Urteil des BFH vom 24.09.2013

Keine regelmäßige Arbeitsstätte bei wiederholter befristeter Zuweisung des Arbeitnehmers an einen anderen Betriebsteil des Arbeitgebers

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 24.9.2013, VI R 51/12
Keine regelmäßige Arbeitsstätte bei wiederholter befristeter Zuweisung des Arbeitnehmers an
einen anderen Betriebsteil des Arbeitgebers
Leitsätze
Ein Arbeitnehmer, der von seinem Arbeitgeber wiederholt für ein Jahr befristet an einem anderen
Betriebsteil des Arbeitgebers als seinem bisherigen Tätigkeitsort eingesetzt wird, begründet dort
keine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG.
Tatbestand
1 I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 2007 zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus
seiner Tätigkeit als leitender Ingenieur bei der X AG. Die Einstellung im Jahre 1984 erfolgte
für die Zweigstelle in A. Im Streitjahr 2007 war der Kläger bereits seit mehreren Jahren jeweils
für ein Jahr befristet bei einem Betriebsteil seines Arbeitgebers in B tätig.
2 In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger Kosten für Fahrten
zwischen dem Wohnort des Klägers in C und seiner Zweitwohnung am Arbeitsort und für
Fahrten zwischen der Zweitwohnung und der Arbeitsstätte in B nach Dienstreisegrundsätzen
geltend.
3 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) vertrat im
Einkommensteuerbescheid vom 29. Juli 2008 die Auffassung, eine Auswärtstätigkeit liege
nicht vor. Der Kläger habe vielmehr in B eine regelmäßige Arbeitsstätte und unterhalte dort
eine doppelte Haushaltsführung. Wegekosten seien deshalb lediglich --in Höhe der
Entfernungspauschale-- für die Fahrten zwischen der Zweitwohnung und der Arbeitsstätte
anzuerkennen. Familienheimfahrten seien nicht zu berücksichtigen. Denn der Kläger habe
hierfür eine steuerfreie Erstattung von 0,30 EUR je Entfernungskilometer erhalten.
4 Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) als
unbegründet ab. Es vertrat die Auffassung, bei den geltend gemachten Fahrtkosten handele
es sich um Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bzw. um Familienheimfahrten im
Rahmen einer doppelten Haushaltsführung, nicht hingegen um Fahrten im Rahmen einer
Auswärtstätigkeit.
5 Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Sie wenden sich gegen
die Annahme des FG, der Tätigkeitsort in B stelle eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. von § 9
Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) dar.
6 Die Kläger beantragen,
das Urteil des FG des Saarlandes vom 25. Januar 2012 2 K 1026/10 aufzuheben und den
Einkommensteuerbescheid vom 7. September 2010 in der Weise abzuändern, dass aufgrund
der Tätigkeit des Klägers in B insgesamt 11.728 EUR als Werbungskosten bei den Einkünften
aus nichtselbständiger Arbeit angesetzt werden.
7 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 II. 1. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat die Fahrtkosten
des Klägers für die Fahrten von seinem Wohnort in C nach seiner Tätigkeitsstätte in B sowie
die Fahrten von seiner Zweitwohnung nach dort zu Unrecht lediglich im Rahmen der
Entfernungspauschalen i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 und Nr. 5 EStG berücksichtigt. Denn
der Kläger war in B auswärts tätig.
9 2. Fahrtkosten eines Arbeitnehmers im Rahmen einer beruflich veranlassten
Auswärtstätigkeit sind Erwerbsaufwendungen und gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in Höhe
des dafür tatsächlich entstandenen Aufwands als Werbungskosten zu berücksichtigen. § 9
Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kommt insoweit nicht zur Anwendung (Senatsurteile vom 11. Mai
2005 VI R 7/02, BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782; VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II
2005, 785; vom 10. April 2008 VI R 66/05, BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825). Denn ein
Arbeitnehmer, der außerhalb einer dem Arbeitgeber zuzuordnenden Betriebsstätte oder an
einer solchen nur vorübergehend und damit auswärts tätig ist, hat typischerweise nicht die
Möglichkeit, seine Wegekosten gering zu halten (ständige Rechtsprechung, z.B.
Senatsurteile vom 17. Juni 2010 VI R 35/08, BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852; vom
9. Februar 2012 VI R 22/10, BFHE 236, 426, BStBl II 2012, 827).
10 a) Eine Auswärtstätigkeit liegt u.a. vor, wenn der Arbeitnehmer vorübergehend außerhalb
seiner Wohnung und seiner regelmäßigen Arbeitsstätte beruflich tätig wird (Senatsurteile
vom 15. Mai 2013 VI R 41/12, BFHE 241, 378, BStBl II 2013, 704; vom 13. Juni 2012
VI R 47/11, BFHE 238, 53, BStBl II 2013, 169; in BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825; in BFHE
209, 508, BStBl II 2005, 785; R 9.4 Abs. 2 Satz 1 der Lohnsteuer-Richtlinien --LStR--); dies
gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer seiner Berufstätigkeit vorübergehend längerfristig an
einer anderen betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers nachgeht. Denn eine
vorübergehende Tätigkeitsstätte wird nicht durch bloßen Zeitablauf zum
Tätigkeitsmittelpunkt bzw. zur regelmäßigen Arbeitsstätte des Arbeitnehmers (vgl.
Senatsurteile vom 19. Dezember 2005 VI R 30/05, BFHE 212, 218, BStBl II 2006, 378; vom
10. Juli 2008 VI R 21/07, BFHE 222, 391, BStBl II 2009, 818; Schmidt/Krüger, EStG,
32. Aufl., § 19 Rz 110, Stichwort: Reisekosten ; R 9.4 Abs. 3 Satz 4
LStR). Vielmehr wird eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers nur dann zur
regelmäßigen Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, wenn der Arbeitgeber
seinen Arbeitnehmer dieser Tätigkeitsstätte dauerhaft zugeordnet hat (Senatsurteile vom
19. Januar 2012 VI R 36/11, BFHE 236, 353, BStBl II 2012, 503; VI R 32/11, BFH/NV 2012,
936; vom 9. Juli 2011 VI R 55/10, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38; VI R 36/10, BFHE 234,
160, BStBl II 2012, 36; VI R 58/09, BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34).
11 b) Ob der Arbeitnehmer lediglich --unter Beibehaltung seiner bisherigen regelmäßigen
Arbeitsstätte-- "vorübergehend" in einer anderen betrieblichen Einrichtung seines
Arbeitgebers tätig wird oder von Anbeginn dauerhaft an den neuen Beschäftigungsort
entsandt wurde und dort eine (neue) regelmäßige Arbeitsstätte begründet hat, ist nach den
Gesamtumständen des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. z.B. Oberfinanzdirektion --OFD--
Münster, Kurzinfo ESt Nr. 1/2011 vom 4. Januar 2011, Der Betrieb 2011, 206; OFD
Rheinland und OFD Münster vom 13. Februar 2009 S 2338-1001-St 215 bzw. S 2353-20-St
22-31, Deutsches Steuerrecht 2009, 432). Hierfür ist insbesondere anhand der der
Auswärtstätigkeit zugrundeliegenden Vereinbarung --ex ante-- zu beurteilen, ob der
Arbeitnehmer voraussichtlich an seine regelmäßige Arbeitsstätte zurückkehren und dort
seine berufliche Tätigkeit fortsetzen wird. Denn das Gesetz gibt derzeit noch (anders als
künftig § 9 Abs. 4 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der
Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom 20. Februar 2013,
BGBl I 2013, 285) keine zeitliche Obergrenze für die Annahme einer vorübergehenden
Auswärtstätigkeit vor.
12 3. Gemessen daran hält die Vorentscheidung einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand. Der Arbeitsort in B stellt nicht die regelmäßige Arbeitsstätte des Klägers dar; vielmehr
liegt eine Auswärtstätigkeit vor.
13 Nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG beruhte die Tätigkeit
des Klägers am Betriebssitz in B auf betriebsinternen Vereinbarungen, nach denen der
Einsatz wiederholt auf ein Jahr befristet wurde. Nach der für die Beurteilung des Vorliegens
einer regelmäßigen Arbeitsstätte maßgebenden ex ante Beurteilung war die Tätigkeit des
Klägers in B danach vorübergehend, der Kläger damit auswärts tätig. Die Aufwendungen
des Klägers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sind daher nicht lediglich mit
der Entfernungspauschale, sondern gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher Höhe als
Werbungskosten zu berücksichtigen.
14 Der Abziehbarkeit der tatsächlichen Fahrtkosten steht auch nicht entgegen, dass der Kläger
einen Zweitwohnsitz in B begründet hat. Der Bezug einer Unterkunft an einem
Beschäftigungsort, der --wie im Streitfall-- nicht den Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte
erfüllt, begründet keine doppelte Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG (vgl.
Senatsurteile vom 11. Mai 2005 in BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782; VI R 34/04, BFHE
209, 527, BStBl II 2005, 793; in BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785, und VI R 25/04, BFHE
209, 523, BStBl II 2005, 791).
15 4. Die Vorentscheidung ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sie war deshalb
aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat, ausgehend von seiner
abweichenden Rechtsauffassung, die Höhe der tatsächlichen Aufwendungen für Fahrten
zwischen dem Familienwohnsitz und der Wohnung am Arbeitsort nicht festgestellt. Dies hat
es im zweiten Rechtsgang nachzuholen und die tatsächlichen Aufwendungen je gefahrenen
Kilometer als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu
berücksichtigen. Sollte sich im zweiten Rechtsgang ergeben, dass bei den Werbungskosten
aus Vermietung und Verpachtung ein zu hoher Betrag als Absetzung für Abnutzung
berücksichtigt wurde, wäre dies ggf. nach § 177 der Abgabenordnung zu korrigieren.