Urteil des BFH vom 21.07.2009

BFH: Einkünfteübergreifender Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG, Verbrauch des einmaligen Freibetrags auch durch zu Unrecht erfolgende Gewährung, treu und glauben, jstg, einheit, einspruch, inhaber

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 21.7.2009, X R 2/09
Einkünfteübergreifender Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG - Verbrauch des einmaligen Freibetrags auch durch zu Unrecht
erfolgende Gewährung - Treu und Glauben
Leitsätze
Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG wird personenbezogen gewährt; er steht dem Steuerpflichtigen für alle
Gewinneinkunftsarten nur einmal zu.
Tatbestand
1 I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten und werden im Streitjahr 2003 zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Arzt und war an einer Praxisgemeinschaft beteiligt. Aus dieser Beteiligung
erzielte er im Veranlagungszeitraum 1997 neben laufenden Einkünften einen Veräußerungsgewinn in Höhe von
50.000 DM. In der Einkommensteuererklärung 1997 gab er die laufenden Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit
288.278 DM an und trug in der Anlage GSE zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb in der Zeile "Der Freibetrag nach §
16 Abs. 4 EStG wird nicht beantragt oder ist nicht zu gewähren" (Zeile 14) einen Betrag in Höhe von 50.000 DM ein. In
der Anlage GSE wies er zudem auf eine Beteiligung an einem Gewerbebetrieb hin. Der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) zog bei der Ermittlung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit im
Einkommensteuerbescheid 1997 vom 1. Oktober 1998 von dem Veräußerungsgewinn einen Freibetrag von 50.000 DM
ab, sodass der Veräußerungsgewinn im Ergebnis unberücksichtigt blieb. In der Folgezeit änderte das FA den
Einkommensteuerbescheid 1997 wegen geänderter Feststellungsbescheide mehrmals. Im Änderungsbescheid vom
19. Mai 1999 erfasste es einen um 50.000 DM höheren Gewinn aus der Praxisbeteiligung des Klägers. Das FA gab
dem hiergegen eingelegten Einspruch statt, in dem die Kläger die "Doppelerfassung" des Veräußerungsgewinns
geltend machten.
2 In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2003 wiesen die Kläger in der Anlage GSE auf eine gewerbliche
Beteiligung des Klägers hin, machten aber keine Angaben zur Höhe der Einkünfte. Aufgrund des
Feststellungsbescheids 2003 vom 14. März 2005, in dem neben laufenden Einkünften und Sonderbetriebsausgaben
auch ein "anzusetzendes Veräußerungsergebnis" von 71.928,52 EUR festgestellt wurde, änderte das FA den
Einkommensteuerbescheid 2003 am 11. Mai 2005. Der hiergegen eingelegte Einspruch, mit dem die Kläger den
Ansatz eines Freibetrags nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) beantragten, hatte keinen Erfolg.
3 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 469 veröffentlichtem Urteil ab.
Der Freibetrag sei dem Kläger bereits im Veranlagungszeitraum 1997 gewährt worden. Er sei verbraucht, selbst wenn
er in der Vergangenheit zu Unrecht angesetzt worden sei und die Steuervergünstigung nicht mehr rückgängig gemacht
werden könne. Zudem wirke der Verbrauch einkünfteübergreifend. Er könne nicht für jede der drei
Gewinneinkunftsarten je einmal gewährt werden. Er sei personen- und nicht einkunftsbezogen.
4 Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
(BFH) könne der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG nur gewährt werden, wenn der Veräußerer im Zeitpunkt der
Veräußerung das 55. Lebensjahr vollendet habe. Zwar habe das FA im Einkommensteuerbescheid für 1997 einen
Freibetrag gewährt; hierbei könne es sich jedoch nicht um den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG handeln, weil der
Kläger zu diesem Zeitpunkt das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und der Freibetrag zudem nicht beantragt
worden sei. Im Übrigen sei der Freibetrag für jede der drei Gewinneinkunftsarten einmal zu gewähren.
5 Die Kläger beantragen,
6 das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 30. Oktober 2007 aufzuheben und die Einkommensteuer 2003
unter Berücksichtigung eines Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung in Höhe von
51.200 EUR festzusetzen.
7 Das FA beantragt,
8 die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu
Recht ist das FG davon ausgegangen, dass dem Kläger der Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4 EStG nicht erneut zu
gewähren ist.
10 1. Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd
berufsunfähig, so wird der Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er den
Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG übersteigt. Der Freibetrag ist dem Steuerpflichtigen nur einmal zu
gewähren (§ 16 Abs. 4 Satz 2 EStG). Das bedeutet, dass der Freibetrag dem Steuerpflichtigen nur einmal im Leben
zugute kommt, allerdings stets in voller Höhe; es kommt nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige einen ganzen
Gewerbebetrieb, einen Teilbetrieb oder einen Mitunternehmeranteil veräußert (Reiß in Kirchhof, EStG, 8. Aufl., § 16 Rz
508). Veräußerungen und Betriebsaufgaben vor dem 1. Januar 1996 werden nicht angerechnet (§ 52 Abs. 34 Satz 3
EStG 1999; Blümich/Stuhrmann, § 16 EStG Rz 451).
11 2. Im Streitfall ist der Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4 EStG dem Kläger bereits im Einkommensteuerbescheid 1997
gewährt worden. Der erkennende Senat folgt dem FG darin, dass es nach dem eindeutigen Wortlaut von § 16 Abs. 4
EStG nicht darauf ankommt, ob der Freibetrag zu Recht gewährt worden ist oder nicht. Entscheidend ist allein, dass
sich der Freibetrag auf die Steuerfestsetzung ausgewirkt hat und die Steuervergünstigung nicht mehr rückgängig
gemacht werden kann (vgl. hierzu auch die BFH-Urteile vom 8. März 1994 IX R 12/90, BFH/NV 1994, 785, bzw. vom
15. Mai 2002 X R 97/98, BFH/NV 2002, 1428, zur vergleichbaren Problematik bei § 7b EStG bzw. § 10e Abs. 4 EStG).
Soll der Freibetrag erst für einen späteren Veräußerungsgewinn in Anspruch genommen werden, muss der
Steuerpflichtige die Steuerfestsetzung anfechten, in dem ihm die Steuervergünstigung trotz Fehlens eines
entsprechenden Antrags (bzw. weiterer gesetzlicher Voraussetzungen) gewährt wurde. Nach Treu und Glauben
könnte sich der Steuerpflichtige den Verbrauch des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG allenfalls dann nicht
entgegenhalten lassen müssen, wenn für ihn angesichts der geringen Höhe des Freibetrags und des fehlenden
Hinweises in den Erläuterungen nicht erkennbar gewesen wäre, dass das FA den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG
ohne Antrag angesetzt hat (vgl. hierzu auch Senatsurteil in BFH/NV 2002, 1428).
12 Bei der Einkommensteuerfestsetzung 1997 wurde dem Kläger ein Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG in Höhe von
50.000 DM gewährt. Er hat den Bescheid nicht angefochten, obwohl die Tatsache, dass das FA den Freibetrag ohne
Antrag angesetzt hat, aus der Berechnung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit und dem Einspruchsverfahren
wegen der "Doppelerfassung" des Veräußerungsgewinns erkennbar war. Zudem konnte die Berücksichtigung des
Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG im Veranlagungszeitraum 1997 nach den Feststellungen des FG im Zeitpunkt, als
die Kläger den Freibetrag in Zusammenhang mit der Einkommensteuerveranlagung 2003 beantragt haben, nicht
mehr rückgängig gemacht werden, da bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war.
13 3. Zutreffend hat das FG auch erkannt, dass der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG dem Kläger im Streitjahr 2003 nicht
deshalb zu gewähren ist, weil er ihn für einen Veräußerungsgewinn bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb begehrt
und der Freibetrag im Veranlagungszeitraum 1997 für einen Veräußerungsgewinn bei den Einkünften aus
selbständiger Arbeit gewährt wurde. Der Grundsatz, dass der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG einem
Steuerpflichtigen nur einmal gewährt werden kann, gilt absolut und damit einkünfteübergreifend. Der Freibetrag auch
für den Gewerbebetreibenden wird verbraucht, wenn ihn der Steuerpflichtige bei der Aufgabe oder Veräußerung
seines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs oder einer freiberuflichen Praxis in Anspruch nimmt (so auch Kanzler,
Finanz-Rundschau --FR-- 2000, 1245, 1254; Reiß in Kirchhof, a.a.O., § 16 Rz 508; Kauffmann in Frotscher, EStG, 6.
Aufl., § 16 Rz 257; R 139 Abs. 13 Satz 5 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 2003, und R 16 Abs. 13 Satz 5
EStR 2007; a.A. Paus, Die Information über Steuer und Wirtschaft, 1995, 577, 586; Wendt, FR 2000, 1199 Fn. 5;
Schmidt/Wacker, EStG, 28. Aufl., § 16 Rz 581; Kobor in Hermann/Heuer/Raupach, § 16 EStG Rz 530; Gänger in
Bordewin/Brandt, § 16 EStG Rz 258; Stahl in Korn, § 16 EStG Rz 418).
14 Zu Recht hat das FG darauf abgestellt, dass sowohl § 14 Satz 2 EStG (mit Einschränkung) als auch § 18 Abs. 3 Satz 2
EStG § 16 Abs. 4 EStG für entsprechend anwendbar erklären. Dabei handelt es sich nicht um eine Rechtsfolgen-,
sondern um eine Rechtsgrundverweisung (Kanzler, FR 2000, 1245, 1254), mit der Folge, dass der Freibetrag nur
unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 EStG zu gewähren ist.
15 Dass sowohl § 14 Satz 2 EStG als auch § 18 Abs. 3 Satz 2 EStG Rechtsgrundverweisungen beinhalten und § 16 Abs.
4 Satz 2 EStG einkünfteüberschreitend zu beachten ist, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen
Regelung. Vor Änderung des § 16 Abs. 4 EStG durch das Jahressteuergesetz 1996 (JStG 1996) vom 11. Oktober
1995 (BGBl I 1995, 1250) gewährte die Vorschrift eine betriebsbezogene Steuerbefreiung in Form eines Freibetrags,
der abhängig von der Höhe des jeweils erzielten Gewinns (ggf. bis auf 0 DM) abgeschmolzen wurde. Der Freibetrag
wurde bei Veräußerung oder Aufgabe jeder betrieblichen (gewerblichen, freiberuflichen oder land- und
forstwirtschaftlichen) Einheit berücksichtigt; wurden allerdings ein Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil veräußert
oder aufgegeben, wurde der Freibetrag nur anteilig bezogen auf den gesamten Betrieb oder die Summe der
Mitunternehmeranteile angesetzt. Bei der Veräußerung oder Aufgabe mehrerer betrieblicher Einheiten (gleichgültig,
ob es sich um mehrere Gewerbebetriebe und/oder Betriebe selbständig Tätiger oder von Land- und Forstwirten
handelte), konnte der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG mehrfach zur Anwendung kommen. Bei Einführung von § 16
Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996 hat der Gesetzgeber offensichtlich berücksichtigt, dass eine mehrfache
Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG Inhaber mehrerer Betriebe oder betrieblicher Teileinheiten
gegenüber solchen Betriebsinhabern privilegiert, die ihre betrieblichen Aktivitäten in einer betrieblichen Einheit
bündeln (müssen). Da in ertragsteuerlicher Hinsicht jeder Steuerpflichtige nur eine betriebliche Sphäre hat, sollte der
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG personenbezogen und damit einkünfteübergreifend gewährt werden. Nur "einmal im
Leben" sollte ein Steuerpflichtiger bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen (Vollendung des 55. Lebensjahres bzw.
dauernde Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn) den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG in
Anspruch nehmen können. Im Gegenzug dazu hat der Gesetzgeber die Veräußerung bzw. Aufgabe eines Teilbetriebs
oder Mitunternehmeranteils der Veräußerung bzw. Aufgabe eines ganzen Gewerbebetriebs gleichgestellt.
Gleichzeitig hat der Gesetzgeber Steuerpflichtigen durch das Antragsrecht die Wahl gelassen, selbst zu entscheiden,
für welchen Gewinn sie den Freibetrag beanspruchen wollen.
16 Ausgehend von diesem gesetzlichen Regelungszweck ist es folgerichtig, § 16 Abs. 4 EStG einkunftsartenübergreifend
und damit personenbezogen zu betrachten. § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG erkennt den Freibetrag "dem Steuerpflichtigen"
nur einmal für alle Gewinneinkunftsarten zu (Kauffmann in Frotscher, a.a.O., § 16 Rz 257). Es wäre sinnwidrig, einem
Steuerpflichtigen, der mehrere gewerbliche betriebliche Einheiten veräußert oder aufgibt, die mehrfache Gewährung
des Freibetrags unter Hinweis auf § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG zu versagen, einem anderen Steuerpflichtigen, dessen
verschiedene betriebliche Einheiten aber unterschiedlichen Einkunftsarten zuzuordnen sind, im Veräußerungs- oder
Aufgabefall den Freibetrag mehrfach zu gewähren.