Urteil des BFH vom 26.11.2009

BFH: Bindungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheides, treu und glauben, einkünfte, bekanntgabe, verfassungsbeschwerde, einspruch, verwaltungsakt, rechtsnorm, wiedergabe, behörde

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 26.11.2009, III R 102/07
Bindungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheides
Tatbestand
1 I. Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog für seine Tochter (T) bis einschließlich 2000
Kindergeld. Nach dem Abitur begann T im August 2000 eine Ausbildung zur Bankkauffrau. Mit Schreiben vom 6. Mai
2002 forderte die Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Kläger auf, zur Prüfung des
Anspruchs auf Kindergeld eine Erklärung zu den Einkünften von T für das Jahr 2000 sowie eine Kopie der
Lohnsteuerkarte 2000 vorzulegen. Der Kläger übersandte der Familienkasse die angeforderten Unterlagen. Diese
änderte die Festsetzung für das Jahr 2000 nicht, allerdings hob sie mit Bescheid vom 24. Juni 2002 die Festsetzung
"mit Wirkung vom 01.01.2001 gemäß § 70 Abs. 4 EStG" auf. Sie wies darauf hin, dass eine Kindergeldfestsetzung
aufzuheben oder zu ändern sei, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den
Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) über- oder unterschritten hätten. Sie war
der Ansicht, die Einkünfte und Bezüge von T hätten im Jahr 2001 über dem Grenzbetrag von 14.040 DM gelegen. Der
Kläger legte gegen den Bescheid, der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, keinen Einspruch ein.
2 Mit Schreiben vom 26. September 2005 beantragte der Kläger Kindergeld für die Zeit ab 1. Januar 2001. Er verwies auf
den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164,
BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach dem die Sozialversicherungsbeiträge eines nichtselbständig beschäftigten Kindes
nicht in dessen Einkünfte und Bezüge einbezogen werden dürfen.
3 Die Familienkasse gewährte durch Bescheid vom 7. Oktober 2005 Kindergeld ab Juli 2002 und lehnte den Antrag im
Übrigen ab. Sie führte aus, die Bestandskraft des Bescheids vom 24. Juni 2002 erstrecke sich von Januar 2001 bis Juni
2002. Erst für die Zeit danach könne Kindergeld festgesetzt werden. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
4 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum Januar 2001
bis Juni 2002 begehrte, zum Teil statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für die Zeit vom 1. Januar 2002
bis zum 30. Juni 2002 festzusetzen und wies die Klage im Übrigen (Jahr 2001) ab. Zur Begründung führte es im
Wesentlichen aus, die Familienkasse habe die Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2001 bestandskräftig
abgelehnt. Dagegen entfalte der Aufhebungsbescheid vom 24. Juni 2002 keine Bindungswirkung für die Monate
Januar 2002 bis Juni 2002. In diesem Zeitraum hätten die Einkünfte und Bezüge von T den Grenzbetrag nach Abzug
der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten. Die Familienkasse habe die Aufhebung der
Festsetzung damit begründet, dass die Einkünfte und Bezüge von T den Grenzbetrag im Kalenderjahr 2001
überstiegen hätten. Der Kläger habe daher den Bescheid dahin verstehen können, dass die Familienkasse die
Kindergeldberechtigung nur für das Jahr 2001 geprüft habe und die Festsetzung nur für dieses Jahr habe aufheben
wollen.
5 Gegen das Urteil wenden sich beide Beteiligten mit der Revision. Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor,
ein Bescheid, der auf der verfassungswidrigen Auslegung einer Rechtsnorm beruhe, sei nichtig. Auch sei zu rügen,
dass die Familienkasse den Aufhebungsbescheid nicht mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen habe, obwohl die
Verfassungsbeschwerde spätestens ab Februar 2002 anhängig gewesen sei. Es sei als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1
des Grundgesetzes (GG) zu werten, wenn ein Aufhebungsbescheid in den Fällen, in denen die Familienkasse einen
Vorläufigkeitsvermerk angebracht habe, noch geändert werden könne, in anderen Fällen nicht. Das Berufen auf die
Bestandskraft des Aufhebungsbescheids sei ein Verstoß gegen Treu und Glauben.
6 Die Familienkasse führt zur Begründung der von ihr eingelegten Revision aus, der Bundesfinanzhof (BFH) habe
mehrfach entschieden, dass die Bindungswirkung eines Aufhebungsbescheids mit dem Monat der Bekanntgabe ende.
7 Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Bescheid vom 7. Oktober 2005 sowie die dazu
ergangene Einspruchsentscheidung vom 29. Dezember 2005 insoweit aufzuheben, als sie das Jahr 2001 betreffen und
die Familienkasse zu verpflichten, für dieses Jahr Kindergeld zu gewähren; außerdem beantragt er, die Revision der
Familienkasse zurückzuweisen.
8 Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als
es den Zeitraum Januar 2002 bis Juni 2002 betrifft, sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9
II. Die Revisionen des Klägers und der Familienkasse sind unbegründet und werden zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2
der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die (negative) Bindungswirkung des
Aufhebungsbescheids vom 24. Juni 2002 das Jahr 2001 erfasst, nicht aber den Zeitraum Januar 2002 bis Juni 2002.
10 1. Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
11 a) Der Bescheid der Familienkasse vom 24. Juni 2002, mit dem diese die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2001
aufgehoben hat, weil nach ihrer Ansicht die Einkünfte und Bezüge von T im Jahr 2001 den Jahresgrenzbetrag nach §
32 Abs. 4 Satz 2 EStG überstiegen, ist wirksam. Ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG
abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteile vom 28.
Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, und vom 28. November 2006 III R 6/06, BFHE 216, 138,
BStBl II 2007, 717).
12 b) Der wirksame Bescheid ist bestandskräftig, da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1
der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat. Die Bestandskraft wird durch den Beschluss des BVerfG in
BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78
BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG -wie im
Streitfall- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt hat (Senatsurteile in BFHE 214, 287,
BStBl II 2007, 714, sowie in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).
13 c) Eine Änderung des bestandskräftigen Aufhebungsbescheids vom 24. Juni 2002 zugunsten des Klägers im Hinblick
auf den zitierten Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ist nach ständiger
Rechtsprechung des Senats nicht möglich, da die Voraussetzungen für eine Korrektur weder nach den §§ 172 ff. AO
noch nach § 70 EStG gegeben sind (Senatsurteile in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, sowie in BFHE 216, 138,
BStBl II 2007, 717).
14 d) Entgegen der Rechtsansicht des Klägers ist der Aufhebungsbescheid der Familienkasse vom 24. Juni 2002 nicht
etwa deshalb wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG noch änderbar, weil er trotz der damals beim BVerfG
anhängigen, später erfolgreichen Verfassungsbeschwerde 2 BvR 167/02 nicht mit einem Vorläufigkeitsvermerk (§ 165
AO) versehen war. Selbst wenn die Familienkasse zu Unrecht einen solchen Vermerk nicht angebracht haben sollte,
würde dies an der Bestandskraft des Bescheids nichts ändern. Unabhängig hiervon bestand für eine solche
Vorläufigkeitserklärung kein Anlass, da die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 167/02 zum Zeitpunkt der Entscheidung
der Familienkasse noch nicht durch amtliche Verlautbarungen bekannt war; in der Liste der beim Bundesfinanzhof,
Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren in Steuersachen, Beilage Nr. 2/2002
zum BStBl II Nr. 12/2002 vom 19. Juli 2002, war sie nicht aufgeführt.
15 2. Die Revision der Familienkasse ist ebenfalls unbegründet. Zutreffend hat das FG den Aufhebungsbescheid dahin
ausgelegt, dass die Kindergeldfestsetzung nur für das Jahr 2001 aufgehoben und darüber hinaus keine Regelung
getroffen werden sollte.
16 a) Zwar erstreckt sich die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von
Kindergeld abgelehnt oder auf 0 EUR (DM) festgesetzt oder durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird,
in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (z.B. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001
VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88, und VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; Senatsurteil vom 14.
Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530). Allerdings ist es der Familienkasse unbenommen, in
einem Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid eine hiervon abweichende zeitliche Regelung zu treffen.
17 b) Das FG hat den Inhalt des Bescheids vom 24. Juni 2002 zu Recht dahin ausgelegt, dass aus der Sicht des Klägers
nur für das Jahr 2001 eine Verwaltungsentscheidung ergehen sollte.
18 aa) Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Einem Verwaltungsakt muss
der Regelungsinhalt eindeutig zu entnehmen sein (BFH-Urteil vom 22. August 2007 II R 44/05, BFHE 218, 494, BStBl
II 2009, 754). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung der
Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu ermitteln. Entscheidend sind der erklärte Wille
der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach
den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteile vom
18. Februar 1997 VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339; vom 11. Juli 2006 VIII R 10/05, BFHE 214, 18, BStBl
II 2007, 96; vom 9. April 2008 II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). Bei der Auslegung ist nicht allein auf den Tenor des
Bescheids abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der für den Bescheid
gegebenen Begründung (BFH-Urteil in BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754). Die Auslegung des Inhalts von
Verwaltungsakten durch das FG ist im Revisionsverfahren in vollem Umfang nachprüfbar (Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 25, m.w.N.).
19 bb) Der Kläger konnte den Bescheid vom 24. Juni 2002 dahin verstehen, dass nur für das Jahr 2001 eine
(ablehnende) Regelung getroffen werden sollte. Zwar ist in dem Bescheid nur der 1. Januar 2001 als Zeitpunkt
genannt, ab dem die Kindergeldfestsetzung aufgehoben werden sollte. Eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung der
Verwaltungsentscheidung fehlt. Jedoch geht aus dem gesamten Inhalt des Bescheids hervor, dass die Familienkasse
nur das Jahr 2001 beurteilen wollte. Die Aufhebung wurde damit begründet, dass die Einkünfte und Bezüge von T im
Jahr 2001 die maßgebliche Jahresgrenze überschritten hätten. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Hinweis auf § 70
Abs. 4 EStG, dass nur eine auf das Jahr 2001 bezogene Betrachtung angestellt werden sollte, auch wenn die zitierte
Vorschrift im Streitfall nicht einschlägig war, weil die Familienkasse bereits bei der Prognose für 2001 der Ansicht war,
dass der Grenzbetrag überschritten würde.
20 Die durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) mit
Wirkung vom 1. Januar 2002 eingeführte Vorschrift ermöglicht die Korrektur von Kindergeldbescheiden in den Fällen,
in denen sich nachträglich Abweichungen der tatsächlichen Einkünfte und Bezüge von den prognostizierten ergeben
haben (Senatsurteil in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; Blümich/Treiber, § 70 EStG Rz 32; Helmke in
Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1; Pust in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70 EStG Rz 242). Ein Bescheid, durch den eine
Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben wird, betrifft somit einen Prognosezeitraum und nicht
darüber hinaus den Zeitraum bis zum Monat der Bekanntgabe. Der Kläger konnte den Hinweis auf § 70 Abs. 4 EStG
und dessen wörtliche Wiedergabe dahin verstehen, dass nur die Festsetzung für das Jahr 2001 aufgehoben werden
sollte. Für die Zeit danach gab die Familienkasse keine Änderungsvorschrift an. Der Kläger hatte somit allen Anlass zu
der Annahme, der Aufhebungsbescheid betreffe nur das Jahr 2001.
21 3. Die Kostenentscheidung war nach dem Maß des Unterliegens des Klägers und der Familienkasse unter
Zugrundelegung der zusammengerechneten Streitwerte zu treffen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO; vgl. BFH-Beschluss vom
20. August 1998 XI B 66/97, BFH/NV 1999, 478, m.w.N.).