Urteil des BFH vom 26.11.2009

BFH: Bindungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheides, treu und glauben, einkünfte, bekanntgabe, einspruch, verwaltungsakt, bauer, wiedergabe, behörde, rechtsnorm

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 26.11.2009, III R 85/07
Bindungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheides
Tatbestand
1 I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog im Jahr 2004 Kindergeld für ihren Sohn D,
der eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolvierte. Im März 2005 übermittelte sie der Beklagten,
Revisionsbeklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) eine Lohnsteuerbescheinigung sowie eine Aufstellung der
Werbungskosten, die D im Jahr 2004 aufgewandt hatte. Aus der Bescheinigung ergab sich ein Bruttoarbeitslohn von
10.238,81 EUR. Durch Bescheid vom 18. April 2005 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes "mit
Wirkung vom 01.01.04 gemäß § 70 Abs. 4 EStG" auf. Sie wies darauf hin, dass eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben
oder zu ändern sei, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag
nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) über- oder unterschritten hätten. Sie war der Ansicht,
die Einkünfte und Bezüge von D hätten sich im Jahr 2004 auf mehr als 7.680 EUR belaufen. Die Familienkasse forderte
außerdem das für 2004 gezahlte Kindergeld von 1.848 EUR zurück. Die Klägerin legte gegen den Bescheid, der mit
einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, keinen Einspruch ein.
2 Mit Schreiben vom 1. Juni 2005 beantragte die Klägerin die "Rückerstattung" des Kindergeldes für 2004. Sie verwies
auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164,
BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach dem die Sozialversicherungsbeiträge eines nichtselbständig beschäftigten Kindes
nicht in dessen Einkünfte und Bezüge einbezogen werden dürfen. Die Familienkasse behandelte den
Rückerstattungsantrag als Antrag auf Zahlung von Kindergeld. Sie lehnte durch Bescheid vom 17. August 2005 eine
Änderung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2004 bis April 2005 ab, da dem die Bestandskraft des
Bescheids vom 18. April 2005 entgegenstehe, die bis zum Monat der Bekanntgabe reiche. Für die Zeit danach setzte
sie Kindergeld fest. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.
3 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der die Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum Januar
2004 bis April 2005 begehrte, zum Teil statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für die Zeit von Januar 2005
bis April 2005 zu gewähren, im Übrigen (Jahr 2004) wies es die Klage ab (Urteil vom 23. August 2007 14 K 5328/05
Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1959). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Bescheid
vom 18. April 2005 entfalte für das Jahr 2004 Bindungswirkung, nicht aber für die Monate Januar 2005 bis April 2005. In
diesem Zeitraum hätten die Einkünfte und Bezüge von D den Grenzbetrag nach Abzug der abgeführten
Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten. Die Familienkasse habe die Aufhebung der Festsetzung damit
begründet, dass die Einkünfte und Bezüge von D im Jahr 2004 den Grenzbetrag überstiegen hätten. Die Klägerin habe
den Bescheid dahin verstehen können, dass die Familienkasse die Festsetzung ausschließlich für das Jahr 2004
geprüft habe und nur für dieses Jahr die Festsetzung habe aufheben wollen.
4 Gegen das Urteil wenden sich beide Beteiligten mit der Revision. Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor,
§ 70 Abs. 4 EStG sei im Streitfall im Wege der verfassungskonformen Auslegung anzuwenden, auch wenn der
Aufhebungsbescheid vom 18. April 2005 erst nach Ablauf des Jahres 2004 ergangen sei. Die Ansicht des FG, die
Vorschrift sei nur bei einer Abweichung der tatsächlichen Einkünfte und Bezüge von den prognostizierten einschlägig,
werde durch den Wortlaut nicht gestützt.
5 Die Familienkasse führt zur Begründung der von ihr eingelegten Revision aus, der Bundesfinanzhof (BFH) habe
mehrfach entschieden, dass die Bindungswirkung eines Aufhebungsbescheids mit dem Monat der Bekanntgabe ende.
6 Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Bescheid vom 17. August 2005 sowie die dazu
ergangene Einspruchsentscheidung vom 28. November 2005 insoweit aufzuheben, als sie das Jahr 2004 betreffen und
die Familienkasse zu verpflichten, für dieses Jahr Kindergeld zu gewähren; außerdem beantragt sie, die Revision der
Familienkasse zurückzuweisen.
7 Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als
es den Zeitraum Januar 2005 bis April 2005 betrifft, sowie die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8
II. Die Revisionen der Familienkasse und der Klägerin sind unbegründet und werden zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2
der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die (negative) Bindungswirkung des
Aufhebungsbescheids vom 18. April 2005 das Jahr 2004 erfasst, nicht aber den Zeitraum Januar 2005 bis April 2005.
9
1. Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
10 a) Der Aufhebungsbescheid der Familienkasse vom 18. April 2005, mit dem diese die Kindergeldfestsetzung ab
Januar 2004 aufgehoben hat, weil nach ihrer Ansicht die Einkünfte und Bezüge von D im Jahr 2004 den
Jahresgrenzbetrag überstiegen, ist wirksam. Ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG
abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteile vom 28.
Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, und vom 28. November 2006 III R 6/06, BFHE 216, 138,
BStBl II 2007, 717).
11 b) Der wirksame Bescheid ist bestandskräftig, da die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1
der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat. Die Bestandskraft wird durch den Beschluss des BVerfG in
BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78
BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im
Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteile in BFHE
214, 287, BStBl II 2007, 714, sowie in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).
12 c) Eine Änderung des Aufhebungsbescheids vom 18. April 2005 zugunsten der Klägerin im Hinblick auf den
Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ist nicht möglich. Nach ständiger
Rechtsprechung des Senats kann ein Bescheid, durch den die Zahlung von Kindergeld abgelehnt oder durch den die
Kindergeldfestsetzung aufgehoben worden ist, nicht geändert werden, da die Voraussetzungen für eine Korrektur
weder nach den §§ 172 ff. AO noch nach § 70 EStG gegeben sind (Senatsurteile in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714,
sowie in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).
13 2. Die Revision der Familienkasse ist ebenfalls unbegründet. Zutreffend hat das FG den Aufhebungsbescheid dahin
ausgelegt, dass die Kindergeldfestsetzung nur für das Jahr 2004 aufgehoben und darüber hinaus keine Regelung
getroffen werden sollte.
14 a) Zwar erstreckt sich die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von
Kindergeld abgelehnt oder auf 0 EUR (DM) festgesetzt oder durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird,
in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (z.B. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001
VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88, und VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; Senatsurteil vom 14.
Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530). Allerdings ist es der Familienkasse unbenommen, in
einem Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid eine hiervon abweichende zeitliche Regelung zu treffen.
15 b) Das FG hat den Inhalt des Bescheids vom 18. April 2005 zu Recht dahin ausgelegt, dass aus der Sicht der Klägerin
nur für das Jahr 2004 eine Verwaltungsentscheidung ergehen sollte.
16 aa) Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Einem Verwaltungsakt muss
der Regelungsinhalt eindeutig zu entnehmen sein (BFH-Urteil vom 22. August 2007 II R 44/05, BFHE 218, 494, BStBl
II 2009, 754). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung der
Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu ermitteln. Entscheidend sind der erklärte Wille
der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach
den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteile vom
18. Februar 1997 VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339; vom 11. Juli 2006 VIII R 10/05, BFHE 214, 18, BStBl
II 2007, 96; vom 9. April 2008 II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). Bei der Auslegung ist nicht allein auf den Tenor des
Bescheids abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der für den Bescheid
gegebenen Begründung (BFH-Urteil in BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754, m.w.N.). Die Auslegung des Inhalts von
Verwaltungsakten durch das FG ist im Revisionsverfahren in vollem Umfang nachprüfbar (Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 25, m.w.N.).
17 bb) Die Klägerin konnte den Bescheid vom 18. April 2005 dahin verstehen, dass nur für das Jahr 2004 eine
(ablehnende) Regelung getroffen werden sollte. Zwar ist darin nur der 1. Januar 2004 als Zeitpunkt genannt, ab dem
die Kindergeldfestsetzung aufgehoben werden sollte. Eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung der
Verwaltungsentscheidung fehlt. Jedoch geht aus dem gesamten Inhalt des Bescheids hervor, dass die Familienkasse
nur das Jahr 2004 beurteilen wollte. Zum einen wurde die Aufhebung damit begründet, dass die Einkünfte und
Bezüge von D im Jahr 2004 die maßgebliche Jahresgrenze überschritten hätten. Zum anderen ergibt sich auch aus
dem Hinweis auf § 70 Abs. 4 EStG, dass nur eine auf das Jahr 2004 bezogene Betrachtung angestellt werden sollte.
18 Die durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) mit
Wirkung ab 1. Januar 2002 eingeführte Vorschrift ermöglicht die Korrektur von Kindergeldbescheiden in den Fällen, in
denen sich nachträglich Abweichungen der tatsächlich erzielten Einkünfte und Bezüge des Kindes von den
prognostizierten ergeben (Senatsurteil in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; Blümich/ Treiber, § 70 EStG Rz 32;
Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1; Pust in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70 EStG Rz 242). Ein Bescheid, durch den eine
Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben wird, betrifft einen Prognosezeitraum und nicht darüber
hinaus den Zeitraum bis zum Monat der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids. Die Klägerin konnte den Hinweis
auf § 70 Abs. 4 EStG und dessen wörtliche Wiedergabe dahin verstehen, dass nur die Festsetzung für das Jahr 2004
aufgehoben werden sollte. Für die Zeit danach gab die Familienkasse keine Änderungsvorschrift an. Die Klägerin
hatte somit allen Anlass zu der Annahme, der Aufhebungsbescheid betreffe nur das Jahr 2004.
19 3. Die Kostenentscheidung war nach dem Maß des Unterliegens der Klägerin und der Familienkasse unter
Zugrundelegung der zusammengerechneten Streitwerte zu treffen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO; vgl. BFH-Beschluss vom
20. August 1998 XI B 66/97, BFH/NV 1999, 478, m.w.N.).