb der Prüfung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Rahmen einer Verfahrensrüge entzogen (z.B. Senatsbeschluss
vom 12. Juli 2007 III B 138/06, BFH/NV 2007, 2131). Die Rügen des Klägers betreffen auch keine offensichtlichen
Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer willkürlichen oder greifbar gesetzeswidrigen
Entscheidung, die ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO führen. Die
Würdigung des FG ist vielmehr möglich und lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
7
2. Ebenfalls unzulässig ist die Rüge, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt, weil es Dr.
X nicht als Zeugen vernommen habe. Denn der Kläger hat den Zulassungsgrund nicht in einer den Anforderungen
des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechenden Weise gerügt.
8
a) Zur ordnungsgemäßen Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht bedarf es der Darlegung, welche Fragen
tatsächlicher Art aufklärungsbedürftig waren, welche Beweismittel zu welchem Beweisthema das FG ungenutzt ließ,
warum der Kläger nicht von sich aus einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat, warum sich die Notwendigkeit
der Beweiserhebung gleichwohl dem FG auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung hätte aufdrängen müssen und
inwieweit die als unterlassen gerügte Beweiserhebung zu einer anderen Entscheidung hätte führen können. Ferner ist
darzulegen, dass der Kläger die nach seiner Ansicht unzulängliche Sachaufklärung vor dem FG gerügt hat oder ihm
eine solche Rüge nicht möglich gewesen ist (z.B. Senatsbeschluss vom 14. Februar 2006 III B 143/05, BFH/NV 2006,
1058).
9
b) Im Streitfall ist schon nicht ersichtlich, dass der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren überhaupt den Antrag
gestellt hat, Dr. X als Zeugen zu vernehmen. Er hat einen entsprechenden Antrag insbesondere nicht in der
mündlichen Verhandlung gestellt, zu der ausweislich des Protokolls weder der Kläger selbst noch sein
Bevollmächtigter erschienen sind.
10 Der Kläger hat auch nicht schlüssig dargelegt, weshalb sich dem FG auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung von
Amts wegen eine Vernehmung des Dr. X als Zeuge hätte aufdrängen müssen. Vielmehr erschöpft sich sein Vortrag
letztlich in der Behauptung, das Vorliegen einer seelischen Behinderung des S und dessen darauf beruhendes
Unvermögen, sich selbst zu unterhalten, ergebe sich bereits aus dem Gutachten selbst.
11 c) Schließlich lässt sich auch dem Vortrag des Klägers zu seiner vermeintlichen Beweisnot eine zulässige
Verfahrensrüge nicht entnehmen. Weder hat der Kläger die Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens durch das FG
in der mündlichen Verhandlung beantragt, noch hat er dargelegt, weshalb sich dem FG von Amts wegen die
Notwendigkeit einer entsprechenden Beweiserhebung auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung, derzufolge dem
Kläger die Kontaktaufnahme mit dem seinerzeit inhaftierten S zwecks Beibringung eines amtsärztlichen Gutachtens
zuzumuten sei, hätte aufdrängen müssen.