Urteil des BFH vom 27.02.1998

Auslegung eines Schreibens des Finanzamts als Freistellungsbescheid - Definition: Freistellungsbescheid

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 9.4.2008, II R 31/06
Auslegung eines Schreibens des Finanzamts als Freistellungsbescheid - Definition: Freistellungsbescheid
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Aktiengesellschaft (AG), ist alleinige Gesellschafterin der X-
GmbH, einer 1998 aus der X-GmbH und Co. OHG (OHG) durch formwechselnde Umwandlung hervorgegangenen
Gesellschaft.
2 Gesellschafter der OHG waren seit Juli 1993 die Klägerin und die V-Verwaltungs GmbH (V-GmbH). Mit Urkunde vom
27. Februar 1998 beschlossen die Gesellschafter der OHG, diese in die X-GmbH formwechselnd umzuwandeln. In der
gleichen Urkunde wurde ferner das Ausscheiden der V-GmbH aus der OHG erklärt, und zwar aufschiebend bedingt auf
die Eintragung der Umwandlung der Gesellschaft in das Handelsregister. Diese erfolgte am 31. März 1998.
3 Das seinerzeit zuständige Finanzamt (FA-W) teilte der Klägerin am 12. Februar 1999 zunächst mit, dass in dem
Ausscheiden der V-GmbH eine nach § 1 Abs. 3 des Grunderwerbsteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung
(GrEStG) steuerbare und steuerpflichtige Vereinigung aller Anteile an der X-GmbH zu sehen und eine
Steuerfestsetzung beabsichtigt sei. Das FA-W forderte die Klägerin auf, Angaben zu den Einheitswerten und den
Bilanzwerten der Grundstücke zu machen. Dem kam diese nicht nach. Mit Schreiben vom 15. Februar 1999 trug die
Klägerin vielmehr vor, es liege keine Anteilsvereinigung vor, sondern ein identitätswahrender Rechtsformwechsel, der
keine Grunderwerbsteuer ausgelöst habe. Sie, die Klägerin, gehe daher davon aus, "dass diese Angelegenheit damit
ihre Erledigung gefunden" habe. Mit Schreiben vom 22. Februar 1999 teilte das FA-W der Klägerin mit, nach "erneuter
Überprüfung der Rechtslage" zu dem Ergebnis gekommen zu sein, dass weder eine steuerpflichtige Anwachsung
gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 GrEStG noch eine steuerpflichtige Anteilsvereinigung i.S. des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG
stattgefunden habe. Es sehe "die Angelegenheit damit als erledigt an".
4 Am 13. Dezember 1999 wandte sich das FA-W ein weiteres Mal an die Klägerin. Nunmehr hieß es, nach "nochmaliger
Überprüfung des Sachverhalts und der Rechtslage" sehe es in dem der Umwandlung der OHG in die X-GmbH
nachfolgenden Austritt der V-GmbH eine Vereinigung der Anteile an der X-GmbH i.S. des § 1 Abs. 3 GrEStG. Es
forderte die Klägerin auf, Angaben zu den Einheitswerten und Steuerbilanzwerten der Grundstücke zu machen. Mit
Bescheid vom 26. Januar 2000 setzte das FA-W gegen die Klägerin zunächst aufgrund einer geschätzten
Bemessungsgrundlage Grunderwerbsteuer fest. Mit Einspruchsentscheidung vom 20. März 2003 änderte der
mittlerweile zuständig gewordene Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Steuer auf der Grundlage
der inzwischen festgestellten Bedarfswerte.
5 Die Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) ging davon aus, dass das Schreiben des FA-W vom 22. Februar 1999
der Steuerfestsetzung nicht entgegenstehe. In Folge des Austritts der V-GmbH sei es nicht zu einem
identitätswahrenden Formwechsel, sondern zu einem gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 GrEStG steuerbaren
Rechtsträgerwechsel gekommen, da sich auf der Erwerberseite der Verbund der Gesamthandsgemeinschaft nicht
gemeinsam als Rechtsträger fortgesetzt habe. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1034
veröffentlicht.
6 Mit der Revision macht die Klägerin geltend, das FG habe verkannt, dass das Schreiben des FA-W einen nicht mehr
änderbaren Freistellungsbescheid darstelle. Auch liege kein grunderwerbsteuerbarer Vorgang vor, da es nicht zu einer
Anteilsvereinigung gekommen sei.
7 Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung vom 20. März 2003 sowie den
Grunderwerbsteuerbescheid vom 26. Januar 2000 aufzuheben.
8 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und des Steuerbescheides vom 26.
Januar 2000 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20. März 2003 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
10 1. Der erkennende Senat vermag sich der Auffassung des FG, bei dem Schreiben des FA-W vom 22. Februar 1999
handele es sich nicht um einen Freistellungsbescheid, nicht anzuschließen.
11 Die Auslegung dieses Schreibens durch das FG, an die der Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsinstanz nicht
gebunden ist (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 25), wird der Auslegungsregel des § 133 des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sowie dem § 124 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) nicht gerecht. Dem
Schreiben vom 22. Februar 1999 ist vielmehr die Bedeutung eines Freistellungsbescheides i.S. des § 155 Abs. 1 Satz
3 AO (vgl. m.w.N. BFH-Urteile vom 13. November 1979 VIII R 175/77, BFHE 129, 240, BStBl II 1980, 193; vom 26. März
1969 I R 38/67, BFHE 95, 482, BStBl II 1969, 473; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 155 AO Rz 26;
Pahlke/Koenig/Cöster, Abgabenordnung, § 155 Rz 29 f.) beizumessen.
12 a) Ein Freistellungsbescheid ist begrifflich ein Steuerbescheid, der nach dem Willen des FA den Steuerpflichtigen
davon unterrichtet, dass eine Steuer von ihm aufgrund des geprüften Sachverhalts dem Grunde nach überhaupt nicht
oder für einen bestimmten Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum nicht gefordert werde (BFH-Urteile in BFHE 95,
482, BStBl II 1969, 473; vom 22. Oktober 1986 I R 254/83, BFH/NV 1988, 10). Hierbei kommt es darauf an, ob für den
Adressaten aus der Mitteilung selbst oder aus den Umständen ihres Erlasses objektiv erkennbar ist, dass eine
einseitige, verbindliche, der Rechtsbeständigkeit fähige Regelung kraft hoheitlicher Gewalt gewollt ist (BFH-Urteil in
BFH/NV 1988, 10).
13 Der Erklärungsgehalt des Schreibens des FA-W vom 22. Februar 1999 ist im Wege der Auslegung zu ermitteln (§ 133
BGB). Ein Verwaltungsakt wird nach § 124 Abs. 1 Satz 2 AO mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird
(Erklärungstheorie, vgl. Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 124 Rz 8). Es kommt deshalb darauf an, wie die Klägerin
selbst nach den ihr bekannten Umständen den materiellen Gehalt des Schreibens vom 22. Februar 1999 unter
Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH-Urteile vom 15. November 2005 VII R 55/04, BFHE
212, 297; vom 30. November 1999 IX R 57/98, BFH/NV 2000, 678; vom 16. Februar 1990 VI R 40/86, BFHE 160, 120,
BStBl II 1990, 565, m.w.N.). Nicht ausschlaggebend ist, was das FA-W mit der Mitteilung bewirken wollte (BFH-Urteil
vom 13. März 1986 IV R 204/84, BFHE 146, 340, BStBl II 1986, 584, m.w.N.). Daher ist auch unbeachtlich, ob die
Behörde den Willen hatte, einen Freistellungsbescheid zu erlassen. Es reicht aus, wenn der Anschein eines
entsprechenden Entscheidungswillens erweckt wird (BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 10).
14 b) Nach den gesamten Umständen des Streitfalls konnte die Klägerin dem Schreiben des FA-W vom 22. Februar 1999
entnehmen, dass keine Steuerfestsetzung erfolgen werde und die Steuerangelegenheit endgültig erledigt sei. Dies
ergibt sich insbesondere aus der Abfolge und dem Inhalt des Schriftwechsels. Die Klägerin ist in ihrem Schreiben vom
15. Februar 1999 der materiellen Rechtsauffassung des FA-W ausdrücklich entgegengetreten. Sie hat nicht lediglich
aus formellen Gründen bestritten, dass das FA-W einen Anspruch auf die mit Schreiben vom 12. Februar 1999
angeforderten Unterlagen habe, sondern hat die materielle Rechtsauffassung des FA-W selbst angegriffen. Das
Schreiben der Klägerin ging erkennbar davon aus, dass der durch den Vertrag vom 27. Februar 1998 bestimmte
Lebenssachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Grunderwerbsteuer ausgelöst habe. Vor diesem
Hintergrund kommt der Formulierung, sie, die Klägerin, gehe davon aus, "dass diese Angelegenheit damit ihre
Erledigung gefunden hat", nicht nur die Bedeutung einer üblichen Höflichkeitsfloskel zu. Ihr liegt erkennbar die
Erwartung zugrunde, dass der Steuerfall im oben genannten Sinne einer materiell-rechtlich abschließenden
Behandlung zugeführt wird. Die Antwort des FA-W darauf im Schreiben vom 22. Februar 1999, dass die
Angelegenheit erledigt sei, konnte die Klägerin daher nur im Sinne einer solchen abschließenden Behandlung
auffassen, zumal das FA-W sich hierbei auf eine erneute Prüfung der Rechtslage berufen hat.
15 Der Annahme, es liege ein Freistellungsbescheid vor, steht --entgegen der Auffassung des FG-- die äußere Form des
Schreibens vom 22. Februar 1999 nicht entgegen. Insbesondere ist unerheblich, dass das Schreiben vom 22. Februar
1999 weder eine Rechtsbehelfsbelehrung noch einen Tenor aufweist. Der äußeren Form kommt entscheidende
Bedeutung zu, wenn der Wortlaut nicht eindeutig ist (BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 10); dies ist nicht der Fall. Der
Bescheid ist entgegen der Rechtsauffassung des FG auch hinreichend bestimmt. Durch Auslegung ergibt sich, dass
der durch den Vertrag vom 27. Februar 1998 bestimmte Lebenssachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt
Grunderwerbsteuer ausgelöst habe. Diese Aussage ist bestimmt, eindeutig und endgültig. Daran muss sich das FA
festhalten lassen. Das FA-W hätte die Möglichkeit gehabt, durch die Aufnahme eines entsprechenden Hinweises den
Steuerfall offenzuhalten und damit der Erwartung entgegenzutreten, der Steuerfall sei abschließend behandelt. Die
Unterlassung eines derartigen Hinweises geht zu Lasten des FA (BFH-Urteil vom 28. November 1985 IV R 178/83,
BFHE 145, 226, BStBl II 1986, 293).
16 2. Die Sache ist spruchreif.
17 Der angefochtene Grunderwerbsteuerbescheid vom 26. Januar 2000 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren
Rechten. Er ist deshalb nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben. Dem Erlass des Bescheides steht § 172 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 AO entgegen. Danach darf ein Steuerbescheid nur unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben oder
geändert werden.
18 Der angefochtene Grunderwerbsteuerbescheid vom 26. Januar 2000 führt zu einer Änderung des als
Freistellungsbescheid zu wertenden Schreibens vom 22. Februar 1999 des FA-W (s. oben unter II. 1.). Die in § 172
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO genannten Voraussetzungen für eine Änderung des Freistellungsbescheides liegen im Streitfall
nicht vor. Der angefochtene Bescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung hätten somit nicht ergehen
dürfen.