Urteil des BFH vom 02.11.2010

Gesamtergebnis des Verfahrens - Berücksichtigung der Akten durch das FG - Ernsthaftigkeit einer Gegenleistung bei "symbolischem" Kaufpreis

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 2.11.2010, II B 61/10
Gesamtergebnis des Verfahrens - Berücksichtigung der Akten durch das FG - Ernsthaftigkeit einer Gegenleistung bei
"symbolischem" Kaufpreis
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine Grundstücksentwicklungsgesellschaft, erwarb mit notariell
beurkundetem Kaufvertrag vom 5. November 2002 von einer Bank im Gemeindegebiet der Stadt S gelegene Wege-
und Stellplatzflächen; der Kaufpreis betrug 1 EUR. Diese Grundstücksflächen gehörten zu einem Baugebiet, das durch
einen privaten Erschließungsträger erschlossen werden sollte. Bezüglich der erworbenen Grundstücke war in einem
Schreiben an S vom 24. September 2002 bestätigt worden, dass die Bank die im Bebauungsplan als öffentliche
Verkehrsflächen ausgewiesenen Flächen zu einem späteren Zeitpunkt gegen Zahlung eines Kaufpreises von 1 EUR
lastenfrei an S übertragen werde. Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 5. Juni 2009 übertrug die Klägerin nach
durchgeführter Erschließung näher bezeichnete Grundstücksflächen an S; der Kaufpreis betrug ebenfalls 1 EUR.
2 Durch Bescheid vom 20. Juni 2003, geändert durch Bescheid vom 4. März 2010, setzte der Beklagte und
Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) gegen die Klägerin für den Erwerbsvorgang vom 5. November 2002
Grunderwerbsteuer in Höhe von 24.412 EUR fest. Bemessungsgrundlage war gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des
Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) der gesondert festgestellte Bedarfswert der erworbenen Grundstücke von
697.500 EUR.
3 Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung
aus, die Voraussetzungen, unter denen gemäß Erlass des Finanzministeriums des Landes Rheinland-Pfalz vom 1.
Oktober 1998 (GrESt-Kartei OFD Koblenz § 8 GrEStG Karte 1) für die unentgeltliche Übertragung von Grundstücken mit
Erschließungsanlagen auf Gebietskörperschaften der Wertansatz 0 DM/EUR beträgt, seien vorliegend nicht erfüllt.
4 Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels.
Entscheidungsgründe
5
II. Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr.
3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) vor, auf dem die angefochtene Entscheidung des FG beruhen kann. Die
Klägerin rügt zu Recht, dass das FG seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 Abs. 1
Satz 1 FGO) gewonnen hat.
6
1. Das FG ist gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verpflichtet, sich bei seiner Entscheidung auf das Gesamtergebnis des
Verfahrens zu stützen. Dazu hat das FG den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu
berücksichtigen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. November 2001 II B 29/00, BFH/NV 2002, 512;
vom 22. Juli 2004 II B 26/03, BFH/NV 2004, 1546; von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 96 Rz 8,
m.w.N.). Dabei gehört zum Akteninhalt u.a. das Vorbringen der Beteiligten (BFH-Urteil vom 6. Dezember 1978 I R
131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1979, 162). Das FG muss in seinem Urteil zwar nicht auf jede Einzelheit des
Sachverhalts und des Beteiligtenvortrags ausdrücklich eingehen (BFH-Beschluss vom 7. Juli 2004 X B 63/03, BFH/NV
2004, 1653, 1654, m.w.N.). Es verletzt jedoch seine Pflicht zur vollständigen Berücksichtigung des Streitstoffs, wenn es
einen bestimmten Tatsachenvortrag erkennbar unberücksichtigt lässt, obwohl dieser auf der Basis seiner materiell-
rechtlichen Auffassung entscheidungserheblich sein kann (BFH-Beschlüsse vom 21. Dezember 2004 I B 128/04,
BFH/NV 2005, 994; vom 24. Juli 2006 VIII B 233/05, BFH/NV 2006, 2110).
7
Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben.
8
2. Nach der --zutreffenden-- materiell-rechtlichen Auffassung des FG kann einem Kaufpreis von 1 DM/EUR nicht
generell die Eigenschaft als Gegenleistung i.S. des § 8 Abs. 1 GrEStG abgesprochen werden. Von einem nicht als
Gegenleistung anzusehenden "symbolischen" Kaufpreis, bei dem sich die Bemessungsgrundlage nach § 8 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 GrEStG bestimmt, kann nicht gesprochen werden, wenn besondere Umstände vorliegen, aus denen sich
die Ernsthaftigkeit dieser Kaufpreisvereinbarung ergibt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 7. Dezember 1994 II R 9/92, BFHE
176, 456, BStBl II 1995, 268; Hofmann, Grunderwerbsteuergesetz, Kommentar, 9. Aufl., § 8 Rz 35).
9
Die Klägerin hat dazu im Einspruchsverfahren (Schriftsätze vom 14. Juli 2003 und 30. September 2005) vorgetragen,
sie sei dazu verpflichtet, der S die Wege- und Verkehrsflächen nach erfolgter Bebauung lastenfrei wieder für 1 EUR zu
übertragen. Der Wert dieser Flächen habe für sie --die Klägerin-- demnach tatsächlich 1 EUR betragen.
10 Ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG ist dieses Vorbringen der Klägerin geeignet, den im
Vertrag vom 5. November 2002 vereinbarten Kaufpreis von 1 EUR als ernsthaft vereinbart zu beurteilen. Das FG hat
dieses entscheidungserhebliche Vorbringen jedoch unberücksichtigt gelassen und nur ausgeführt, die Klägerseite
habe "lediglich ganz allgemeine Ausführungen gemacht, die belegen sollen, dass für die Klägerin keine besondere
Werthaltigkeit gegeben gewesen sein sollte". Die Entscheidungserheblichkeit des Vorbringens der Klägerin konnte
das FG auch nicht mit der Begründung ausschließen, die Klägerin habe im gerichtlichen Verfahren (Schriftsatz vom 1.
April 2009) selbst auf einen lediglich "symbolischen Preis" hingewiesen. Dieses Vorbringen der Klägerin bezog sich
ausschließlich auf die Übertragung der hier fraglichen Grundstücksflächen auf S gemäß Vertrag vom 5. Juni 2009.
Überdies fehlt auch jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin mit ihrer Ausdrucksweise die von ihr geltend
gemachte Ernstlichkeit der Kaufpreisvereinbarung im Vertrag vom 5. November 2002 habe einschränken oder gar
aufgeben wollen. Soweit schließlich das FG eine Bindungswirkung der im Schreiben der Bank vom 24. September
2002 an S angekündigten späteren Übertragung der hier fraglichen Grundstücksflächen gegen Zahlung eines
Kaufpreises von 1 EUR verneint hat, beschränkte sich die rechtliche Prüfung des FG allein auf die Anwendbarkeit des
Erlasses des Finanzministeriums Rheinland-Pfalz vom 1. Oktober 1998 (a.a.O.). Eine Prüfung der vorliegend
entscheidungserheblichen Frage, ob der vereinbarte Kaufpreis von 1 EUR unter Berücksichtigung einer zumindest
gegebenen Absicht der Klägerin zu einer solchen Weiterübertragung als ernstlich vereinbart angesehen und deshalb
gemäß § 8 Abs. 1 GrEStG als Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer zugrunde gelegt werden kann, ist
unterblieben.
11 3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den
Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG hat die
erforderlichen Feststellungen dazu zu treffen, ob der Kaufpreis im Vertrag vom 5. November 2002 ernsthaft vereinbart
wurde. Dabei wird das FG auch zu prüfen haben, ob die Gesamtheit oder lediglich Teilflächen der in diesem Vertrag
veräußerten Grundstücke zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Kaufpreis von 1 EUR an S übertragen werden
sollten.