Urteil des BFH vom 22.04.2010

Korrektur von Steuerbescheiden - Rechtserheblichkeit neuer Tatsachen - Sinn und Zweck des § 173 AO

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 22.4.2010, VI R 27/08
Korrektur von Steuerbescheiden - Rechtserheblichkeit neuer Tatsachen - Sinn und Zweck des § 173 AO
Tatbestand
1 I. Streitig ist, ob bestandskräftige Einkommensteuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) zu
ändern sind.
2 Die Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden in den Streitjahren 2001 bis
2004 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger, der bei der Stadtsparkasse A beschäftigt war, erwarb im
Rahmen dieser Tätigkeit auch Ansprüche auf eine betriebliche Altersvorsorge. Bedingt durch die Auflösung der
Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A wechselte die Stadtsparkasse zur Durchführung ihrer betrieblichen
Altersvorsorge zur Y-Zusatzversorgungskasse in B. Zum Ausgleich hierfür hat sie an die übernehmende
Versorgungskasse neben einer allgemeinen Umlage einen jährlichen Nachteilsausgleich geleistet, diese Zahlungen --
anteilig-- als Arbeitslohn des Klägers behandelt und dem Lohnsteuerabzug unterworfen. Dementsprechend sind auch
die auf den Kläger entfallenden Nachteilsausgleichszahlungen in den auf den Lohnsteuerbescheinigungen
ausgewiesenen Bruttoarbeitslöhne enthalten und in die Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre
eingegangen.
3 Von diesem Umstand erfuhr der Kläger erstmals auf Grund einer "Allgemeinen Information" der Stadtparkasse A vom
15. März 2006. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, dass die Versteuerung fehlerhaft gewesen sei, wie sich aus dem
zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. September 2005 VI R 148/98 (BFHE 210,
443, BStBl II 2006, 532) ergebe. Daraufhin beantragten die Kläger beim Beklagten, Revisionsbeklagten und
Revisionskläger (Finanzamt --FA--) erfolglos, die bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre
nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dahingehend zu ändern, dass die zu Unrecht erfolgte Besteuerung des Nachteilsausgleichs
als Arbeitslohn rückgängig gemacht werde. Auch die hiergegen eingelegten Einsprüche blieben ohne Erfolg. Der
fristgerecht erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) für die Streitjahre 2001 und 2002 mit den in Entscheidungen
der Finanzgerichte 2008, 1346 veröffentlichten Gründen statt. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.
4 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
5 Das FA beantragt,
das Urteil des FG Düsseldorf vom 5. Mai 2008 17 K 692/07 E aufzuheben, soweit das FA verpflichtet worden ist, die
Einkommensteuerbescheide für 2001 vom 23. September 2002 und für 2002 vom 5. Dezember 2003 dahin zu ändern,
dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 2.013,67 DM (2001) und 1.053,78 EUR (2002)
niedriger festgesetzt werden, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
6 Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
7 Die Kläger haben wegen der Streitjahre 2003 und 2004 ebenfalls Revision eingelegt.
8 Die Kläger beantragen insoweit,
unter Abänderung des Urteils des FG Düsseldorf vom 5. Mai 2008 17 K 692/07 E und Aufhebung der
Ablehnungsbescheide vom 16. Januar 2007 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Februar 2007 das FA auch zu
verpflichten, die Einkommensteuerbescheide für 2003 vom 12. Januar 2005 und für 2004 vom 1. August 2005 dahin zu
ändern, dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 1.111,56 EUR (2003) und 1.169,15 EUR
(2004) niedriger festgesetzt werden.
9 Das FA beantragt,
die Revision der Kläger wegen Einkommensteuer 2003 und 2004 zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass die
Einkommensteuerfestsetzungen 2001 und 2002 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern sind.
11 1. Die Vorentscheidung verletzt § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern,
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen.
12 a) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob es sich bei dem Umstand, dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers
ausgewiesene Bruttolohn in den Streitjahren auch auf diesen entfallende Nachteilsausgleichszahlungen enthält, um
eine dem FA nachträglich bekanntgewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO handelt. Denn auch bei rechtzeitiger
Kenntnis um diese Sonderzahlungen an die aufnehmende Versorgungskasse und deren --anteilige-- Erfassung in
den Lohnsteuerbescheinigungen des Klägers wäre das FA bei der ursprünglichen Veranlagung zu keiner niedrigeren
Steuer gelangt.
13 b) Seit dem Beschluss des Großen Senats des BFH vom 23. November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988,
180) vertritt die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung die Auffassung, dass ein Steuerbescheid wegen nachträglich
bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben oder geändert
werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C. II. am
Anfang). Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet hingegen aus, wenn die Unkenntnis der später
bekanntgewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist, weil
das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner
anderen Steuer gelangt wäre (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C. II. 2. b).
14 Rechtfertigender Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die Unrichtigkeit der
Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das FA bei seiner Entscheidung von einem unvollständigen
Sachverhalt ausgegangen ist. Demnach ist die nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel
strikt von der Korrektur von Rechtsfehlern abzugrenzen. Insbesondere dürfen über den Umweg des § 173 Abs. 1 AO
Rechtsfehler der Finanzbehörde weder zu Lasten (Nr. 1) noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 2) berichtigt
werden. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung
schließt demnach aus, dass die Beteiligten des Steuerschuldverhältnisses mit Hilfe eines Änderungsbescheids eine
neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nehmen, ihre geläuterte Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen
(BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Der Gesetzgeber hat vielmehr dem Rechtsfrieden und der
Rechtssicherheit in solchen Fällen Vorrang vor der materiellen Richtigkeit der ergangenen Verwaltungsentscheidung
eingeräumt (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180).
15 c) Maßgebend für die Frage nach der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache oder eines neuen Beweismittels ist
grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung des FA über die Steuerfestsetzung abgeschlossen wird, d.h. im
Normalfall der Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens (bei EDV-mäßiger Abwicklung der
Steuerfestsetzung) oder der Verfügung zum Steuerbescheid (BFH-Urteile vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, BFHE 161,
11, BStBl II 1990, 1047, und vom 20. Juni 2001 VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527; von Wedelstädt in Beermann/Gosch,
AO § 173 Rz 29, 47, m.w.N.).
16 d) Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen
Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des
BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des
ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteile vom 15.
März 2007 III R 57/06, BFH/NV 2007, 1461; in BFH/NV 2001, 1527; vom 15. Dezember 1999 XI R 22/99, BFH/NV
2000, 818; Senatsbeschluss vom 10. Oktober 2007 VI B 48/06, BFH/NV 2008, 191, m.w.N.). Liegen unmittelbar zu der
umstrittenen Rechtslage weder eine Rechtsprechung des BFH noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, so ist
aufgrund anderer Umstände abzuschätzen, wie das FA in Kenntnis des vollständigen Sachverhalts entschieden hätte
(vgl. auch BFH-Urteil vom 10. März 1999 II R 99/97, BFHE 188, 276, BStBl II 1999, 433). Hierzu rechnet beispielsweise
das Vorgehen der Finanzbehörden in Parallelverfahren (BFH-Urteil vom 9. August 1989 X R 7/84, BFH/NV 1990, 613).
Darüber hinaus sind auch interne Schreiben und Mitteilungen (BFH-Urteil vom 11. Juni 1997 X R 117/95, BFH/NV
1997, 853), etwa eines Landesfinanzministeriums an den Bundesminister der Finanzen, zu berücksichtigen (BFH-
Urteile vom 15. Dezember 1999 XI R 22/99, BFH/NV 2000, 818, und XI R 38/99, BFH/NV 2000, 820). Deshalb ist das
FG bei der Ermittlung der Verwaltungsauffassung auch nicht an bestimmte Beweismittel gebunden (BFH-Urteile in
BFH/NV 2000, 818, und in BFH/NV 2000, 820; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173
AO Rz 57b). Das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse
sind hingegen für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus
gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung. Subjektive Fehler der FÄ und damit des einzelnen Bearbeiters,
wie sie sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht denkbar sein mögen, sind für die Beurteilung der
Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 11. Mai 1988
I R 216/85, BFHE 153, 296, BStBl II 1988, 715).
17 Demgegenüber hat das FG im Streitfall den hypothetischen Kausalverlauf allein nach den idealtypischen individuellen
Rechtskenntnissen des zuständigen Veranlagungssachbearbeiters und nicht nach der in den Streitjahren
herrschenden Verwaltungsauffassung beurteilt. Deshalb war die Vorentscheidung aufzuheben.
18 2. Die Sache ist spruchreif.
19 Die Klage wird abgewiesen. Dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers ausgewiesene Bruttolohn in den
Streitjahren auch auf diesen entfallende Nachteilsausgleichszahlungen enthält, ist bei der ursprünglichen
Veranlagung nicht rechtserheblich gewesen.
20 a) Im Streitfall wäre das FA bei den Veranlagungen 2001 und 2002 auch bei rechtzeitiger Kenntnis des Umstands,
dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers ausgewiesene Bruttoarbeitslohn in den Streitjahren auch die auf ihn
entfallenden Nachteilsausgleichszahlungen enthielt, zu keiner anderen Steuer gelangt. Es hätte insbesondere nicht
den Entlohnungscharakter der streitigen Sonderzahlungen verneint, sondern vielmehr die Ausgleichszahlungen im
Zeitpunkt der streitigen Veranlagungen als steuerbaren Arbeitslohn beurteilt. Nach dem Urteil des Senats in BFHE
210, 443, BStBl II 2006, 532 fließt zwar den Arbeitnehmern kein Arbeitslohn zu, wenn der Arbeitgeber beim Wechsel
zu einer anderen umlagefinanzierten Zusatzversorgungskasse Sonderzahlungen leistet. Im Streitfall erfolgte die
abschließende Zeichnung der Eingabewertbögen zu den Einkommensteuerbescheiden 2001 und 2002 unstreitig
jedoch jeweils vor der Veröffentlichung des BFH-Urteils in BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532 in der Ausgabe Nr. 11
des BStBl II 2006, das am 24. Juli 2006 ausgegeben wurde.
21 b) Bei rechtzeitiger Kenntnis von der im Bruttolohn des Klägers enthaltenen anteiligen Sonderumlage hätte das FA
entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung diese Zahlungen als Arbeitslohn erfasst und der Besteuerung
unterworfen. Dies ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass die Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-
Westfalen die Revisionsverfahren VI R 32/04 und VI R 148/98 geführt und in diesen Verfahren stets die Auffassung
vertreten hat, dass es sich bei Sonderumlagen in Versorgungssysteme um Arbeitslohn handele. Darüber hinaus ist
die Auffassung der Finanzbehörden, dass der Nachteilsausgleich als Arbeitslohn zu erfassen sei, u.a. in der Mitteilung
für den Lohnsteueraußendienst Nr. 12/2001 vom 5. Dezember 2001 niedergelegt. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz ist insoweit ohne Bedeutung, ob der zuständige Veranlagungssachbearbeiter diese Mitteilung kannte und
berücksichtigt hätte. Insoweit ist ausreichend, dass aus diesem internen Schreiben die Rechtsauffassung der
Verwaltung hervorgeht. Dies gilt gleichermaßen für den Schriftwechsel des Finanzministeriums des Landes
Nordrhein-Westfalen und der Steuerberatungsgesellschaft der Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A.
Auch aus diesen Schreiben ist zweifelsfrei ersichtlich, dass die Landesfinanzbehörden im Streitfall bei der
Besteuerung von Zukunftssicherungsleistungen nicht nach allgemeinen Umlagezahlungen und dem sogenannten
Nachteilsausgleich unterschieden hätten.
22 Schließlich weist das FA auch zu Recht darauf hin, dass sich aus der Gesetzesbegründung des Jahressteuergesetzes
2007 die in den Streitjahren herrschende Verwaltungsauffassung ergibt. Dort ist ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass nach Auffassung der Finanzverwaltung Sonderzahlungen des Arbeitgebers, die er anlässlich der Überführung
einer Mitarbeiterversorgung in eine Zusatzversorgungskasse leistet, als steuerpflichtiger Arbeitslohn beurteilt worden
sind (BTDrucks 16/2712, 45 f.). Aufgrund dieser feststehenden Verwaltungsübung ist nicht ersichtlich, dass das FA im
Streitfall bei rechtzeitiger Kenntnis um die Sonderzahlungen an die aufnehmende Versorgungskasse und deren --
anteilige-- Erfassung in den Lohnsteuerbescheinigungen des Klägers die streitige Einkommensteuer niedriger
festgesetzt hätte.
23 Folglich hätte die streitige Änderung der Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 mangels Rechtserheblichkeit
dieses Umstands nicht durchgeführt werden dürfen. Damit war die Klage auch insoweit abzuweisen.
24 3. Die Revision der Kläger wegen Einkommensteuer 2003 und 2004 ist unbegründet. Das FG hat im Ergebnis
zutreffend entschieden, dass das FA nicht zur streitigen Änderung der Einkommensteuerbescheide 2003 und 2004
verpflichtet war, und damit die Klage insoweit zu Recht abgewiesen. Das FA hätte auch bei rechtzeitiger Kenntnis um
den sogenannten Nachteilsausgleich den Arbeitslohn des Klägers nicht um diese Sonderzahlungen an die Y-
Zusatzversorgungskasse gemindert, sondern die Steuer ebenso (falsch) festgesetzt, wie dies in Unkenntnis dieses
Umstands geschehen ist (vgl. unter II. 2. der Gründe).