Urteil des BFH vom 10.12.2001

BFH (unrichtige rechtsmittelbelehrung, wiedereinsetzung in den vorigen stand, höhere gewalt, rechtsmittelbelehrung, zulässiges rechtsmittel, fehlerhafte rechtsmittelbelehrung, rechtsmittel, gewalt, zulassung, gkg)

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 24.1.2008, XI R 63/06
Verfahrensrechtliche Folgen unrichtiger Rechtsmittelbelehrung
Tatbestand
1 I. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) mit Urteil vom 14. September
2006, das am selben Tage verkündet wurde, ab. Das vollständig abgefasste Urteil, dem auch eine
Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, wurde der Klägerin am 29. September 2006 zugestellt. In der
Rechtsmittelbelehrung wird darauf hingewiesen, dass den Beteiligten gegen das Urteil die Revision zustehe. Der Tenor
und die Gründe der Entscheidung enthalten keinen ausdrücklichen Ausspruch über die Zulassung der Revision.
2 Die Klägerin legte mit am 23. Oktober 2006 beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schriftsatz Revision gegen
das Urteil des FG ein. Darin machte sie geltend, dass die Revision vom FG in dem angefochtenen Urteil zugelassen
worden sei. Sie rügt Fehler bei der Anwendung von § 4 Nr. 10 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes.
3 Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 1997 vom 10.
Dezember 2001 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 5. März 2004 dahin zu ändern, dass die
Umsatzsteuer um … EUR vermindert wird.
4 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) beantragt sinngemäß, die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1 i.V.m. § 126 Abs. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Eine Revision ist gemäß § 115 Abs. 1 FGO nur zulässig, wenn sie das FG in seinem Urteil oder auf Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der BFH zugelassen hat. Keine der beiden Voraussetzungen liegt im Streitfall vor.
Entgegen der Ansicht der Klägerin hat das FG die Revision in dem angefochtenen Urteil nicht zugelassen.
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a) Die FGO regelt nicht, an welcher Stelle im FG-Urteil die Entscheidung über die Zulassung der Revision
aufzunehmen ist. Nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BFH muss die Zulassung der Revision --auch
wenn dies im Hinblick auf die Rechtsklarheit erwünscht ist-- nicht ausdrücklich in die Urteilsformel aufgenommen
werden (vgl. z.B. Beschluss vom 3. Dezember 1985 VII B 65/85, BFH/NV 1986, 419, m.w.N.). Es genügt, wenn sie sich
aus den Urteilsgründen ergibt. Unter besonderen Voraussetzungen kann ausnahmsweise auch ein in der
Rechtsmittelbelehrung des FG-Urteils enthaltener ausdrücklicher Ausspruch, dass die Revision zulässig sei, als
Revisionszulassung anerkannt werden (BFH-Beschluss vom 12. April 1967 VI R 321/66, BFHE 88, 361, BStBl III 1967,
396). Erforderlich ist aber stets eine Entscheidung des FG über die Zulassung der Revision. Ergeben sich weder aus
den Urteilsgründen noch aus der Formulierung der Rechtsmittelbelehrung Anhaltspunkte dafür, dass das FG die
Revision tatsächlich zulassen wollte, so kann eine Revisionszulassung nicht schon darin gesehen werden, dass nach
der Rechtsmittelbelehrung den Beteiligten gegen das Urteil die Revision zustehe (BFH-Beschluss vom 7. Juni 2004 X
R 12/04, BFH/NV 2004, 1291, m.w.N.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 107, m.w.N.; Lange in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 277; Seer in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, §
115 FGO Rz 124).
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Eine Rechtsmittelbelehrung, in der --ohne Hinweis auf die besondere Entscheidung über die Zulassung-- von der
Zulässigkeit der Revision ausgegangen wird, kann nur als unrichtige Rechtsmittelbelehrung verstanden werden. Eine
unrichtige Rechtsmittelbelehrung führt nicht dazu, dass das nach dem Gesetz unzulässige Rechtsmittel als zulässiges
Rechtsmittel behandelt wird (BFH-Beschlüsse vom 30. Oktober 1998 VI B 202/97, BFH/NV 1999, 636; vom 23. Mai
2002 II R 30/01, BFH/NV 2002, 1322; in BFH/NV 2004, 1291; vom 28. Oktober 2004 III R 53/03, BFH/NV 2005, 374,
alle m.w.N.). Diese Sichtweise entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. Beschlüsse
vom 20. März 1981 8 B 54/81, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts 310, § 131 der Verwaltungsgerichtsordnung --VwGO-- Nr. 1; vom 1. Dezember 1987 8 B
58/87, Buchholz § 131 VwGO Nr. 6), des Bundessozialgerichts --BSG-- (vgl. z.B. Urteile vom 26. April 1989 7 RAr
124/88, Die Beiträge 1989, 288; vom 18. März 2004 B 11 AL 53/03 R, RegNr. 26533, BSG-intern) und des
Bundesarbeitsgerichts (vgl. z.B. Urteil vom 25. Juni 1986 4 AZR 206/85, BAGE 52, 242).
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Im Streitfall hat das FG die Revision ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung weder bei der
Verkündung noch im Tenor oder in den Entscheidungsgründen des Urteils zugelassen. Es sind auch keinerlei
Hinweise darauf erkennbar, dass das FG der Sache grundsätzliche Bedeutung beigemessen oder die
Rechtsprechung des BFH infrage gestellt hätte und die Revision etwa zur Klärung einer Rechtsfrage oder wegen
Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO) hätte zulassen wollen. Auch die Rechtsmittelbelehrung enthält keinen Zusatz,
der auf eine entsprechende Zulassungsentscheidung schließen lassen könnte.
10 2. Ein --wie im Streitfall-- ausdrücklich als Revision bezeichnetes Rechtsmittel kann nicht in eine
Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet werden, weil deren Zulässigkeit von anderen Voraussetzungen abhängt
(BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 1291, m.w.N.). Im Streitfall wäre das Rechtsmittel im Übrigen selbst dann
unzulässig, wenn es als Nichtzulassungsbeschwerde behandelt würde, weil keiner der in § 115 Abs. 2 FGO
abschließend genannten Zulassungsgründe in der erforderlichen Weise (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargetan worden
ist.
11 3. Die Zulässigkeit der Revision lässt sich nicht aus dem Meistbegünstigungsgrundsatz herleiten. Nach diesem
Grundsatz können ihrer Art nach inkorrekte Entscheidungen nicht nur mit dem Rechtsmittel angefochten werden, das
bei korrekter Entscheidungsart zulässig ist, sondern auch mit dem, das für die inkorrekte Art der getroffenen
Entscheidung vorgesehen ist (z.B. BFH-Urteil vom 12. August 1981 I B 72/80, BFHE 134, 216, BStBl II 1982, 128; BFH-
Beschluss vom 21. Mai 1987 IV R 101/86, BFH/NV 1988, 258).
12 Im Streitfall ist die vom FG gewählte Urteilsform jedoch nicht zu beanstanden. Zu beanstanden ist lediglich der Inhalt
der dem Urteil beigefügten Rechtsmittelbelehrung, der nicht erkennen lässt, dass die Revision gegen das Urteil des
FG nur zulässig ist, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der BFH sie zugelassen hat. Eine
unrichtige Rechtsmittelbelehrung hat aber nicht die Wirkung, dass sie eine Anfechtungsmöglichkeit gemäß ihrem
unrichtigen Inhalt eröffnet (s.o.).
13 4. Rechtsfolge einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung ist, dass sich gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO die
Frist für das zulässige Rechtsmittel --hier die Monatsfrist gemäß § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO für die Beschwerde wegen
Nichtzulassung der Revision-- auf ein Jahr verlängert (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 374, m.w.N.). Auch diese
kraft Gesetzes verlängerte Frist ist indes zwischenzeitlich verstrichen.
14 Die Jahresfrist gilt nach § 55 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO jedoch nicht, wenn vor deren Ablauf die Einlegung des
Rechtsbehelfs infolge höherer Gewalt unmöglich gewesen ist. Höhere Gewalt ist ein außergewöhnliches Ereignis, das
unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende
Sorgfalt nicht verhindert werden konnte. Darunter fällt auch ein Umstand, der dem Beteiligten die rechtzeitige
Vornahme einer fristgebundenen Handlung unzumutbar macht und damit aus verfassungsrechtlichen Gründen dem
Bereich der höheren Gewalt zuzuordnen ist. Dementsprechend kann nach der Rechtsprechung des BFH höhere
Gewalt vorliegen, wenn ein Verfahrensbeteiligter durch ein --über die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung
hinausgehendes-- Verhalten eines Gerichts von einer Prozesshandlung abgehalten wird (vgl. z.B. BFH-Beschluss in
BFH/NV 2005, 374, m.w.N.).
15 Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Die Klägerin ist nicht nur durch das Verhalten des FG davon
abgehalten worden, rechtzeitig die allein zulässige Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen. Es kommt vielmehr
hinzu, dass auch der BFH die Klägerin während des vorliegenden Revisionsverfahrens nicht rechtzeitig innerhalb der
Jahresfrist auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen hat.
16 Erst mit der Bekanntgabe der vorliegenden Entscheidung fällt der Hinderungsgrund der höheren Gewalt weg, so dass
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) beantragt werden kann. Dabei muss gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2
FGO die Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO eingehalten werden.
17 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
18 Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Revisionsverfahren wird gemäß § 21 Abs. 1 des
Gerichtskostengesetzes (GKG) abgesehen. Nach dieser Vorschrift sind Kosten, die bei richtiger Behandlung der
Sache nicht entstanden wären, nicht zu erheben. Die Voraussetzung ist regelmäßig gegeben, wenn in einer
Rechtsmittelbelehrung ein unzulässiges Rechtsmittel als gegeben bezeichnet wird und der Rechtsmittelführer
dadurch veranlasst wird, dieses einzulegen. Im Streitfall ist davon auszugehen, dass die Revision bei zutreffend
erteilter Rechtsmittelbelehrung nicht eingelegt und die Kosten des Revisionsverfahrens nicht verursacht worden
wären (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1999, 636; in BFH/NV 2004, 1291; in BFH/NV 2005, 374, alle zu § 8 GKG a.F.
und m.w.N.).
19 Im Übrigen hat jedoch die Klägerin gemäß § 135 Abs. 2 FGO die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen. § 21 GKG
enthält eine abschließende Regelung, die wegen ihres eindeutigen Wortlauts nicht auf außergerichtliche Kosten
übertragen werden kann (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Juni 1999 XI R 76/98, BFH/NV 1999, 1617, m.w.N., zu § 8 GKG
a.F.).