Urteil des BFH vom 13.03.2017

BFH (unterkunft und verpflegung, kosten für unterkunft und verpflegung, belastung, verpflegung, pflegebedürftigkeit, unterbringung, heim, entgelt, vergütung, pflege)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 10.5.2007, III R 39/05
Pflegeaufwendungen bei Heimunterbringung als außergewöhnliche Belastung
Leitsätze
Wer in einem Wohn- und Pflegeheim untergebracht ist, kann die ihm gesondert in Rechnung gestellten Pflegesätze, die das
Heim mit dem Sozialhilfeträger für pflegebedürftige Personen der sog. Pflegestufe 0 vereinbart hat, als außergewöhnliche
Belastung abziehen .
Tatbestand
1
I. Die 1927 geborene Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die dauerhaft psychisch krank war und nach dem
Schwerbehindertenausweis seit 1988 einen Grad der Behinderung von 90 v.H. hatte, zog im Jahr 1995 auf Anraten
ihres damaligen Nervenarztes in ein von einer Ordensgemeinschaft betriebenes Alten- und Pflegeheim.
2
Die AOK wies den Antrag der Klägerin auf Leistungen für vollstationäre Pflege nach dem Elften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XI) im September 1996 ab, weil der Hilfebedarf nicht mindestens anderthalb Stunden täglich
betragen habe. Seit August 2002 übernahm die AOK aufgrund der Feststellung der Pflegestufe I die Aufwendungen
für Pflege, medizinische Behandlungspflege und soziale Betreuung.
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In der Einkommensteuererklärung 1999 machte die Klägerin --vertreten durch ihren Sohn, der im März 2000 als
Betreuer bestellt worden war-- erstmals Kosten für Pflegeleistungen in Höhe von 12 401 DM als außergewöhnliche
Belastung geltend, die sie neben den Kosten für Unterkunft und Verpflegung in Höhe von 14 981 DM an den
Heimträger entrichtet hatte.
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Die von den Heimbewohnern bzw. der Pflegekasse zu zahlenden Beträge für Unterkunft, Verpflegung und
Pflegeleistungen beruhten im Streitjahr 1999 auf den Vereinbarungen des Heimträgers mit den Pflegekassen und
dem Träger der Sozialhilfe vom 26. Februar 1998 und vom 24. Juni 1999 "gemäß § 85 und 87 SGB XI über die
Vergütung der Leistungen der vollstationären Pflege". Das von den Pflegebedürftigen zu tragende Entgelt für
Unterkunft und Verpflegung war mit 40,30 DM und ab 1. Juli 1999 mit 43,08 DM festgelegt. Der tägliche Pflegesatz für
die stationären Pflegeleistungen sowie für medizinische Behandlungspflege und soziale Betreuung betrug für die
Pflegeklasse I 54,31 DM (ab 1. Juli 1999 60,89 DM), für die Pflegeklasse II 76,03 DM (ab 1. Juli 1999 85,25 DM) und
für die Pflegeklasse III 114,05 DM (ab 1. Juli 1999 127,87 DM).
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Durch Vereinbarungen des Heimträgers mit dem Sozialhilfeträger "gemäß § 93 BSHG über die Vergütung der
Versorgung von Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern in der Pflegestufe 0" ebenfalls vom 26. Februar 1998 und
vom 24. Juni 1999 wurde die Vergütung der stationären Pflegeleistungen, der medizinischen Behandlungspflege und
der sozialen Betreuung sowie die Vergütung für Unterkunft und Verpflegung unterhalb der Pflegestufe I des SGB XI
(sog. Stufe 0) festgelegt. Der tägliche Pflegesatz betrug 32,59 DM (ab 1. Juni 1999 36,53 DM). Das Entgelt für
Unterkunft und Verpflegung entsprach den Vergütungsvereinbarungen für Pflegebedürftige im Leistungsbereich des
SGB XI.
6
Der Klägerin wurde neben dem Entgelt für Unterkunft und Verpflegung in den monatlichen Abrechnungen unter der
Bezeichnung "Allgemeine Vergütungsklasse" ein Betrag in Rechnung gestellt, der dem mit dem Sozialhilfeträger
vereinbarten Pflegesatz für die Pflegestufe 0 entsprach. Nach Auskunft des Heimträgers werden damit pflegerische
Leistungen mit einem Zeitaufwand von unter 45 Minuten pro Tag abgegolten.
7
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte die Aufwendungen nicht. Der Einspruch
blieb insoweit erfolglos. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung aus, die Klägerin habe die Pflegebedürftigkeit
nicht ausreichend nachgewiesen. Der Nachweis der Pflegebedürftigkeit sei durch einen Bescheid der Pflegekasse
über die Feststellungen des Medizinischen Dienstes zur Einstufung in eine Pflegestufe oder durch eine
Bescheinigung nach § 65 Abs. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) zu führen (R 188 Abs. 1
der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 1999, entspricht R 33.3 Abs. 1 EStR 2006).
8
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1773
veröffentlichten Entscheidung statt. Es führte aus: Aufwendungen für die durch Krankheit oder Pflegebedürftigkeit
bedingte Unterbringung in einem Altenpflegeheim stellten eine außergewöhnliche Belastung i.S. von § 33 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) dar. Da die Klägerin schon seit Jahrzehnten schwer an Depressionen erkrankt
gewesen und auf ärztlichen Rat wegen ihrer psychischen Erkrankung in das Heim gezogen sei, seien die geltend
gemachten Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. Für die Berücksichtigung
außergewöhnlicher Belastungen gemäß § 33 EStG genüge jeder objektive Nachweis, der im Streitfall erbracht sei.
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Mit der Revision trägt das FA im Wesentlichen vor: Aufwendungen für die krankheits- oder pflegebedingte
Unterbringung in einem Heim seien nur dann als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, wenn die
Pflegebedürftigkeit durch eine Bescheinigung der Pflegekasse bzw. des Versicherers oder nach § 65 Abs. 2 EStDV
nachgewiesen sei. Die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit anhand der sich aus § 14 SGB XI ergebenden Kriterien
und der Rückgriff auf die hierzu getroffenen Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nach § 18
SGB XI seien aus Gründen der Praktikabilität und Objektivität sachgerecht. Da die Klägerin im Streitjahr keiner
Pflegestufe angehört habe und den Nachweis der Pflegebedürftigkeit auch nicht nach § 65 Abs. 2 EStDV erbracht
habe, könnten die Aufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden. Die Klägerin sei erst
mit Wirkung vom 1. August 2002 der Pflegestufe I zugeordnet worden.
10 Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
11 Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
12 II. Die Revision ist unbegründet.
13 Das FG hat die der Klägerin in Rechnung gestellten Pflegesätze im Ergebnis zu Recht als außergewöhnliche
Belastung berücksichtigt.
14 1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig
größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse,
gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen (außergewöhnliche Belastung).
15 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind Aufwendungen außergewöhnlich, wenn sie nicht
nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen. Die üblichen
Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind,
sind aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen.
16 Zu den üblichen Aufwendungen der Lebensführung rechnen regelmäßig auch die Kosten für die altersbedingte
Unterbringung in einem Altenwohnheim. Dagegen sind Aufwendungen für die Pflege eines pflegebedürftigen
Steuerpflichtigen ebenso wie Krankheitskosten eine außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 EStG. Ist der
Steuerpflichtige in einem Heim untergebracht, sind die tatsächlich angefallenen Pflegekosten als außergewöhnliche
Belastung abziehbar, wenn sie von den --zu den Kosten der üblichen Lebensführung rechnenden-- Kosten für die
Unterbringung abgrenzbar sind (Senatsurteil vom 12. November 1996 III R 38/95, BFHE 182, 64, BStBl II 1997, 387).
Sind mit dem von allen Heimbewohnern zu entrichtenden Pauschalentgelt für die Heimunterbringung auch
Pflegeleistungen abgegolten, kann das Entgelt nicht in übliche als Kosten der Lebensführung zu behandelnde
Unterbringungskosten und außergewöhnliche Krankheits-/Pflegekosten aufgeteilt werden (Senatsurteile in BFHE 182,
64, BStBl II 1997, 387, und vom 18. April 2002 III R 15/00, BFHE 199, 135, BStBl II 2003, 70).
17 Ausnahmsweise sind nach der bisherigen Rechtsprechung auch die Unterbringungskosten bzw. das Pauschalentgelt
--abzüglich einer Haushaltsersparnis-- als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, wenn die Unterbringung
in einem Altenheim durch eine Krankheit veranlasst war, nicht dagegen, wenn der Steuerpflichtige während des
Aufenthalts erkrankt ist (Senatsurteil in BFHE 199, 135, BStBl II 2003, 70, m.w.N.). Abweichend hiervon lässt die
Finanzverwaltung die Aufwendungen auch dann zum Abzug zu, wenn die Krankheit oder Pflegebedürftigkeit erst nach
dem Einzug in das Heim eintritt (vgl. Nichtanwendungserlass vom 20. Januar 2003, BStBl I 2003, 89), jedoch nur
wenn mindestens ein Schweregrad der Pflegebedürftigkeit i.S. der §§ 14, 15 SGB XI festgestellt ist (R 33.3 Abs. 1
EStR 2006).
18 2. Im Streitfall hat die Klägerin kein Pauschalentgelt entrichtet, das auch Pflegeleistungen umfasst, sondern getrennt
ausgewiesene Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Pflegesätze der Pflegestufe 0. Diese Pflegesätze gelten
nach Auffassung des Senats tatsächlich erbrachte Pflegeleistungen sowie medizinische Behandlungspflege ab, so
dass diese Aufwendungen unabhängig davon als außergewöhnliche Belastung abziehbar sind, ob der Umzug der
Klägerin in das Alten- und Pflegeheim krankheitsbedingt war --wie das FG annimmt-- und ob für den Nachweis einer
krankheitsbedingten Unterbringung privatärztliche Atteste ausreichen.
19 a) Nach § 82 Abs. 1 SGB XI erhalten zugelassene Pflegeheime bei stationärer Pflege eine leistungsgerechte
Vergütung für die allgemeinen Pflegeleistungen (Pflegevergütung) und ein angemessenes Entgelt für Unterkunft und
Verpflegung. Die Pflegevergütung ist von den Pflegebedürftigen oder deren Kostenträgern zu tragen. Für Unterkunft
und Verpflegung hat der Pflegebedürftige selbst aufzukommen.
20 Die Pflegevergütungen (Pflegesätze) umfassen die voll- oder teilstationären Pflegeleistungen, die medizinische
Behandlungspflege und die soziale Betreuung (§ 84 Abs. 1 SGB XI).
21 Die Pflegesätze und die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung werden zwischen dem Träger des Pflegeheims, den
Pflegekassen und in der Regel mit dem für den Sitz des Pflegeheims zuständigen Träger der Sozialhilfe vereinbart (§
85 Abs. 1 und 2, § 87 SGB XI).
85 Abs. 1 und 2, § 87 SGB XI).
22 Die Pflegesätze müssen leistungsgerecht sein und sind nach dem Versorgungsaufwand, den der Pflegebedürftige
nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit benötigt, in drei Pflegeklassen einzuteilen, wobei in der Regel die
Pflegestufen nach § 15 SGB XI zugrunde zu legen sind (§ 84 Abs. 2 Satz 1 bis 3 SGB XI). Die Pflegesätze sind für alle
Heimbewohner nach einheitlichen Grundsätzen zu bemessen (§ 84 Abs. 3 SGB XI).
23 Nach dem Sozialhilferecht (für das Streitjahr § 93 Abs. 7 des Bundessozialhilfegesetzes --BSHG--) können die
Sozialhilfeträger mit den Pflegeeinrichtungen nach den Vorschriften des Achten Kapitels des SGB XI (§§ 82 bis 92b)
auch Pflegesätze für Pflegeleistungen unterhalb der Pflegestufe I vereinbaren. Mit dem Sozialhilfeträger
ausgehandelte Pflegesätze der Pflegestufe 0 sind von Pflegebedürftigen, die keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben,
selbst zu tragen. Die Pflegekassen übernehmen diese Aufwendungen nicht.
24 Der Pflegestufe 0 werden Personen zugeordnet, die auf Pflegeleistungen angewiesen sind, deren Pflegebedürftigkeit
aber (noch) nicht den in §§ 14, 15 SGB XI für die Zuordnung zur Pflegestufe I festgelegten Umfang erreicht.
25 Werden einem Heimbewohner nach diesen Grundsätzen ausgehandelte Pflegesätze in Rechnung gestellt, ist davon
auszugehen, dass er pflegebedürftig war und das Heim entsprechend erforderliche Pflegeleistungen erbracht hat. Für
die Abziehbarkeit dieser Pflegesätze als außergewöhnliche Belastung bedarf es in der Regel keines weiteren
Nachweises.
26 b) Im Streitfall hat der Heimträger mit den Leistungsträgern i.S. des § 85 Abs. 2 SGB XI entsprechende
Vereinbarungen gemäß § 85 und § 87 SGB XI über das Entgelt für Unterkunft und Verpflegung und die Pflegesätze für
stationäre Pflegeleistungen einschließlich medizinische Behandlungspflege und soziale Betreuung in den
Pflegeklassen I bis III getroffen. Zusätzlich hat der Heimträger mit dem Träger der Sozialhilfe Vereinbarungen gemäß §
93 BSHG über die Vergütung der Versorgung in der Pflegestufe 0 getroffen, die Pflegeleistungen mit einem
Zeitaufwand von unter 45 Minuten pro Tag abgelten.
27 Dass mit diesen Pflegesätzen --ebenso wie mit den Pflegesätzen für die Pflegestufen I bis III-- neben den stationären
Pflegeleistungen und der medizinischen Behandlungspflege auch die soziale Betreuung vergütet wird, steht der
Abziehbarkeit nicht entgegen. Im Allgemeinen steht die soziale Betreuung mit den zu erbringenden Pflegeleistungen
in einem untrennbaren Zusammenhang. Darüber hinaus gehende soziale Betreuungsleistungen sind im Regelfall von
untergeordneter Bedeutung. Für eine andere Bewertung liegen im Streitfall keine Anhaltspunkte vor.