Urteil des BFH vom 15.05.2013

Haftung eines Arbeitgebers für die Einbehaltung und Abführung von Lohnsteuer - Keine Heilung von Ermessensfehlern bei erstmaligen Ermessenserwägungen im Revisionsverfahren

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 15.5.2013, VI R 28/12
Haftung eines Arbeitgebers für die Einbehaltung und Abführung von Lohnsteuer - Keine Heilung
von Ermessensfehlern bei erstmaligen Ermessenserwägungen im Revisionsverfahren
Leitsätze
Werden erstmals während des Revisionsverfahrens Ermessenserwägungen angestellt, können
diese im Revisionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden (Anschluss an BFH-Urteil vom 25.
Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171).
Tatbestand
1 I. Im Rahmen der Überprüfung eines Lohnsteuerhaftungsbescheids ist streitig, ob die einer
beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführerin unter Widerrufsvorbehalt zugesagte
Weihnachtsgratifikation auch dann zugeflossen ist, wenn deren Zusage aufgrund eines
späteren Gesellschafterbeschlusses widerrufen wird.
2 Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, wurde im Streitjahr 2002 errichtet.
Deren alleinige Gesellschafterin war zugleich Geschäftsführerin.
3 Die Klägerin sagte der Gesellschafter-Geschäftsführerin durch Geschäftsführervertrag eine
Weihnachtsgratifikation zu, behielt sich insoweit aber das Recht zum Widerruf vor. Nachdem
die (Allein-)Gesellschafter-Geschäftsführerin am 4. Oktober 2002 beschlossen hatte, für das
Streitjahr 2002 keine Weihnachtsgratifikation zu gewähren, wurde diese auch nicht
ausgezahlt.
4 Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung nahm das ursprünglich zuständige
Finanzamt die Klägerin mit Haftungsbescheid für Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und
Kirchensteuer neben weiteren, hier nicht streitigen Gründen auch hinsichtlich der auf die
Weihnachtsgratifikation entfallenden Lohnsteuer in Anspruch, die von der Klägerin nicht
einbehalten worden war.
5 Nach insoweit erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Die Klägerin
sei hinsichtlich der Weihnachtsgratifikation nicht zum Lohnsteuerabzug verpflichtet gewesen.
Denn der Gesellschafter-Geschäftsführerin sei kein Arbeitslohn zugeflossen.
6 Mit seiner Revision rügt der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die
Verletzung materiellen Rechts.
7 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung zurückzuverweisen.
8 Die Klägerin stellt keinen Antrag.
9 Während des Revisionsverfahrens hat das FA den streitbefangenen Haftungsbescheid vom
9. Dezember 2004 --geändert am 24. Februar 2005-- am 9. August 2012 unter gleichzeitigem
Erlass eines neuen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung
zurückgenommen, da das Auswahlermessen in dem ursprünglichen Haftungsbescheid nicht
hinreichend dokumentiert worden sei.
Entscheidungsgründe
10 II. Die Revision ist unbegründet und gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen.
11 1. Die Revision führt zwar aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung der
Vorentscheidung. Denn Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens war noch der
Haftungsbescheid vom 9. Dezember 2004, der am 24. Februar 2005 geändert wurde. Da das
FA diesen ursprünglichen Haftungsbescheid während des Revisionsverfahrens in vollem
Umfang zurückgenommen und durch den Haftungsbescheid vom 9. August 2012 ersetzt hat,
ist dieser nach § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden (vgl.
Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195,
BStBl II 2009, 539; vom 6. August 1996 VII R 77/95, BFHE 181, 107, BStBl II 1997, 79; vom
26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82; vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE
141, 470, BStBl II 1984, 791). Soweit dem Urteil eines FG ein nicht mehr existierender
Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben. Dennoch bedarf es hier keiner
Zurückverweisung der Sache an das FG gemäß § 127 FGO, da die Sache spruchreif ist. Die
vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen bilden unverändert die Grundlage für die
Entscheidung des erkennenden Senats (dazu etwa Senatsurteil vom 27. Oktober 2011
VI R 71/10, BFHE 235, 448, BStBl II 2012, 234, m.w.N.).
12 2. Die Revision ist gleichwohl als unbegründet zurückzuweisen. Denn das Urteil der
Vorinstanz ist im Ergebnis zu bestätigen. Die Klage ist begründet, da das FA das ihm
eingeräumte Ermessen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.
13 a) Der Arbeitgeber haftet dafür, dass die von seinen Arbeitnehmern geschuldete Lohnsteuer
einbehalten und an das FA abgeführt wird (§ 42d Abs. 1 Nr. 1 des
Einkommensteuergesetzes --EStG-- i.V.m. §§ 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 41a Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 EStG). Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind er und die Arbeitnehmer
gemäß § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG Gesamtschuldner. Das FA kann die Steuerschuld oder die
Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 der Abgabenordnung) gegenüber
jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs. 3 Satz 2 EStG).
14 b) Der streitbefangene Haftungsbescheid verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten, als
das FA seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Ermessens nicht nachgekommen ist.
15 Denn es war sich jedenfalls hinsichtlich des Auswahlermessens dieser Pflicht bei Erlass des
ursprünglichen Haftungsbescheids vom 9. Dezember 2004 --wie es selbst einräumt--
überhaupt nicht bewusst. Es hat sich in diesem Haftungsbescheid lediglich auf die
Feststellung beschränkt, dass die Klägerin Lohnsteuer in unzutreffender Höhe einbehalten
und abgeführt habe und ihre Inanspruchnahme --insbesondere mangels entschuldbaren
Rechtsirrtums-- nicht unbillig sei. Auch in dem Änderungsbescheid vom 24. Februar 2005
und der Einspruchsentscheidung fehlen entsprechende Ermessenserwägungen.
16 Der Fehler, dass eine gebotene Ermessensausübung unterblieben ist, ist auch in der
Folgezeit nicht geheilt worden. Nach § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre
Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts bis zum Abschluss der
Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Im Streitfall hat das FA im
Klageverfahren aber keine Ermessenserwägungen nachgeschoben. Denn es hat erstmals
während des Revisionsverfahrens solche Ermessenserwägungen angestellt. Im
Umkehrschluss aus § 102 Satz 2 FGO können diese im Revisionsverfahren jedoch
unabhängig davon nicht mehr berücksichtigt werden, dass eine Ergänzung im Sinne dieser
Vorschrift zumindest ansatzweise zuvor angestellte Ermessenserwägungen vorausgesetzt
hätte (vgl. BFH-Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171).
17 3. Auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der Gesellschafterbeschluss über die
Nichtauszahlung der Weihnachtsgratifikation einen Zufluss von Arbeitslohn bewirkt, kommt
es angesichts dessen nicht mehr an.