Urteil des BFH vom 26.04.1984

Geschäftsführerhaftung: Verletzung von Überwachungspflichten - Amtsermittlungsgrundsatz

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 22.7.2010, VII B 126/09
Geschäftsführerhaftung: Verletzung von Überwachungspflichten - Amtsermittlungsgrundsatz
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) war einer von zwei Geschäftsführern einer GmbH, die zu einer
Unternehmensgruppe gehörte, für deren sämtliche Gesellschaften im Jahre 2002 Insolvenzverfahren eröffnet wurden.
Weiterer Geschäftsführer war, wie in den anderen Gesellschaften auch, der Firmengründer A.
2 Für Lohnsteuerzeiträume vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nahm der Beklagte und Beschwerdeführer (das
Finanzamt --FA--) den Kläger in Haftung. Den dagegen eingelegten Einspruch wies das FA zurück. Das Finanzgericht
(FG) hob den Haftungsbescheid auf. Zwar habe der Kläger als Geschäftsführer grundsätzlich die steuerlichen Pflichten
der GmbH zu erfüllen, er habe aber deren Nichterfüllung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verursacht. Mangels
Vorlage einer schriftlichen Aufgabenverteilung zwischen den beiden Geschäftsführern, durch die er entlastet worden
wäre, könne er zwar eine generelle Beschränkung seiner Verantwortung nicht erreichen. Der bei einem Geschäft des
laufenden Geschäftsverkehrs --wie der Anmeldung und Abführung von Lohnsteuer-- nur allgemeinen
Überwachungspflicht sei der Kläger aber in vollem Umfang nachgekommen, indem er sich anlässlich des
wöchentlichen Treffens aller Geschäftsführer der Unternehmensgruppe über die jeweiligen Geschäftsbereiche
informiert habe. Der dafür intern zuständige Geschäftsführer A habe die wirtschaftliche Lage des Unternehmens stets
positiv dargestellt. Angesichts des bisherigen großen wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmens habe keine
Veranlassung bestanden, an der persönlichen Vertrauenswürdigkeit und der fachlichen Eignung des allenthalben als
seriös angesehenen Geschäftsmannes zu zweifeln. Da außer A die Krise der Gesellschaft niemandem bekannt war,
habe auch insoweit keine erhöhte Überwachungspflicht bestanden. Aber selbst eine etwaige Pflichtverletzung des
Klägers bei der Überwachung wäre nicht in der für eine Haftungsinanspruchnahme erforderlichen Weise kausal. Denn
auch weitere Nachprüfungen würden zu keinem Ergebnis geführt haben, da, wie die Beweisaufnahme ergeben habe,
er, der Kläger, weder von A noch von Mitarbeitern der Buchhaltung, die von A entsprechend instruiert gewesen seien,
Informationen über die wirtschaftliche Situation oder über konkrete Finanzdaten erhalten hätte.
3 Seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stützt das FA auf sämtliche in § 115 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) genannten Zulassungsgründe.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unbegründet. Keiner der Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 FGO liegt vor.
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1. Die i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO für grundsätzlich bedeutend gehaltenen Rechtsfragen sind entweder geklärt
oder im Streitfall nicht erheblich.
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Das FG hat zum einen festgestellt, dass der Kläger den ihm obliegenden allgemeinen Überwachungspflichten in
vollem Umfang nachgekommen ist und dass er keine Kenntnis davon hatte, dass sich die Gesellschaft in einer Krise
befand. Zum anderen hat das FG seine Entscheidung --zumindest auch-- damit begründet, dass eine Verletzung der
Überwachungspflichten gegenüber dem anderen Geschäftsführer --sofern überhaupt eine solche angenommen
werden könne-- jedenfalls nicht kausal für die Nichtabführung der Lohnsteuer geworden sei, weil aufgrund der
Zeugenaussagen feststehe, dass der Kläger auch bei den nach den besonderen Umständen dieses Falles gebotenen
Überprüfungsversuchen nicht richtig informiert worden wäre.
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Bei dieser Begründung kommt es nicht darauf an, ob das FG auf einen hypothetischen Kausalverlauf hat abstellen
dürfen. Das FA verkennt hier, dass es für das FG aufgrund der Beweisaufnahme feststeht, dass der Kläger bei
Nachforschungen keine zutreffenden Informationen erhalten hätte. Zwar rügt das FA in diesem Zusammenhang auch,
das FG habe zu geringe Anforderungen an die Intensität der gebotenen Überprüfung gestellt. Diese Frage begründet
jedoch keinen revisionsrechtlichen Klärungsbedarf. Die dem zugrunde liegende Rechtsfrage ist zumindest seit den
vom FG und FA zitierten Entscheidungen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE
141, 443, BStBl II 1984, 776; Senatsurteil vom 30. August 1994 VII R 101/92, BFHE 175, 509, BStBl II 1995, 278) dahin
geklärt, dass Art und Umfang der Überwachung von den Umständen des Einzelfalles abhängen, wobei
Vertrauenswürdigkeit und Pflichterfüllung des die steuerlichen Geschäfte Betreuenden berücksichtigt werden können.
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Dem Vorbringen des FA ist nicht zu entnehmen, dass das FG von diesen Rechtssätzen abgewichen ist. Insbesondere
hat es zutreffend darauf abgestellt, dass das Einbehalten und Abführen von Lohnsteuer zum laufenden
Geschäftsverkehr gehört, zu dessen Kontrolle der intern damit nicht betraute Geschäftsführer nur bei gegebenen
Anlass verpflichtet ist, etwa wenn die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft oder die Person des handelnden
Geschäftsführers zu einer Überprüfung Veranlassung geben (Senatsbeschluss vom 21. August 2000 VII B 260/99,
BFH/NV 2001, 413). Wenn das FA beanstandet, dass die vom FG wegen der Vertrauenswürdigkeit des A als
ausreichend angesehenen wöchentlichen Gespräche nicht als Maßnahmen zur Überwachung der steuerlichen
Pflichterfüllung der GmbH ausreichen, so liegt darin die Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung bzw.
Tatsachenwürdigung, die die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht rechtfertigt.
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2. Die Revision ist auch nicht zur Sicherung der Rechtseinheit i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO geboten. Zwar weist das
FA zutreffend darauf hin, dass dieser Zulassungsgrund auch dann greift, wenn die angefochtene Entscheidung
greifbar rechtswidrig ist. Eine Entscheidung ist nur dann (objektiv) willkürlich in diesem Sinn, wenn die fehlerhafte
Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass
sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Greifbare Gesetzeswidrigkeit ist anzunehmen, wenn das Urteil jeglicher
gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden
Gesetzesauslegung beruht (BFH-Beschlüsse vom 1. September 2008 IV B 4/08, BFH/NV 2009, 35; vom 8. Februar
2006 III B 128/04, BFH/NV 2006, 1116, m.w.N.). Dazu reicht indes eine bloß fehlerhafte Umsetzung von
Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalles nicht aus (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Januar
2006 VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799).
10 Derart gravierende Mängel des FG-Urteils hat das FA nicht vorgebracht. Insbesondere übersieht es bei seinen
Einwänden gegen die Entscheidung die Bedeutung, die das FG offensichtlich dem besonderen Vertrauen
beigemessen hat, das der Kläger in den Firmengründer und Mitgeschäftsführer A gesetzt hat und --nach Auffassung
des Gerichts-- im Hinblick auf dessen unangefochtene Reputation bei Banken und sogar bei der Landesregierung im
Streitzeitraum auch haben durfte. Es ist der tatrichterlichen Würdigung überlassen, welches Gewicht es den jeweiligen
Gesichtspunkten beimisst. Anlass zur Feststellung, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung geschädigt sei, gibt
eine dergestalt wertende Entscheidung nicht.
11 3. Die Nichtbeiziehung der Vollstreckungsakten rechtfertigt die Zulassung der Revision wegen eines
Verfahrensfehlers i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO --unabhängig davon, ob es auf den Inhalt dieser Akten nach der
insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des FG ankam-- nicht.
12 Der im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Untersuchungsgrundsatz nach § 76 Abs. 1 FGO ist eine
Verfahrensvorschrift, auf deren Einhaltung ein Beteiligter --ausdrücklich oder durch Unterlassen einer Rüge-- mit der
Folge des endgültigen Rügeverlusts verzichten kann (BFH-Beschlüsse vom 25. Januar 2008 X B 90/07, BFH/NV
2008, 610; vom 29. Februar 2008 IV B 21/07, BFH/NV 2008, 974, und vom 28. März 2008 IV B 56-57/07, BFH/NV
2008, 1186).
13 Das FA hat das Recht, das Unterlassen weiterer Sachaufklärung als Verfahrensrüge (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend
zu machen, nach § 155 FGO i.V.m. § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung dadurch verloren, dass es die Akten nicht
spätestens in der mündlichen Verhandlung selbst vorgelegt bzw. die Beiziehung nicht verlangt hat, obwohl ihm
bekannt war oder zumindest bekannt sein musste, dass das FG keine weitere Sachaufklärung vornehmen werde. Das
FG hat zwar nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Indes wird der
Amtsermittlungsgrundsatz durch die Mitwirkungspflichten der Beteiligten nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO begrenzt. Die
Sachaufklärungsrüge kann nicht dazu dienen, Aufklärungsmaßnahmen zu ersetzen, welche eine fachkundig
vertretene Partei selbst in zumutbarer Weise hätte treffen bzw. erbringen können, diese jedoch unterlassen hat (BFH-
Beschluss vom 10. Februar 2010 IX B 163/09, BFH/NV 2010, 887).