Urteil des BFH vom 19.12.2006

Einschränkung des Schuldzinsenabzugs nach § 4 Abs. 4a EStG aufgrund von Überentnahmen nur in den Vorjahren - Keine verfassungsrechtlichen Bedenken

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 17.8.2010, VIII R 42/07
Einschränkung des Schuldzinsenabzugs nach § 4 Abs. 4a EStG aufgrund von Überentnahmen nur in den Vorjahren - Keine
verfassungsrechtlichen Bedenken
Leitsätze
Eine Hinzurechnung nicht abziehbarer Schuldzinsen aufgrund von Überentnahmen nach § 4 Abs. 4a EStG ist auch dann
vorzunehmen, wenn im Veranlagungszeitraum keine Überentnahme vorliegt, sich aber ein Saldo aufgrund von
Überentnahmen aus den Vorjahren ergibt .
Tatbestand
1
I. Die Beteiligten streiten um die Hinzurechnung von Schuldzinsen nach § 4 Abs. 4a des Einkommensteuergesetzes
(EStG).
2
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Steuerberater und erzielt Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Seinen
Gewinn ermittelt er seit 1996 durch Bestandsvergleich (§ 4 Abs. 1 EStG).
3
Zum 31. Dezember 1998 war das Kapitalkonto negativ. In den Veranlagungszeiträumen 1999 bis 2001 erwirtschaftete
der Kläger folgende Gewinne und tätigte folgende Einlagen sowie Entnahmen:
4
Veranlagungszeitraum Einlagen
Entnahmen Gewinn
1999
10.290 DM 154.942 DM 90.693 DM
2000
7.237 DM
168.323 DM 128.482 DM
2001
9.797 DM
169.507 DM 164.468 DM
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Im Streitjahr 2001 betrugen die betrieblichen, nicht auf Investitionsdarlehen entfallenden, Schuldzinsen 74.111 DM.
6
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ermittelte für das Streitjahr als Bemessungsgrundlage für
den Hinzurechnungsbetrag nach § 4 Abs. 4a EStG einen Betrag von 81.804 DM. Für das Jahr 2001 ergab sich zwar
eine Unterentnahme in Höhe von 4.759 DM, aus den Vorjahren war jedoch eine verbleibende Überentnahme in Höhe
von 86.563 DM zu berücksichtigen. Den Hinzurechnungsbetrag ermittelte das FA mit 4.908,24 DM und erhöhte die
Einkünfte des Klägers entsprechend.
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Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruchsverfahren dagegen erhobene Klage mit seinem --in
Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 572-- veröffentlichten Urteil vom 19. Dezember 2006 11 K 5373/04 E
ab.
8
Mit der Revision rügt der Kläger, das FG habe § 4 Abs. 4a EStG fehlerhaft angewendet. Die Voraussetzungen der
Vorschrift seien nicht erfüllt, weil er im Streitjahr keine Überentnahme getätigt habe. Im Übrigen sei die Vorschrift
verfassungswidrig. Sie verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes sowie gegen das Übermaßverbot und
enthalte eine unzulässige Typisierung.
9
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und den geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 vom 26. Juli 2005
dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer unter Berücksichtigung eines Gewinns aus selbständiger
Arbeit von 164.468 DM festgesetzt wird.
10 Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
11 II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
12 1. Das FA hat zu Recht die von dem Kläger erklärten Einkünfte aus selbständiger Arbeit im Streitjahr um einen
Hinzurechnungsbetrag nach § 4 Abs. 4a EStG i.d.F. des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 --StBereinG 1999-- vom
22. Dezember 1999 (BStBl I 1999, 2601) --EStG 1999-- erhöht.
13 a) Das FG hat für den Senat bindend festgestellt, dass sämtliche vom Kläger erklärten Schuldzinsen betrieblich
veranlasst waren. Danach ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Betriebsausgabenabzug aufgrund von
Überentnahmen gemäß § 4 Abs. 4a EStG 1999 eingeschränkt ist (vgl. zur vorrangigen Veranlassungsprüfung
einzelner Zahlungsvorgänge Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. September 2005 X R 46/04, BFHE 211,
238, BStBl II 2006, 125; vom 21. Juni 2006 XI R 14/05, BFH/NV 2006, 1832; vom 29. März 2007 IV R 72/02, BFHE 217,
514, BStBl II 2008, 420).
14 b) Zu Recht hat das FG die Vorschrift des § 4 Abs. 4a Satz 1 EStG 1999 auf die betrieblich veranlassten Zinsen des
Klägers angewendet.
15 aa) Schuldzinsen sind nach § 4 Abs. 4a Satz 1 EStG 1999 nicht abziehbar, wenn Überentnahmen getätigt worden
sind. Eine Überentnahme ist in Satz 2 des § 4 Abs. 4a EStG 1999 definiert als der Betrag, um den die Entnahmen die
Summe des Gewinns und der Einlagen des Wirtschaftsjahres übersteigen. Die nicht abziehbaren Schuldzinsen
werden nach Satz 4 (nach der Änderung durch das Steueränderungsgesetz 2001 vom 20. Dezember 2001, BGBl I
2001, 3794 --StÄndG 2001--: Satz 3 der Vorschrift) typisiert mit 6 v.H. der Überentnahme des Wirtschaftsjahres
zuzüglich der Überentnahmen der vorangegangenen Wirtschaftsjahre und abzüglich der Beträge, um die in den
vorangegangenen Wirtschaftsjahren der Gewinn und die Einlagen die Entnahmen überstiegen haben
(Unterentnahmen), ermittelt. Der sich dabei ergebende Betrag, höchstens jedoch der um 4.000 DM (jetzt: 2.050 EUR)
verminderte Betrag der im Wirtschaftsjahr angefallenen Schuldzinsen (sog. Sockelbetrag oder Mindestabzug), ist dem
Gewinn hinzuzurechnen (Satz 5; jetzt: Satz 4). Der Abzug von Schuldzinsen für Darlehen zur Finanzierung von
Anschaffungs- oder Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens bleibt nach Satz 6 (jetzt: Satz 5)
unberührt.
16 bb) Nach Ansicht des Klägers ist der Begriff der Überentnahme abschließend durch Satz 2 der Vorschrift definiert.
Dieser sei auf das Wirtschaftsjahr bezogen. Falls im laufenden Wirtschaftsjahr keine Überentnahme getätigt worden
sei, sei auch der gesetzliche Tatbestand des § 4 Abs. 4a EStG 1999 nicht erfüllt. Eine Gewinnerhöhung komme
danach nicht in Betracht, wenn im Wirtschaftsjahr eine sog. Unterentnahme vorliege (so auch Schallmoser in
Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 4 EStG Rz 1051, m.w.N., sowie Rz 1068, 1070, m.w.N.).
17 cc) Gegen diese Ansicht spricht jedoch der Wortlaut des Satzes 1, der den Regelungskern der Vorschrift bildet und
durch die nachfolgenden Sätze lediglich ergänzt wird. § 4 Abs. 4a Satz 1 EStG 1999 spricht in der Mehrzahl von
"Überentnahmen", enthält aber keine zeitliche Zuordnung der Überentnahmen zu bestimmten Wirtschaftsjahren.
18 Satz 4 der Vorschrift (jetzt: Satz 3) lässt indes erkennen, dass die Regelung periodenübergreifend angelegt ist und
Schuldzinsen für Überentnahmen so lange nicht abziehbar bleiben sollen, bis der Überhang an Überentnahmen
durch Gewinne und Einlagen wieder ausgeglichen ist. Diese periodenübergreifende Regelung greift auch dann ein,
wenn im Streitjahr selbst keine Überentnahmen gegeben sind; allerdings sind dann --insoweit abweichend vom
missglückten Gesetzeswortlaut-- auch Unterentnahmen des Streitjahres zu berücksichtigen (Nacke in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 4 Rz 1657c; Frotscher in Frotscher, EStG, 6. Aufl.,
Freiburg 1998 ff., § 4 Rz 649; Seiler, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Ea 86; Wendt, Finanz-Rundschau --FR--
2000, 417, 427 f.).
19 dd) Diese Auslegung wird durch den aus der Entstehungsgeschichte ableitbaren Gesetzeszweck bestätigt. Der
Gesetzgeber wollte mit § 4 Abs. 4a EStG Gestaltungen in Form sog. Zwei- und Mehrkontenmodelle entgegenwirken
und entwickelte im Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I 1999, 402) zunächst ein
Zurechnungskonzept, nach dem nur die Entnahme von Liquiditätsüberschüssen zulässig sein sollte. Mit dem
StBereinG 1999 entschied sich der Gesetzgeber dann jedoch für die jetzige Fassung. Sie basiert auf einem
Eigenkapitalmodell (vgl. zur Entstehung des § 4 Abs. 4a EStG Seiler, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 4 Ea 1 ff.;
Blümich/Wied, § 4 EStG Rz 596 f.). Der Betriebsinhaber soll, wenn das Eigenkapital negativ ist, dem Betrieb nicht
mehr Mittel entziehen, als erwirtschaftet und eingelegt worden sind (vgl. Meurer in Lademann, EStG, § 4 EStG Rz 656
k (1); Schmidt/Heinicke, EStG, 29. Aufl., § 4 Rz 529; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz 596; Nacke in Littmann/Bitz/Pust,
a.a.O., § 4 Rz 1657b; Korn in Korn, § 4 EStG Rz 844.1; Frotscher in Frotscher, a.a.O., § 4 Rz 648; FG Rheinland-Pfalz,
Urteile vom 13. März 2003 6 K 2363/02, EFG 2003, 831, sowie 6 K 2364/02, juris). Maßgeblich für die Ermittlung der
nicht abziehbaren Schuldzinsen soll daher der jährlich fortzuschreibende Saldo aller Über- und Unterentnahmen sein.
20 Die Regelung in Rdnr. 23, 24 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 17. November 2005
IV B 2 -S 2144- 50/05 (BStBl I 2005, 1019), wonach eine Überentnahme auch dann vorliegt, wenn sich diese nur aus
Überentnahmen vorangegangener Wirtschaftsjahre berechnet, entspricht daher dem Gesetzeszweck und dem
möglichen Wortsinn des § 4 Abs. 4a EStG. Deshalb war der Gesetzgeber nicht --wie der Kläger meint-- gehalten, in
einem nachfolgenden Steuergesetz den Wortlaut der Vorschrift zu korrigieren.
21 ee) Die Vorschrift des § 4 Abs. 4a EStG muss entgegen der Auffassung des Klägers nicht bei der Gewinnermittlung
durch Bestandsvergleich und der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG stets zum gleichen Ergebnis führen. § 4 Abs.
4a EStG ist auch auf die Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG anzuwenden. Durch die unterschiedliche
Gewinnermittlung ergeben sich in einzelnen Jahren unterschiedliche Beträge. Daher sind beim Wechsel der
Gewinnermittlungsart anfallende Übergangsgewinne zu berücksichtigen (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 1019
Rdnr. 8). Soweit ein Wahlrecht hinsichtlich der Gewinnermittlung besteht, obliegt es dem Steuerpflichtigen, das für ihn
günstige Verfahren zu wählen.
22 2. Es bestehen auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung des § 4 Abs. 4a
EStG (a.A. Söffing, Betriebs-Berater 2008, 417; Paus, FR 2006, 412; Horlemann, Deutsches Steuerrecht --DStR--
2010, 726).
23 a) Die Vorschrift ist formell verfassungsgemäß. § 4 Abs. 4a EStG ist durch den Vermittlungsausschuss in das EStG
eingefügt worden. Durch das StÄndG 2001 hat der Gesetzgeber § 4 Abs. 4a EStG in Einzelfragen geändert und
dadurch die Gesamtvorschrift in seinen Willen aufgenommen. Das Demokratieprinzip in Gestalt des
Parlamentsvorbehalts wurde daher nicht verletzt (vgl. BFH-Urteil vom 21. September 2005 X R 47/03, BFHE 211, 227,
BStBl II 2006, 504; Schallmoser, FR 2001, 509, 511; Wendt, FR 2000, 417, 423; zum Bestätigungswillen bei
vorkonstitutionellen Gesetzen vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 1 BvL 14/84, BVerfGE
70, 126).
24 b) Auch materiell ist die Vorschrift verfassungsgemäß. Sie ist unter dem Blickwinkel des Nettoprinzips
verfassungsrechtlich unbedenklich, da sie an Überentnahmen und somit an private Ursachen anknüpft (vgl. BFH-
Urteil vom 7. März 2006 X R 44/04, BFHE 212, 501, BStBl II 2006, 588; ebenso HHR/Schallmoser, § 4 EStG Rz 1037;
Frotscher in Frotscher, a.a.O., § 4 Rz 625; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz 610; Schmidt/Heinicke, a.a.O., § 4 Rz 522).
25 3. Schließlich bestehen auch gegen die gesetzliche Typisierung der nicht abziehbaren Schuldzinsen mit 6 v.H. der
Überentnahmen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
26 a) Der Kläger meint zu Unrecht, der Gesetzgeber habe mit dem Gewinn den falschen Anknüpfungspunkt gewählt und
seine Typisierungsbefugnis überschritten.
27 Die jetzige Gesetzesfassung verzichtet aus Praktikabilitätsgründen auf eine liquiditätsbezogene Betrachtung und
knüpft an den jeweiligen Bestand des vorhandenen Eigenkapitals an, der grundsätzlich steuerunschädlich
entnommen werden darf (vgl. BFH-Urteile in BFHE 211, 227, BStBl II 2006, 504; vom 21. September 2005 X R 40/02,
BFH/NV 2006, 512; a.A. Horlemann, DStR 2010, 726). Diese Anknüpfung ist sachgerecht, weil das Eigenkapital die im
Betrieb erwirtschafteten Mittel abbildet, die für eine Entnahme zur Verfügung stehen.
28 b) Der Kläger macht ferner geltend, es fehle die Möglichkeit einen Gegenbeweis zu führen, dass die durch Entnahmen
ausgelösten Zinsen tatsächlich niedriger sind (vgl. HHR/ Schallmoser, § 4 EStG Rz 1037, 1069; Schneider/Petrak, Die
Wirtschaftsprüfung 2006, 1105, 1109).
29 Das FG hingegen sieht zu Recht die Typisierung vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst. Der vom
Gesetzgeber gewählte Zinssatz ist nicht überhöht und die Typisierung dient in erster Linie einem
Vereinfachungszweck. Insbesondere erspart sie dem Steuerpflichtigen wie der Finanzverwaltung eine genaue
umfangmäßige und zeitanteilige Zuordnung der angefallenen Zinsen, die sich letztlich nur bei einer
liquiditätsbezogenen Betrachtungsweise leisten ließe. Die Typisierung erweist sich daher als technische Folge der
praktikableren kapitalbezogenen Sichtweise (vgl. Seiler, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, a.a.O., § 4 Ea 83; Tipke, Die
Steuerrechtsordnung Band I, 2. Aufl. 2000, § 7 S. 356 unten; Wendt, FR 2000, 417, 427; Frotscher in Frotscher, a.a.O.,
§ 4 Rz 654). Unbillige Ergebnisse sind im Einzelfall nach § 163 der Abgabenordnung zu korrigieren.