Urteil des BFH vom 29.05.2008

BFH: Keine Opfergrenze bei Unterhalt an Lebensgefährtin, Gleichstellung der unterhaltenen Person nach § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG i.d.F. vom 20.12.2001, anrechenbares einkommen, verlobte, verfügung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 29.5.2008, III R 23/07
Keine Opfergrenze bei Unterhalt an Lebensgefährtin - Gleichstellung der unterhaltenen Person nach § 33a Abs. 1 Satz 2
EStG i.d.F. vom 20.12.2001
Leitsätze
Unterhaltsleistungen eines Steuerpflichtigen an seine mit ihm in einer Haushaltsgemeinschaft lebende, mittellose
Lebenspartnerin sind ohne Berücksichtigung der sog. Opfergrenze als außergewöhnliche Belastung nach § 33a Abs. 1 Satz
2 EStG abziehbar (gegen BMF-Schreiben vom 28. März 2003, BStBl I 2003, 243).
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebte im Streitjahr 2003 mit seiner damaligen Verlobten und jetzigen
Ehefrau in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Die Verlobte war wegen einer chronischen Erkrankung nicht erwerbstätig
und erzielte keine eigenen Einkünfte. Nach einer Bescheinigung der Stadt erhielt sie im Streitjahr keine Hilfe zum
Lebensunterhalt. Anfang 2003 hatte sie für die Zahlung des Krankenversicherungsbeitrags Sozialhilfe beantragt. Der
Antrag erledigte sich in sonstiger Weise, ohne dass das Sozialamt Zahlungen aufgenommen hätte. Im Mai 2004 führte
das Sozialamt eine Probeberechnung für die Gewährung von Sozialhilfe durch. Ausgehend von einem Nettoverdienst
des Klägers in Höhe von 1 100 EUR wurde dessen anrechenbares Einkommen mit 943,13 EUR errechnet. Da dieses
den mit 812 EUR (Regelsätze für den Kläger 296 EUR und für die Verlobte 237 EUR, Warmmiete 279 EUR) ermittelten
Bedarf überstieg, ergab sich kein Sozialhilfeanspruch der Verlobten.
2 Der Kläger erhielt im Streitjahr 2003 einen Bruttoarbeitslohn von 16 169 EUR, dazu 594 EUR Kurzarbeitergeld, 395
EUR steuerfreie Arbeitgeberleistungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, 19 EUR steuerfreie Auslösung
sowie eine Einkommensteuererstattung für das Vorjahr in Höhe von 1 129,55 EUR. Er zahlte Lohnsteuer,
Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer in Höhe von 1 771 EUR und den Arbeitnehmeranteil am
Gesamtsozialversicherungsbeitrag in Höhe von 3 038 EUR. Ihm entstanden Werbungskosten in Höhe von 1 560 EUR.
Der danach verbleibende Nettobetrag von 11 937 EUR stand dem Kläger und seiner Verlobten für die gemeinsame
Lebensführung zur Verfügung.
3 Beide wohnten im Streitjahr im 1. Obergeschoss eines Einfamilienhauses, in dem sich Wohnzimmer, Schlafzimmer und
ein Badezimmer befanden. Das Erdgeschoss mit Wohnzimmer, Küche, Bad und Schlafzimmer sowie zwei
Souterrainräume des Hauses nutzten die Mutter der Verlobten und deren Ehemann. Diese wirtschafteten nach den
Feststellungen des Finanzgerichts (FG) getrennt vom Kläger und seiner Verlobten (z.B. getrennte Kühlschränke), was
u.a. mit dem geringen Einkommen der Mutter in Höhe von ca. 1 300 EUR monatlich begründet wurde. Das
Dachgeschoss mit Wohn- und Schlafzimmer bewohnte der Bruder der Verlobten, der das Badezimmer des Klägers und
seiner Verlobten mitbenutzen durfte. Alle Personen teilten die im Erdgeschoss gelegene Küche. Hauptmieter des
Gebäudes waren die Mutter der Verlobten und ihr Ehemann. Der Kläger gab an, für seine Verlobte und sich an die
Mutter Miete gezahlt zu haben.
4 In seiner Einkommensteuererklärung für 2003 machte der Kläger Unterhaltsleistungen für Miete und Lebensunterhalt
seiner Verlobten in Höhe von 7 188 EUR geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--)
berücksichtigte lediglich 2 741 EUR und begründete dies damit, dass nach der sog. Opfergrenze nur 23 % des
Nettoeinkommens des Klägers abziehbar seien. Diese errechnete das FA, indem es für jede vollen 500 EUR des mit 11
918 EUR angenommenen Nettoeinkommens 1 % des Nettoeinkommens zum Abzug zuließ. Das zu versteuernde
Einkommen betrug danach 9 760 EUR und die Einkommensteuer 657 EUR.
5 Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
6 Das FG gab der Klage mit Urteil vom 20. Februar 2007 13 K 206/05 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2007,
1169) statt und setzte die Einkommensteuer auf 0 EUR fest. Es führte aus, die Opfergrenze sei nicht anzuwenden, wenn
die unterhaltsbedürftige Lebensgefährtin auf Grund des Zusammenlebens mit dem Steuerpflichtigen keine Sozialhilfe
erhalte; dem entgegenstehenden Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 28. März 2003 (BStBl I
2003, 243) werde nicht gefolgt.
7 Das FA begründet seine Revision damit, dass die Opfergrenze auch Unterhaltsleistungen an bedürftige Partner einer
nichtehelichen Lebensgemeinschaft betreffe. Seit dem Ausschluss des Abzuges von sittlich gebotenen
Unterhaltsleistungen durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 könnten nur noch rechtlich zwangsläufige
Unterhaltsleistungen berücksichtigt werden. Eine derartige Zwangslage bestehe gegenüber den durch § 33a Abs. 1
Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gleichgestellten Personen nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil
vom 23. Oktober 2002 III R 57/99, BFHE 201, 31, BStBl II 2003, 187) nur, wenn gesetzlich unwiderleglich vermutet
werde, dass der Unterhalt durch eine andere Person sichergestellt sei und deshalb zum Unterhalt bestimmte öffentliche
Mittel gekürzt würden. Da nach § 1603 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) keinen Unterhalt zu leisten brauche, wer
dazu ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts außerstande sei, und Verlobte keinen
Unterhaltsvorrang genössen, sei der Abzug durch die Opfergrenze beschränkt. Das FG leite einen vorrangigen
Unterhaltsanspruch zu Unrecht aus § 122 des Bundessozialhilfegesetzes ab. Diese Vorschrift setze nicht die sich aus §
1615i Abs. 3 BGB ergebende Nachrangigkeit der Unterhaltsverpflichtung zwischen nichtehelichen Partnern außer Kraft.
Auch begründe sie keinen Unterhaltsanspruch, sondern betreffe die Ermittlung des Sozialhilfeanspruchs. Da
nichteheliche Partner --im Gegensatz zu Ehegatten und minderjährigen Kindern-- keinen Unterhaltsvorrang genössen,
stehe die im BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 243 vertretene Ansicht mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes im Einklang; ihr
komme zudem als norminterpretierende Verwaltungsansicht die Qualität einer Beweisregel zu. Eine über die
Opfergrenze hinausgehende Unterstützung der Verlobten sei vom Kläger nicht erwartet worden.
8 Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision ist unbegründet.
11 Zu Recht hat das FG die Unterhaltsleistungen des Klägers ohne Berücksichtigung einer Opfergrenze als
außergewöhnliche Belastung zum Abzug zugelassen.
12 1. Aufwendungen für den Unterhalt einer gegenüber dem Steuerpflichtigen gesetzlich unterhaltsberechtigten Person
können nach § 33a Abs. 1 Satz 1 EStG auf Antrag bis zu einem bestimmten Betrag (im Streitjahr bis zu 7 188 EUR)
vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden. Den gesetzlich unterhaltsberechtigten Personen ist nach § 33a
Abs. 1 Satz 2 EStG eine Person gleichgestellt, wenn ihr zum Unterhalt bestimmte inländische öffentliche Mittel mit
Rücksicht auf die Unterhaltsleistungen des Steuerpflichtigen gekürzt werden.
13 Dem Abzug der Unterhaltsleistungen des Klägers steht nicht entgegen, dass seiner Verlobten mangels Antragstellung
zum Unterhalt bestimmte öffentliche Mittel tatsächlich nicht gekürzt wurden.
14 Zu § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996, nach dem eine Person gleichgestellt war, "soweit ihr ... Mittel ...
gekürzt werden", wurde die Auffassung vertreten, es müsse tatsächlich zu einer Kürzung oder Versagung von
öffentlichen Mitteln gekommen sein; eine hypothetische Minderung oder Ablehnung von Sozialleistungen genüge
nicht (so Hessisches FG, Urteil vom 23. September 1999 11 K 1056/99, EFG 2000, 436; offen gelassen im
Senatsurteil in BFHE 201, 31, BStBl II 2003, 187). Seit der Änderung der Vorschrift durch das Steueränderungsgesetz
2001 vom 20. Dezember 2001 (BStBl I 2002, 4) --Ersetzung des Wortes "soweit" durch "wenn"-- ist es nach
vorherrschender Auffassung nicht erforderlich, dass beantragte Sozialleistungen gekürzt oder abgelehnt worden sind;
es reicht aus, dass die unterhaltene Person wegen der Unterhaltsleistungen keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat
(BTDrucks 14/6877, 26; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 33a Rz 161;
Schmidt/Loschelder, EStG, 27. Aufl., § 33a Rz 22; BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 243, 244). Der Senat folgt dem
schon deshalb, weil Steuerpflichtige, die im Vertrauen auf die Verwaltungsansicht von einer erfolglosen
Antragstellung bei der Sozialbehörde abgesehen haben, nicht benachteiligt werden dürfen.
15 2. Die Opfergrenze ist auf Unterhaltsleistungen an den in Haushaltsgemeinschaft lebenden nichtehelichen Partner
nicht anzuwenden.
16 a) Unterhaltsaufwendungen für andere als gemäß § 1609 BGB vorrangig unterhaltsberechtigte Personen können
nach der ständigen Rechtsprechung des Senats im Allgemeinen nur dann als zwangsläufig und folglich als
außergewöhnliche Belastung anerkannt werden, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zum Nettoeinkommen
des Leistenden stehen und diesem nach Abzug der Unterhaltsleistungen noch die angemessenen Mittel zur
Bestreitung des Lebensbedarfs für sich sowie ggf. für seine Ehefrau und seine Kinder verbleiben (sog. Opfergrenze;
vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 30. Juni 1989 III R 258/83, BFHE 157, 422, BStBl II 1989, 1009, m.w.N.).
Denn nach § 1603 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen
außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Auf Ehegatten wird
die Opfergrenze wegen deren vorrangigen Unterhaltsansprüchen nicht angewandt (Mellinghoff in Kirchhoff, EStG, 8.
Aufl., § 33a Rz. 37).
17 b) Gegenüber den nach § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG gleichgestellten Personen besteht keine Unterhaltspflicht. Der
gesetzgeberische Grund der Gleichstellung liegt darin, dass der Unterhalt Leistende sich in einer vergleichbaren --
sittlichen, nicht rechtlichen-- Zwangslage wie der gesetzlich zum Unterhalt Verpflichtete befindet, wenn der
Unterhaltsbedürftige durch Versagung von Sozialleistungen praktisch auf das Einkommen seines Lebenspartners
verwiesen wird.
18 Die der Opfergrenze zugrunde liegende Wertung lässt sich aber auch auf sittliche Unterhaltsverpflichtungen
übertragen, denn grundsätzlich wird von niemandem erwartet, den eigenen angemessenen Unterhalt durch dem
Grunde nach sittlich gebotene Unterhaltsleistungen zu gefährden.
19 c) Dies ist aber anders, wenn zusammen lebende Partner eine sozialrechtliche Bedarfsgemeinschaft bilden und daher
gemeinsam wirtschaften müssen. Erzielt nur einer der Partner --wie hier der Kläger-- Einkünfte oder Bezüge, so ist es -
-jedenfalls bei Steuerpflichtigen in einfachen Verhältnissen-- praktisch unumgänglich, daraus die größten Ausgaben
wie Miete samt Nebenkosten, Nahrungsmittel und Kleidung für beide zu begleichen.
20 In derartigen Fällen wäre es auch sittlich nicht zu billigen, den bedürftigen Partner, welchem mit Rücksicht auf die
Unterhaltsleistungen öffentliche Mittel verweigert werden, nur unzureichend zu unterstützen.
21 d) Die gleichmäßige Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel unter in einer Haushaltsgemeinschaft lebenden
Personen wird daher auch von der Rechtsprechung als Erfahrungssatz angesehen. Nach dem Senatsurteil vom 19.
April 2007 III R 65/06 (BFHE 218, 70, BFH/NV 2007, 1753, m.w.N.) entspricht es der Lebenserfahrung, dass in einer
kinderlosen Ehe, in der ein Ehepartner allein verdient und ein durchschnittliches Nettoeinkommen erzielt, dem nicht
verdienenden Ehepartner ungefähr die Hälfte dieses Nettoeinkommens zufließt, soweit dem verdienenden Ehepartner
ein verfügbares Einkommen in Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums verbleibt.
22 Auch im Senatsurteil vom 19. Juni 2002 III R 28/99 (BFHE 199, 355, BStBl II 2002, 753) wurde unterstellt, dass
mehrere in Haushaltsgemeinschaft lebende Personen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts die zur Verfügung
stehenden Beträge nach Köpfen aufteilen, ohne den unterschiedlichen Unterhaltsbedarf der einzelnen Mitglieder zu
berücksichtigen (vgl. auch das Senatsurteil vom 12. November 1993 III R 39/92, BFHE 174, 317, BStBl II 1994, 731,
betr. Aufteilung des einheitlichen Unterstützungsbetrags auf die Großeltern und das in ihrem Haushalt untergebrachte
Kind).
23 e) Die Anwendung der Opfergrenze stünde zudem im Widerspruch zum Sozialrecht, da der Verlobten dann
sozialrechtlich --wie auch die spätere Proberechnung des Sozialamtes belegt-- ein höherer Anteil des Einkommens
des Klägers zugerechnet würde als dieser wegen der Opfergrenze abziehen könnte. Einen derartigen Widerspruch
hatte der Senat bereits im Urteil in BFHE 199, 355, BStBl II 2002, 753 (unter II. 2. c, betr. die Auslegung des § 33a Abs.
1 Satz 4 EStG) als nicht hinnehmbar beurteilt.