Urteil des BFH vom 13.03.2017

BFH (bundesrepublik deutschland, ausländer, soziale sicherheit, arbeitsmarkt, bezug, aufenthaltserlaubnis, besitz, unterhalt, beilage, jugoslawien)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 28.4.2010, III R 1/08
Kindergeld für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer
Leitsätze
Trotz der zu § 1 Abs. 6 BErzGG ergangenen Vorlagebeschlüsse des BSG vom 3. Dezember 2009 B 10 EG 5/08 R, B 10 EG
6/08 R und B 10 EG 7/08 R ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass der Kindergeldanspruch nicht
freizügigkeitsberechtigter Ausländer, die im Besitz bestimmter Aufenthaltstitel sind, nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG n.F.
von der Integration in den deutschen Arbeitsmarkt abhängt (Festhalten am Senatsurteil vom 22. November 2007 III R 54/02,
BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913) .
Tatbestand
1 I. Die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) reiste im November
2000 im Alter von 18 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) ein, um zu ihrem 16 Jahre alten
Verlobten A zu ziehen. Zunächst war sie ausländerrechtlich geduldet. In der Folgezeit brachte sie zwei Kinder zur Welt.
Nachdem der mazedonische Einwanderer E, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, die Vaterschaft für ein
drittes, im Juni 2005 geborenes Kind anerkannt hatte, erhielt dieses die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Unterhalt der
Klägerin und ihrer Kinder war durch Sozialleistungen der Stadt D sichergestellt. Die Ausländerbehörde erteilte der
Klägerin im Dezember 2005 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Die
Klägerin beantragte noch im gleichen Monat Kindergeld für ihre drei Kinder. Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) lehnte den Antrag ab. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.
2 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom 9. November 2007 18 K 1580/06 Kg (Entscheidungen der
Finanzgerichte 2008, 388) ab. Es führte im Wesentlichen aus, die Beschränkung der Kindergeldberechtigung von
Ausländern nach § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Art. 2 des Gesetzes zur
Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss --AuslAnsprG--
vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2915, BStBl I 2007, 62) führe im Streitfall nicht zu einem verfassungswidrigen
Ergebnis, da der Lebensunterhalt der Klägerin und ihrer Kinder durch Sozialleistungen gesichert gewesen sei.
3 Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, es verstoße gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes (GG), wenn Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG keinen Anspruch auf
Kindergeld hätten, wohl aber solche mit einer Erlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG. Gleichheitswidrig sei auch, dass
das Kindergeld für Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit vom Aufenthaltstitel der Mutter abhänge. Als Mutter eines
deutschen Kindes habe sie, die Klägerin, Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
AufenthG gehabt. Sie sei als Angehörige des Volkes der Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien geflohen, weil sie
dort diskriminiert worden sei. Nur wegen einer Ausweisungsverfügung habe sie lediglich eine Erlaubnis nach § 25 Abs.
5 AufenthG erhalten. Dies sei auf die fehlerhafte Beratung durch die Ausländerbehörde zurückzuführen, die ihr
Begehren nicht als Asylantrag aufgefasst und deshalb eine Duldung ausgesprochen habe. Die Art der
Aufenthaltserlaubnis sei kein geeignetes Kriterium für die Kindergeldberechtigung.
4 Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 28. Dezember 2005 sowie die dazu
ergangene Einspruchsentscheidung vom 13. März 2006 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld
für drei Kinder ab Dezember 2005 zu gewähren.
5 Die Familienkasse beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die
Klägerin hat für den streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld.
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1. Die Neuregelung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer in § 62 Abs. 2 EStG n.F. ist
mit Wirkung vom 1. Januar 2006 in Kraft getreten und erfasst gemäß § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG alle Sachverhalte, bei
denen das Kindergeld noch nicht bestandskräftig festgesetzt worden ist. Die Gesetzesänderung war eine Reaktion auf
den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV
2005, Beilage 2, 114), in dem dieses § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. des Ersten Gesetzes zur
Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2353) als
insoweit unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG ansah, als die Gewährung von Kindergeld allein von der Art der
ausländerrechtlichen Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz 1990 abhing. Das Gesetz stellt in § 62
Abs. 2 Nr. 3 EStG n.F. nunmehr auf die Integration nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer in den deutschen
Arbeitsmarkt ab. Damit ist der Gesetzgeber den Vorgaben des BVerfG nachgekommen, das beanstandet hatte, dass
die frühere Regelung nur ausländische Eltern benachteiligte, die legal in der Bundesrepublik lebten und bereits in
den Arbeitsmarkt integriert waren (s. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114, unter
B.III.4.).
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2. Der Senat hat mit Urteilen vom 15. März 2007 III R 93/03 (BFHE 217, 443, BStBl II 2009, 905) sowie vom 22.
November 2007 III R 54/02 (BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913) entschieden, dass der Gesetzgeber bei der
Neuregelung der Kindergeldberechtigung in § 62 Abs. 2 EStG n.F. im Rahmen des ihm zustehenden
Gestaltungsspielraums handelte, als er die Kindergeldberechtigung von Ausländern vom Besitz bestimmter
Aufenthaltstitel nach dem AufenthG abhängig machte und bei einzelnen Titeln, die einen schwächeren
aufenthaltsrechtlichen Status vermitteln, darüber hinaus von einem mindestens dreijährigen rechtmäßigen, gestatteten
oder geduldeten Aufenthalt im Bundesgebiet sowie von einer berechtigten Erwerbstätigkeit, vom Bezug laufender
Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) oder von der Inanspruchnahme von Elternzeit (§ 62
Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG n.F.). An den Grundsätzen dieser Urteile hält der Senat fest.
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3. Die Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichts (BSG) nach Art. 100 Abs. 1 GG vom 3. Dezember 2009 B 10 EG
5/08 R, B 10 EG 6/08 R sowie B 10 EG 7/08 R (juris), die zur wortgleichen Regelung der Berechtigung von Ausländern
zur Inanspruchnahme von Erziehungsgeld nach § 1 Abs. 6 des Gesetzes zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit
(BErzGG) i.d.F. des AuslAnsprG ergangen sind, begründen keine Zweifel an der Verfassungskonformität des § 62 Abs.
2 EStG n.F.
10 a) Das BSG hat verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des Ausschlusses der Anspruchsberechtigung von
Ausländern sowohl in Fällen, in denen die aktuelle Einbindung in den Arbeitsmarkt während der für das
Erziehungsgeld in Betracht kommenden Bezugszeit wegfällt oder schon vorher weggefallen ist, als auch dann, wenn
nur der Ehepartner des Ausländers nach Maßgabe der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen aktuell in den
Arbeitsmarkt integriert ist. Darüber hinaus ist nach Meinung des BSG die "Voraussetzung des aktuellen Bezugs des
Ausländers zum Arbeitsmarkt auch nicht als verfassungsrechtlich zulässige Typisierung gerechtfertigt". Der
Gesetzgeber habe nicht typischerweise all jene Ausländer erfasst, denen trotz eines ursprünglich nur als
vorübergehend vorgesehenen Aufenthalts eine "günstige" Daueraufenthaltsprognose gestellt werden könne. Der
"aktuelle Bezug zum Arbeitsmarkt" sei zwar ein möglicher, jedoch "ein zu eng begrenzter Faktor".
11 b) Die vom BSG vorgebrachten Bedenken gegen § 1 Abs. 6 BErzGG kommen im steuerrechtlichen Kindergeld nicht
zum Tragen, da das Kindergeld, anders als das Erziehungsgeld (s. § 8 Abs. 1 Satz 1 BErzGG), als Einkommen auf
Sozialleistungen angerechnet wird. Die Anrechnung des Kindergeldes ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG-Beschluss
vom 11. März 2010 1 BvR 3163/09, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2010, 800, zu Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch --SGB II--). Nicht in den Arbeitsmarkt integrierte Ausländer, die nach § 62 Abs. 2 EStG
n.F. keinen Anspruch auf Kindergeld haben, erhalten typischerweise Sozialleistungen, deren Höhe sich u.a. nach der
Anzahl der im gemeinsamen Haushalt lebenden Kinder richtet. Solchen Ausländern entsteht durch die Beschränkung
der Kindergeldberechtigung in § 62 Abs. 2 EStG n.F. typischerweise kein finanzieller Nachteil, der zu einem Verstoß
gegen Art. 3 Abs. 1 GG führen könnte. Ausländern, die Anspruch auf Kindergeld haben und die darüber hinaus
Sozialleistungen beziehen, wird das Kindergeld entweder als Einkommen des anspruchsberechtigten Elternteils oder
als Einkommen des minderjährigen Kindes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II, § 82 Abs. 1 Satz 2 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch) auf die Sozialleistungen angerechnet oder auf Antrag nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 des
Zehnten Buches Sozialgesetzbuch an den Sozialleistungsträger erstattet oder nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG an ihn
abgezweigt. Eine Ausweitung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, die ihren
Unterhalt mit Sozialleistungen bestreiten, brächte für diese somit in der Regel keine finanziellen Vorteile. Selbst wenn
das BVerfG auf die Vorlagebeschlüsse des BSG hin § 1 Abs. 6 BErzGG als verfassungswidrig ansehen und der
Gesetzgeber zu einer Neuregelung für die Vergangenheit gezwungen sein sollte, hätte dieser keinen Anlass, die
Voraussetzungen für die Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nach § 62 Abs. 2 EStG zu
ändern. Es besteht somit auch kein Grund, das vorliegende Verfahren entsprechend § 74 FGO auszusetzen und die
Entscheidung des BVerfG über die Vorlagebeschlüsse des BSG abzuwarten.
12 4. Auch der vom BVerfG im Beschluss in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 angeführte Gesichtspunkt,
dass der Wegfall von Kindergeld und die Inanspruchnahme (ergänzender) Sozialhilfe die Chancen von Ausländern
verringern könnte, ihren Aufenthaltsstatus zu verbessern, begründet keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des §
62 Abs. 2 EStG n.F. Nach dem ab 2005 geltenden Aufenthaltsrecht setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der
Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Dabei ist auch zu prüfen, ob ein
Ausländer nach Erteilung eines bestimmten Titels Kindergeld erhält (s. § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Der bisherige
Bezug von Sozialhilfe ist somit kein Grund, die Erteilung eines Aufenthaltstitels abzulehnen, wenn ein Ausländer mit
Hilfe des Kindergeldes sowie seines Erwerbseinkommens den Unterhalt für seine Familie bestreiten kann. Nach den
bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) entspricht diese Vorgehensweise bei der Prüfung der
Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG der Praxis der Ausländerbehörden.
13 5. Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Dieser
Aufenthaltstitel berechtigt nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c i.V.m. Nr. 3 Buchst. a und b EStG n.F. nur dann zum Bezug
von Kindergeld, wenn sich der Ausländer seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im
Bundesgebiet aufhält und darüber hinaus im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach
dem SGB III bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt. Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin nicht. Der
Umstand, dass sie nach ihrem Vortrag Kindergeld hätte beanspruchen können, wenn die Ausländerbehörde sie
anders beraten hätte, muss hierbei außer Betracht bleiben, da es für den Bezug von Kindergeld allein auf den
tatsächlichen "Besitz" aufenthaltsrechtlicher Titel ankommt und nicht darauf, ob ein Ausländer einen Anspruch auf
einen Titel hat, der zum Bezug von Kindergeld berechtigt (s. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 18. Dezember
1998 VI B 221/98, BFHE 187, 562, BStBl II 1999, 140, und vom 18. Februar 2009 III B 132/08, BFH/NV 2009, 922).
14 6. Schließlich kann die Klägerin auch aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, 1438)
i.d.F. des Änderungsabkommens vom 30. September 1974 (BGBl II 1975, 390) keinen Anspruch auf Kindergeld
herleiten. Nach Art. 28 Abs. 1 dieses Abkommens können Personen Kindergeld beanspruchen, die in der
Bundesrepublik beschäftigt sind und den in der Bundesrepublik geltenden Rechtsvorschriften unterliegen oder nach
Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses Geldleistungen aus der Krankenversicherung wegen
vorübergehender Arbeitsunfähigkeit oder Leistungen der Arbeitslosenversicherung beziehen. Diese
Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Beschäftigte Personen im Sinne dieses Abkommens sind nur
Arbeitnehmer (Senatsurteil in BFHE 217, 443, BStBl II 2009, 905), nicht aber Personen, die --wie die Klägerin-- ihren
Unterhalt mit Sozialleistungen bestreiten.