Urteil des BFH vom 31.07.2009
BFH: Sog. Grenzübertrittsbescheinigung kindergeldrechtlich nicht ausreichend, Aufenthaltsgenehmigung, soziale sicherheit, aufenthaltserlaubnis, besitz, duldung, ausländer, arbeitslosenversicherung
BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 31.7.2009, III B 152/08
Sog. Grenzübertrittsbescheinigung kindergeldrechtlich nicht ausreichend - Aufenthaltsgenehmigung
Tatbestand
1 I. Die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb nach ihrer
Einreise in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) zunächst erfolglos ein Asylverfahren. Danach war sie im
Besitz eines von der Ausländerbehörde ausgestellten, als "Ausreiseaufforderung und Grenzübertrittsbescheinigung für
Ausländer" bezeichneten Schreibens, aus dem hervorgeht, dass die Klägerin verpflichtet war, die Bundesrepublik bis
zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verlassen. Bei einem Verlassen des Bundesgebiets hätte der Grenzübertritt von der
Grenzpolizei bescheinigt werden sollen. Das Ausreisedatum wurde mehrfach hinausgeschoben. Im April 2005 erhielt
die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), im März 2007 eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG.
2 Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hatte zunächst Kindergeld für vier Kinder festgesetzt. Durch
Bescheid vom 30. März 2007 hob sie die Festsetzung für die Monate Januar bis Oktober 2006 auf und forderte einen
Betrag von 6 410 EUR zurück, da die Klägerin in diesem Zeitraum keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
ausgeübt hatte. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
3 Das Finanzgericht (FG) führte im Wesentlichen aus, die Klägerin habe im streitigen Zeitraum zwar eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG besessen, sie habe jedoch nicht die Voraussetzung eines
rechtmäßigen, gestatteten oder geduldeten Aufenthalts in der Bundesrepublik von mindestens drei Jahren erfüllt (§ 62
Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Die Grenzübertrittsbescheinigung könne nicht einer
Gestattung oder Duldung gleichgesetzt werden. Auch stehe der Klägerin kein Kindergeld nach dem Abkommen
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale
Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, 1438) i.d.F. des Änderungsabkommens vom 30. September 1974 (BGBl
II 1975, 390) zu, da in der Kundenhistorie der Arbeitsagentur für die Monate Januar bis Oktober 2006 kein
Erwerbseinkommen berücksichtigt worden sei. Leistungen der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung habe die
Klägerin nicht bezogen.
4 Zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Ausländerbehörde habe ihr nach Abschluss des
Asylverfahrens mehr als vier Jahre lang sog. Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt. Sowohl das
Bundesverwaltungsgericht als auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hätten in mehreren Entscheidungen
hervorgehoben, dass es der Konzeption des Ausländergesetzes (AuslG 1990) entspreche, einen vollziehbar
ausreisepflichtigen Ausländer entweder abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG 1990 zu dulden. Bei der
Grenzübertrittsbescheinigung handele sich um ein von der Verwaltungspraxis "erfundenes" Schriftstück. Die
Ausländerbehörde wäre verpflichtet gewesen, eine Duldung oder sogar eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3
AuslG 1990 zu erteilen. Jedenfalls sei die faktische Hinnahme des Aufenthalts der Klägerin über einen Zeitraum von
mehr als vier Jahren einem geduldeten Aufenthalt gleichzusetzen. Diesem Umstand komme grundsätzliche Bedeutung
zu. Die Rechtsfrage, die für eine Vielzahl von Fällen von Bedeutung sei, sei bislang noch nicht durch den
Bundesfinanzhof (BFH) geklärt worden. Im Übrigen werde angeregt, die Sache im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse
des FG Köln vom 9. Mai 2007 10 K 1690/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2007, 1247) sowie 10 K
1689/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2008, 160) dem BVerfG vorzulegen.
Entscheidungsgründe
5 II. 1. Das Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist nicht im Hinblick auf die
Vorlagebeschlüsse des FG Köln in EFG 2007, 1247 sowie in DStRE 2008, 160 entsprechend § 74 FGO auszusetzen.
Der Senat hat zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG
Stellung genommen und ausgeführt, weshalb er die vom FG Köln in den beiden Beschlüssen vorgebrachten
verfassungsrechtlichen Bedenken nicht teilt (Urteile vom 15. März 2007 III R 93/03, BFHE 217, 443, BFH/NV 2007,
1234, sowie III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298; vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457; III
R 63/04, BFH/NV 2008, 771, sowie III R 60/99, BFHE 220, 39, BFH/NV 2008, 846).
6 Eine Aussetzung des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes --wie von der Klägerin angeregt--, um eine
Entscheidung des BVerfG einzuholen, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil im Verfahren wegen Nichtzulassung
der Revision eine Vorlage an das BVerfG nicht möglich ist.
7 2. Die Beschwerde ist unbegründet. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die von der Klägerin --
sinngemäß-- aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine über mindestens drei Jahre hinweg verlängerte sog.
Grenzübertrittsbescheinigung kindergeldrechtlich einer Duldung gleichzusetzen ist, könnte in einem
Revisionsverfahren nicht geklärt werden, da die weiteren Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG nicht
erfüllt sind. Hiernach hängt die Kindergeldberechtigung eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist, u.a. davon ab, dass er im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende
Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt. Die
Klägerin war im streitigen Zeitraum nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt und bezog auch keine Leistungen
nach dem SGB III; die Inanspruchnahme von Elternzeit wurde nicht behauptet.
8 Unabhängig hiervon ist die Rechtsfrage, die nach Ansicht der Klägerin in einem Revisionsverfahren beantwortet
werden sollte, durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits geklärt. Der BFH hat entschieden, dass für die
Kindergeldberechtigung der "Besitz" einer ausreichenden ausländerrechtlichen Aufenthaltsgenehmigung nach dem
AuslG 1990 oder eines aufenthaltsrechtlichen Titels nach dem AufenthG entscheidend ist und es nicht darauf ankommt,
ob ein Anspruch auf eine entsprechende Genehmigung bzw. einen entsprechenden Titel besteht (s. BFH-Beschlüsse
vom 18. Dezember 1998 VI B 221/98, BFHE 187, 562, BStBl II 1999, 140; vom 14. August 1997 VI B 43/97, BFH/NV
1998, 169; vom 1. Dezember 1997 VI B 147/97, BFH/NV 1998, 696, und vom 18. Februar 2009 III B 132/08, BFH/NV
2009, 922).