Urteil des BFH vom 01.04.2008

BFH: Verfahrensdauer wegen eines beim EuGH anhängigen Musterverfahrens, Grundsätzliche Bedeutung, anspruch auf rechtliches gehör, legislative, erlass, vorabentscheidungsverfahren, hinweispflicht

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 1.4.2008, XI B 223/07
Längere Verfahrensdauer wegen eines beim EuGH anhängigen Musterverfahrens - Grundsätzliche Bedeutung -
Überraschungsentscheidung
Gründe
1
Die Beschwerde ist unbegründet. 1. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sieht sinngemäß als Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) an, ob die Tatbestandsmäßigkeit
der Besteuerung aufgrund eines vom Gesetzgeber beschlossenen Steuergesetzes nachträglich dadurch wegfallen
könne, dass ein Rechtsstreit wegen der Verfassungsmäßigkeit oder Europarechtskonformität des Steuergesetzes über
Jahre andauere und dies für den betroffenen Steuerzahler eine entsprechende Rechtsunsicherheit zur Folge habe.
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Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil sie auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Wesensgehalt des im Steuerrecht geltenden Grundsatzes der
Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung offensichtlich nur so beantwortet werden kann, wie das Finanzgericht (FG)
dies getan hat. Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips (Art.
20 Abs. 3 des Grundgesetzes --GG--) und besagt, dass steuerbegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen,
dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss vom
23. Oktober 1986 2 BvL 7/84, 2 BvL 8/84, BVerfGE 73, 388, m.w.N.).
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Adressat dieses Grundsatzes ist zunächst die Legislative. Denn sie erlässt die Steuergesetze. Hat der Gesetzgeber
den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei Erlass eines Steuergesetzes beachtet, kann ein
Verstoß dagegen nicht rückwirkend dadurch eintreten, dass Gerichte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit oder der
Konformität des Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht haben und deshalb darüber eine Entscheidung des BVerfG
oder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) einholen.
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Zwar kann ein Verstoß eines Gerichts gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei der
Auslegung eines Steuergesetzes dadurch in Betracht kommen, dass es einen gesetzlichen Steuertatbestand in
verfassungswidriger Weise ausweitet (vgl. BVerfG-Beschluss vom 24. April 1990 2 BvR 2/90, Höchstrichterliche
Finanzrechtsprechung 1991, 111). Ein solcher Fall liegt hier aber offensichtlich nicht vor, da der EuGH die in § 15 Abs.
1b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) getroffene Regelung für den im Streitfall maßgeblichen Zeitraum nicht
beanstandet und auch nicht erweiternd ausgelegt hat.
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2. Die gleichfalls auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO gestützte Rüge des Klägers, die Festlegung der 50 %igen Vorsteuer auf
gemischt genutzte PKW durch § 15 Abs. 1b UStG sei unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip zustande
gekommen, hat ebenfalls keinen Erfolg. Der Kläger sieht zu Unrecht einen derartigen Verstoß darin begründet, dass
der EuGH die abschließende Entscheidung darüber getroffen habe, ob nach deutschem Recht die Vorsteuern auf
gemischt genutzte PKW ganz oder zur Hälfte abgezogen werden dürfen.
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Der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung unterscheidet drei Teilbereiche staatlicher
Aufgaben, die jeweils gesonderten Organen zugewiesen werden. Der Erlass von Steuergesetzen ist der Legislative
und nicht der Judikative übertragen. Ein vom Bundestag, also der Legislative beschlossenes Gesetz kann diese
Eigenschaft aber entgegen der Auffassung des Klägers jedenfalls nicht dadurch verlieren, dass der EuGH die ihm in
einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom
Bundesfinanzhof (BFH) vorgelegten Rechtsfragen in der Weise beantwortet, dass die in dem Gesetz getroffene
Regelung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden ist. Die Urheberschaft eines Gesetzes kann nicht
durch eine gerichtliche Entscheidung tangiert werden, die die vom Gesetzgeber getroffene und ihrem Wortlaut nach
klare Regelung unverändert lässt.
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3. Auch der vom Kläger behauptete Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt nicht vor. Das FG hat den
Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht verletzt.
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a) Nach § 96 Abs. 2 FGO darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die
Beteiligten sich äußern konnten. Darüber hinaus soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) die
Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen schützen. Eine verfahrensfehlerhafte
Überraschungsentscheidung ist danach gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht
erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat,
mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl
vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Der Anspruch
auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangen
jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend und in allen
Einzelheiten erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine
Rechtsauffassung verpflichtet
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(BFH-Beschluss vom 31. Mai 2005 VIII B 294/03, BFH/NV 2005, 1832, m.w.N.). Auf naheliegende rechtliche oder
tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn die Beteiligten
fachkundig vertreten sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947; vom 11. Februar
2003 XI B 4/02, BFH/NV 2003, 802, jeweils m.w.N.).
10 b) Der Kläger trägt insoweit lediglich vor, das FG habe aus seiner Sicht überraschend bei seiner Entscheidung nur auf
den Wortlaut des § 15 Abs. 1b UStG abgestellt. Abgesehen davon, dass dies nicht zutrifft, weil sich das FG in den
Entscheidungsgründen seines Urteils im Einzelnen auch mit der vom Kläger behaupteten Verfassungswidrigkeit des
Verfahrens auseinandersetzt, handelt es sich insoweit nicht um eine sog. Überraschungsentscheidung im
aufgezeigten Sinn. Denn dass die Entscheidung eines FG darüber, ob ein Verstoß gegen die Tatbestandsmäßigkeit
der Besteuerung vorliegt, sich maßgeblich am Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung orientiert, kann schon deshalb
nicht "überraschen", weil dies der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 20 Abs. 3 GG entspricht, wonach die
Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist.