Urteil des BFH vom 29.07.2010

Versagung rechtlichen Gehörs - Zukunftssicherungsleistungen

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 29.7.2010, VI R 39/09
Versagung rechtlichen Gehörs - Zukunftssicherungsleistungen
Tatbestand
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I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr (2000) als Eheleute zur Einkommensteuer zusammen
veranlagt. Der Kläger bezieht aus seiner Tätigkeit bei der Firma X-GmbH (GmbH) Einkünfte aus nichtselbständiger
Arbeit. Die Gesellschafterversammlung der GmbH beschloss am 24. März 1999, u.a. dem Kläger eine betriebliche
Zusatzversorgung anzubieten. Dazu sollten die Sonderzahlungen, die regelmäßig im Dezember eines Jahres fällig
wurden, in der Weise "eingesetzt" werden, dass die betroffenen Arbeitnehmer auf die Sonderzahlungen verzichten
und das Geld für die Zusatzversorgung verwandt werden sollte.
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Am 8. März 2000 schloss die GmbH mit dem Kläger eine Vereinbarung über eine "Betriebliche Zusatzversorgung" ab.
Darin heißt es u.a.:
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1.1 In Anerkennung der Leistungen von Herrn Z und in der Erwartung weiterer guter Zusammenarbeit gewährt das
Unternehmen Herrn Z einen Anspruch auf betriebliche Versorgungsbezüge nach Maßgabe der Bestimmungen dieser
Vereinbarung.
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1.2 Mit dieser Zusatzvereinbarung verfolgt das Unternehmen die Absicht, Herrn Z und seinen Angehörigen im Alter,
bei Invalidität und im Todesfall finanzielle Sicherheit zu geben.
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1.4 ... Die Vertragsparteien sind sich einig, dass die Zusatzversorgung eine Versorgungszusage im Sinne des
Betriebsrentengesetzes darstellen soll.
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3.1 Altersversorgung aus der betrieblichen Zusatzversorgung erhält Herr Z, wenn er mit oder nach Erreichen der
normalen Altersgrenze ... aus den Diensten des Unternehmens scheidet.
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3.2 Für die Altersversorgung hat das Unternehmen einen Versorgungsaufwand (Versorgungskapital) von DM 1.350 ...
festgelegt.
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3.3 Der Versorgungsaufwand (Versorgungskapital) wird wie folgt angepasst:
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a) Zahlungen des Unternehmens auf das Versorgungskapital in den Folgejahren:
10 b) und/oder Erhöhungen der Rendite, die sich aus der Anlage des Versorgungskapitals in AS-Fonds (Altersvorsorge-
Sondervermögen) der Y-Bank ergibt.
11 5.1 Leistungen bei Invalidität erhält Herr Z auf Antrag, wenn er vor Erreichen der Altersgrenze aus den Diensten des
Unternehmens ausscheidet und berufs- oder erwerbsunfähig ... ist.
12 6.1 Leistungen im Todesfall erhält auf Antrag der Ehegatte oder ein anderer genannter Begünstigter von Herrn Z,
wenn sein Anstellungsverhältnis zum Unternehmen durch Tod endet.
13 Als begünstigte Person i.S. der Ziffer 6.1 ist die Klägerin benannt.
14 Die GmbH verwandte anschließend die bis dahin an den Kläger nicht ausgezahlte Sonderzahlung für 1999 in Höhe
von 1.350 DM als Versorgungskapital im Sinne des Vertrags zum Erwerb von Fondsanteilen.
15 Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung bei der GmbH erfasste der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt --FA--) den Betrag von 1.350 DM im berichtigten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr als
zusätzlichen Arbeitslohn. Das FA vertrat die Auffassung, die Zusatzversorgung sehe eine Vererblichkeit der
Anwartschaften vor mit der Folge, dass es sich nicht um eine betriebliche Altersversorgung nach dem Betriebs-
Altersversorgungsgesetz handele. Die Beiträge seien vorgelagert zu besteuern.
16 Das Einspruchsverfahren blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung heißt es u.a.:
17 Nach dem Erlass des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 4. Februar 2000 IV C 5 S -2332- 11/00 (BStBl I
2000, 354) liege eine betriebliche Altersversorgung nach dem Betriebs-Altersversorgungsgesetz nicht vor, wenn
zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Vererblichkeit von Anwartschaften vereinbart sei. Vereinbarungen, nach
denen künftig fällig werdender Arbeitslohn teilweise gutgeschrieben und ohne Abdeckung eines biometrischen
Risikos zu einem späteren Zeitpunkt ggf. mit Wertsteigerung ausgezahlt werde, bezögen sich nicht auf eine
betriebliche Altersversorgung. Im strittigen Vertrag liege zwar vom Wortlaut her keine Vererblichkeit vor, es werde
jedoch dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt, jederzeit einen Dritten als Begünstigten zu benennen. Die
Person des Begünstigten könne der Kläger jederzeit auswechseln. Die Vereinbarung sei ein Ansparmodell und diene
nicht der betrieblichen Altersversorgung. Deshalb könne die Geldanlage nicht als betriebliche Altersversorgung mit
nachgelagerter Besteuerung behandelt werden.
18 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab und verwies zur Begründung im Wesentlichen auf die
Einspruchsentscheidung des FA (§ 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
19 Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
20 Die Kläger beantragen, das Urteil des FG Rheinland-Pfalz und den geänderten Einkommensteuerbescheid vom 17.
Dezember 2004 aufzuheben.
21 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
22 II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das
FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Der Senat hält die Rüge der Kläger, dass das FG ihren Anspruch auf rechtliches
Gehör (§§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt hat, für begründet.
23 1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem der
Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und auch zur Rechtslage zu äußern. Dieser Anspruch verpflichtet das
Gericht, diese Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Eine Verpflichtung, sich mit jedem
Vorbringen in den Entscheidungsgründen auseinanderzusetzen, besteht allerdings nicht (Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 5. Dezember 1995 1 BvR 1463/89, Höchstrichterliche
Finanzrechtsprechung 1996, 153). Geht das Gericht jedoch auf einen wesentlichen Teil des Vorbringens eines
Beteiligten nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem
Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG-Beschluss vom 19. Mai
1992 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 119 Rz 10a; Lange in
Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 119 FGO Rz 183; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 119 FGO Rz 50).
24 2. Hiervon ist im Streitfall auszugehen. Das FA hat in der Einspruchsentscheidung das erwähnte BMF-Schreiben vom
4. Februar 2000 zur Grundlage seiner Rechtsauffassung gemacht. Auf die Einspruchsentscheidung hat das FG in der
angefochtenen Entscheidung maßgeblich Bezug genommen (§ 105 Abs. 5 FGO). Auf das im Schriftsatz vom 18.
September 2008 zum Ausdruck gebrachte Anliegen der Kläger, dass die Vereinbarung vom 8. März 2000 zeitlich vor
dem BMF-Schreiben und dessen amtlicher Verkündung fixiert worden ist und vorher eine andere Rechtsauffassung
herrschend gewesen sei, ist das FG in den Entscheidungsgründen nicht eingegangen. Es hat nicht geprüft, ob bereits
dieser Umstand der Anwendung des BMF-Schreibens entgegenstehen könnte. Den Entscheidungsgründen kann
auch nicht entnommen werden, dass das FG eine von den Klägern abweichende Rechtsauffassung vertreten und den
Einwand der Kläger für rechtsunerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert gehalten hat.
25 Die Kläger haben insoweit ihr Rügerecht nicht verloren. Da sich die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs erst aus den
Entscheidungsgründen selbst ergibt, war ihnen eine Rüge in der mündlichen Verhandlung nicht möglich (Lange in
HHSp, FGO, § 119 Rz 226).
26 Wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör nicht (hinreichend) gewährt worden ist, ist das Urteil stets als auf der
Verletzung von Bundesrecht anzusehen (§ 119 Nr. 3 FGO). Liegt ein absoluter Revisionsgrund i.S. des § 119 FGO vor,
muss das Revisionsgericht zurückverweisen und sich jeder sachlichen Stellungnahme enthalten (Urteil des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 5. September 2001 I R 101/99, BFH/NV 2002, 493; Gräber/ Ruban, a.a.O., § 119 Rz 3;
Lange in HHSp, § 119 FGO Rz 36).
27 3. Der Senat weist auf folgende Gesichtspunkte hin:
28 Nach ständiger Rechtsprechung des BFH begründet nicht der Anspruch auf die Leistung den gegenwärtigen Zufluss
von Arbeitslohn, sondern erst die Erfüllung dieses Anspruchs in der Weise, dass der Arbeitgeber die geschuldete
Leistung tatsächlich erbringt und dem Arbeitnehmer die wirtschaftliche Verfügungsmacht über die in Geld oder
Geldeswert bestehenden Güter verschafft. Mit der Zusage des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer künftig Leistungen zu
erbringen, ist der Zufluss eines geldwerten Vorteils in der Regel noch nicht verwirklicht. Dementsprechend stellen
etwa die Zuführungen des Arbeitgebers zu einer Pensionsrückstellung bei der Erteilung einer Direktzusage im
Rahmen der betrieblichen Altersversorgung mangels Zuflusses von Vermögenswerten beim Arbeitnehmer noch
keinen (regelmäßig steuerpflichtigen) Lohnzufluss dar.
29 Die Maßstäbe zur Bestimmung des Zuflusszeitpunkts gelten nicht nur in Fällen, in denen die der
Versorgungsrückstellung zugeführten Beträge vom Arbeitgeber zusätzlich zum geschuldeten Barlohn bereitgestellt
werden, sondern finden auch dann Anwendung, wenn die Beträge durch einvernehmliche Herabsetzung des
laufenden Gehalts aufgebracht werden ("arbeitnehmerfinanzierte betriebliche Altersversorgung" durch
aufgeschobene Vergütung). Mit dieser Einordnung ist regelmäßig zugleich die Verlagerung des Besteuerungszugriffs
vom Zeitpunkt der Zusage und der Gehaltsherabsetzung auf den (späteren) Eintritt des Versorgungsfalls verbunden.
Der Besteuerungsaufschub trägt dem Erfordernis Rechnung, dass die Steuererhebung aus zwingenden
verfassungsrechtlichen Gründen erst dort ansetzen darf, wo der Arbeitnehmer eine Steigerung seiner wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit erfährt, indem sein steuerlich relevantes Vermögen durch eine durch das Arbeitsverhältnis
veranlasste Zuwendung tatsächlich vermehrt wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Arbeitgeber mit seinen
Leistungen dem Arbeitnehmer einen unmittelbaren und unentziehbaren Rechtsanspruch gegen einen Dritten
verschafft (BFH-Urteil vom 22. November 2006 X R 29/05, BFHE 216, 124, BStBl II 2007, 402, m.w.N.; Senatsurteile
vom 12. April 2007 VI R 55/05, BFHE 217, 558, BStBl II 2007, 619, und vom 11. Dezember 2008 VI R 9/05, BFHE 224,
70, BStBl II 2009, 385; Senatsbeschluss vom 16. September 1998 VI B 155/98, BFH/NV 1999, 457; s. auch Pflüger in
Herrmann/ Heuer/Raupach, § 19 EStG Rz 391; Schmidt/Drenseck, EStG, 29. Aufl., § 19 Rz 50, Stichwort
Versorgungszusage).