Urteil des BFH vom 13.03.2017

BFH (ewg, richtlinie, teil, bescheinigung, 1995, beruf, eugh, beilage, umsatzsteuer, person)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 24.1.2008, V R 3/05
Unzutreffende Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 - Annahme eines "Schulunterrichts
und Hochschulunterrichts" - Indizwirkung der Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde
Leitsätze
1. § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 setzt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG nicht zutreffend um. Es ist
fraglich, ob eine richtlinienkonforme Auslegung dieser Vorschrift möglich ist .
2. Ein Steuerpflichtiger kann sich für die Umsatzsteuerfreiheit seiner Leistungen unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i
der Richtlinie 77/388/EWG berufen .
3. Für die Annahme eines "Schulunterrichts und Hochschulunterrichts" i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie
77/388/EWG ist entscheidend, ob vergleichbare Leistungen in Schulen erbracht werden und ob die Leistungen der bloßen
Freizeitgestaltung gedient haben .
4. Die Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde, dass eine Einrichtung auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen
Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereitet, ist ein Indiz dafür, dass Leistungen, die
tatsächlich dem Anforderungsprofil der Bescheinigung entsprechen, nicht den Charakter einer bloßen Freizeitgestaltung
haben .
Tatbestand
1
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt ein Ballett- und Tanzstudio (folgend Ballettstudio), für das sie
in den Umsatzsteuererklärungen 1995 bis 1997 zunächst steuerbare und steuerpflichtige Umsätze erklärte. Der
Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) setzte daraufhin die Umsatzsteuer erklärungsgemäß fest. Für
1995 hob das FA im Änderungsbescheid vom 13. Januar 1999 den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
2
Mit Schreiben vom 19. Oktober 1999 legte die Klägerin eine Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde vom 6.
Oktober 1999 vor, worin bescheinigt wird, dass die Klägerin ordnungsgemäß Kenntnisse und Fertigkeiten für einen
späteren Beruf vermittelt bzw. auf eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung
vorbereitet. Gleichzeitig beantragte die Klägerin, ihre für die Streitjahre 1995 bis 1998 erklärten Umsätze als steuerfrei
zu behandeln. Hierzu legte sie berichtigte (für 1995 bis 1997) bzw. erstmalige (für 1998) Steuererklärungen vor, in
denen die Umsätze als steuerfrei ausgewiesen wurden.
3
Aufgrund einer bei der Klägerin durchgeführten Umsatzsteuersonderprüfung kam das FA zu dem Ergebnis, dass
durchschnittlich zwei von hundert Ballettschülern die Aufnahmeprüfung an der staatlichen Musikhochschule ablegten
und eine weitere Berufsausbildung anstrebten. Das FA ging aus diesem Grund davon aus, dass auch nur 2 v.H. der
Gesamtumsätze der Klägerin steuerfrei seien, und erließ für die Streitjahre entsprechend geänderte
Umsatzsteuerbescheide.
4
Im Einspruchsverfahren legte die Klägerin eine Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde vom 8. Februar 2001
vor, worin diese bestätigt, dass die der Klägerin am 6. Oktober 1999 erteilte Bescheinigung bereits ab dem Zeitpunkt
der Aufnahme ihrer Tätigkeit im März 1990 gültig sei.
5
In der Einspruchsentscheidung setzte das FA die Umsatzsteuer für 1998 aus nicht im Streit befindlichen Gründen auf 7
286 DM herab. Hinsichtlich des Streitstoffes blieb der Einspruch ohne Erfolg.
6
Das Finanzgericht (FG) wies mit seinem in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2005, 740 veröffentlichten
Urteil die Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Umsätze der Klägerin seien nicht nach § 4 Nr.
21 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG 1993) von der Umsatzsteuer befreit, weil das von ihr betriebene
Ballettstudio weder eine private "Schule" noch eine "andere allgemeinbildende oder berufsbildende Einrichtung" i.S.
des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 sei. Allgemeinbildende Einrichtungen seien solche, die ein breit gefächertes
Wissen vermittelten, ohne die Organisationsform der Schule zu haben. Nicht zu den allgemeinbildenden
Einrichtungen gehörten gewerbliche Unternehmen, die nur spezielle Kenntnisse oder Fertigkeiten --wie das von der
Klägerin betriebene Ballettstudio-- vermittelten. Selbst wenn man die Unterrichtung in Ballett zur Allgemeinbildung
rechne, bleibe es dabei, dass im Studio der Klägerin kein breit gefächertes Wissen wie in der Schule vermittelt werde,
sondern allenfalls ein kleiner Ausschnitt hieraus.
7
Die Klägerin betreibe auch keine berufsbildende Schule oder Einrichtung i.S. des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993.
Diese Vorschrift setze voraus, dass die Einrichtung Leistungen erbringe, die ihrer Art nach den Zielen der Berufsaus-
oder der -fortbildung dienten, indem sie spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung bestimmter beruflicher
Tätigkeiten vermittle. Darunter fielen die Tanz- und Ballettkurse der Klägerin nicht, weil sie die Kursteilnehmer nicht
auf einen bestimmten Beruf, sondern allenfalls auf die Aufnahmeprüfung vor einer juristischen Person des öffentlichen
Rechts vorbereiteten. Die Kurse seien nicht Teil einer gesetzlich geregelten Berufsausbildung oder Berufsfortbildung.
Die Rechtslage sei ähnlich wie bei Fahr- oder Jagdschulen, die ebenfalls keine berufsbildenden Einrichtungen seien.
8
Dieses Verständnis des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 entspreche auch dem Gemeinschaftsrecht, das in Art. 13 Teil
A Abs. 1 Buchst. i der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eine sehr allgemein gefasste
Formulierung vorgegeben und damit dem nationalen Gesetzgeber einen Spielraum eröffnet habe, der es ermögliche -
-wie in § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 geschehen-- die Steuerbefreiung auf allgemein- oder berufsbildende
Einrichtungen zu beschränken.
9
Hiergegen wendet sich die Revision der Klägerin, mit der sie Verletzung materiellen Rechts (§ 4 Nr. 21 Buchst. b UStG
1993) geltend macht.
10 Sie trägt im Wesentlichen vor, die Beschränkung der Steuerbefreiung nach dem Anteil der Schülerinnen und Schüler,
die sich tatsächlich auf eine Aufnahmeprüfung an einer Fachhochschule für Musik und Tanz vorbereiten, verstoße
gegen § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993. Diese Regelung stelle nicht auf die Ziele der Personen ab, die die Einrichtung
besuchten, sondern darauf, ob der Einrichtung generell die Eigenschaft einer allgemeinbildenden oder
berufsbildenden Einrichtung zukomme.
11 Entgegen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stehe der Finanzverwaltung keine eigene
Prüfungskompetenz hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 zu. Eine andere
allgemeinbildende oder berufsbildende Einrichtung sei immer in dem Umfang anzunehmen, wie der begünstigte
Bereich einer erteilten Bescheinigung i.S. des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 reiche. Andernfalls gehe der
Prüfungsaufwand für die Ausstellung der Bescheinigung ins Leere.
12 Eine Einrichtung, die --wie das von ihr, der Klägerin, betriebene Ballettstudio-- künstlerischen Tanz unterrichte, sei
sowohl als andere allgemeinbildende als auch als andere berufsbildende Einrichtung anzuerkennen.
13 Gegenstand der Allgemeinbildung sei nicht nur die Wissensvermittlung in geistigen Fächern, sondern auch die
kulturelle Bildung. Auf die Vermittlung eines breit gefächerten Wissens könne es nicht ankommen.
14 Das von ihr betriebene Ballettstudio sei eine berufsbildende Einrichtung, weil es auf den Beruf des Tänzers
ausgerichtet sei. Ohne professionelle Ausbildung bereits im Vorschulalter sei das spätere Studium des Tanzes und
damit die Ausübung des Berufes des Tänzers nicht möglich; das Erlernen von Standardtänzen sei dagegen in jedem
Alter möglich. Die Zielsetzung, die konzeptionelle Ausgestaltung und die Durchführung der Leistungen ihres
Ballettunterrichts unterschieden sich von den Leistungen freier Unterrichtseinheiten grundlegend.
15 Schließlich seien ihre Umsätze auch aus Gründen der Gleichbehandlung von der Umsatzsteuer zu befreien, weil die
städtische Musikschule der Stadt D bzw. einzelne Gymnasien, die auch Kurse der tänzerischen Früherziehung
anböten, als öffentliche Einrichtungen steuerbefreit seien. Gleiches gelte auch für die staatlichen Ballettschulen.
16 Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung die Umsatzsteuer
1995 bis 1998 auf 0 DM festzusetzen.
17 Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
18 II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an
das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
19 Die Umsätze der Klägerin sind gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 steuerfrei, soweit es sich um Leistungen
gehandelt hat, die nicht lediglich den Charakter bloßer Freizeitgestaltung gehabt haben. Die Feststellungen des FG
lassen keine Beurteilung zu, ob und in welchem Umfang das der Fall gewesen ist.
20 1. Nach der in den Streitjahren 1995 bis 1998 geltenden Vorschrift des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 sind die
unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck dienenden Leistungen privater Schulen und anderer allgemeinbildender
oder berufsbildender Einrichtungen steuerfrei, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, dass sie auf einen
Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß
vorbereiten. § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 setzt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG um (vgl.
BFH-Urteile vom 10. Juni 1999 V R 84/98, BFHE 188, 462, BStBl II 1999, 578, unter II.2.; vom 23. August 2007 V R
4/05, BFHE 217, 327, BFH/NV 2007, 2215, unter II.2.b bb). Gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie
77/388/EWG befreien die Mitgliedstaaten von der Steuer:
21 ... "i) die Erziehung von Kindern und Jugendlichen, den Schul- oder Hochschulunterricht, die Ausbildung, die
Fortbildung oder die berufliche Umschulung sowie die damit eng verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von
Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die mit solchen Aufgaben betraut sind, oder andere
Einrichtungen mit von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannter vergleichbarer Zielsetzung;"
22 2. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 21. März 2007 V R 28/04 (BFHE 217, 59, BFH/NV 2007, 1604, unter
II.2.c aa) ausgeführt hat, wurde diese Richtlinienbestimmung --wie auch andere in Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG
aufgeführte Steuerbefreiungen-- vom nationalen Gesetzgeber bisher lediglich dadurch "umgesetzt", dass er die schon
bei Inkrafttreten der Richtlinie 77/388/EWG vorhandenen, teilweise bereits im UStG 1951 enthaltenen
Steuerbefreiungstatbestände im Wesentlichen unverändert weitergeführt hat.
23 Der Senat lässt im Streitfall offen, ob die Steuerfreiheit der streitigen Leistungen aus § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993
folgt und inwieweit eine richtlinienkonforme Auslegung dieser Vorschrift möglich wäre. Denn die Klägerin kann sich
grundsätzlich für die Umsatzsteuerfreiheit der streitigen Leistungen auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie
77/388/EWG berufen (zur Berufbarkeit ausführlich Senatsurteile vom 18. August 2005 V R 71/03, BFHE 211, 543,
BStBl II 2006, 143; vom 19. Mai 2005 V R 32/03, BFHE 210, 175, BStBl II 2005, 900).
24 a) Die Klägerin erfüllt die persönlichen Voraussetzungen des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG,
weil es sich bei ihr um eine "andere Einrichtung mit von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannter vergleichbarer
Zielsetzung" handelt.
25 aa) Der Begriff "Einrichtung" ist grundsätzlich weit genug, um auch private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht zu
erfassen (Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften --EuGH-- vom 26. Mai 2005 Rs. C-498/03,
Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd., Slg. 2005, I-4427, BFH/NV Beilage 2005, 310, Umsatzsteuer-
Rundschau --UR-- 2005, 453 Rz 35; z.B. BFH-Urteil in BFHE 217, 59, BFH/NV 2007, 1604). Hat der
Gemeinschaftsgesetzgeber die Inanspruchnahme der betreffenden Befreiungen nicht ausdrücklich vom Fehlen eines
Gewinnstrebens abhängig gemacht --wie z.B. in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG--, kann das
Streben nach Gewinnerzielung die Inanspruchnahme dieser Befreiungen nicht ausschließen (EuGH-Urteil Kingscrest
Associates Ltd. in Slg. 2005, I-4427, BFH/NV Beilage 2005, 310, UR 2005, 453 Rz 40 und 43; BFH-Urteil in BFHE 217,
59, BFH/NV 2007, 1604).
26 bb) Nach den Feststellungen des FG besitzt die Klägerin eine Bescheinigung, wonach sie eine Einrichtung i.S. von § 4
Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 ist, die auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts
abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereitet. Das genügt für die Anerkennung durch den Mitgliedstaat
Deutschland als Einrichtung mit vergleichbarer Zielsetzung.
27 b) Bei den von der Klägerin ausgeführten Leistungen kommt die Steuerbefreiung für "Schul- oder Hochschulunterricht"
i.S. von Art. 13 Teil A Nr. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG in Betracht.
28 Art. 13 Teil A Nr. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG bezieht sich auf verschiedene Unterrichtsformen, ohne diese
zu definieren (vgl. EuGH-Urteil vom 14. Juni 2007 Rs. C-434/05, Horizon College, BFH/NV Beilage 2007, 389, UR
2007, 587). Der Begriff "Schul- und Hochschulunterricht" beschränkt sich dabei nicht auf Unterricht, der zu einer
Abschlussprüfung zur Erlangung einer Qualifikation führt oder eine Ausbildung im Hinblick auf die Ausübung einer
Berufstätigkeit vermittelt, sondern er schließt andere Tätigkeiten ein, bei denen die Unterweisung in Schulen und
Hochschulen erteilt wird, um die Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler oder Studenten zu entwickeln, sofern diese
Tätigkeiten nicht den Charakter bloßer Freizeitgestaltung haben (EuGH-Urteil vom 14. Juni 2007 Rs. C-445/05,
Haderer, BFH/NV Beilage 2007, 394, UR 2007, 592 Rz 26). Das EuGH-Urteil in der Rechtssache Haderer ist zwar zu
Art. 13 Teil A Nr. 1 Buchst. j der Richtlinie 77/388/EWG ergangen, wonach die Mitgliedstaaten "den von Privatlehrern
erteilten Schul- und Hochschulunterricht" von der Steuer befreien. Es gibt aber keine Gründe dafür, den Begriff "Schul-
und Hochschulunterricht" in Art. 13 Teil A Nr. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG anders auszulegen als in Art. 13
Teil A Nr. 1 Buchst. j der Richtlinie 77/388/EWG (vgl. EuGH-Urteil Horizon College in BFH/NV Beilage 2007, 389, UR
2007, 587 Rz 17 und 20 und Schlussanträge der Generalanwältin vom 8. März 2007 in den Rs. C-434/05, Horizon
College, Slg. 2007, 4793, und C-445/05, Haderer, Slg. 2007, 4841 Rz 40).
29 Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Steuerbefreiungen ist zwar zu berücksichtigen, dass die Begriffe, mit
denen die Steuerbefreiungen nach Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG umschrieben sind, eng auszulegen sind, weil
Steuerbefreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein
Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (EuGH-Urteil vom 19. April 2007 C-455/05,
Velvet & Steel, BFH/NV Beilage 2007, 294, UR 2007, 379 Rz 14, m.w.N.). Eine besonders enge Auslegung des
Begriffs "Schul- und Hochschulunterricht" würde aber die Gefahr einer unterschiedlichen Anwendung des
Mehrwertsteuerrechts in den Mitgliedstaaten hervorrufen (EuGH-Urteil Haderer in BFH/NV Beilage 2007, 394, UR
2007, 592 Rz 24).
30 c) Das FG wird deshalb prüfen müssen, ob --wie die Klägerin unter Hinweis auf entsprechende staatliche Schulen und
Ergänzungsschulen vorträgt-- vergleichbare Leistungen in Schulen erbracht werden und ob die Leistungen der
Klägerin der bloßen Freizeitgestaltung gedient haben. Hierbei wird es Folgendes berücksichtigen müssen:
31 aa) Eine Beschränkung der Steuerbefreiung auf solche Unterrichtsleistungen, die sich an Personen richten, bei denen
nach den Umständen anzunehmen ist, dass sie sich auf einen Beruf oder eine Prüfung vor einer juristischen Person
vorbereiten, lässt sich nicht daraus herleiten, dass die Leistungen gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG 1993 "unmittelbar"
dem Schul- und Bildungszweck dienen müssen. Auf die Ziele der Personen, die die Einrichtung besuchen, kommt es
für die Steuerbefreiung nicht an. Entscheidend sind vielmehr die Art der erbrachten Leistungen und ihre generelle
Eignung als Schul- oder Hochschulunterricht (vgl. zur Berufsaus- oder -fortbildung: BFH-Urteile vom 18. Dezember
2003 V R 62/02, BFHE 204, 355, BStBl II 2004, 252; in BFHE 188, 462, BStBl II 1999, 578; Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 3. Dezember 1976 VII C 73.75, BStBl II 1977, 334). Deshalb ist es auch
ohne Belang, wie hoch der Anteil der Schüler ist, die den Ballettunterricht tatsächlich im Hinblick auf eine
Berufsausbildung oder eine Prüfungsvorbereitung besuchten oder später tatsächlich den Beruf des Tänzers ergriffen
haben (vgl. BFH-Urteil in BFHE 204, 355, BStBl II 2004, 252, m.w.N.).
32 bb) Die Bescheinigungen der zuständigen Landesbehörde vom 6. Oktober 1999 und 8. Februar 2001 sind nicht nur
für die Frage der Anerkennung einer Einrichtung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG von
Bedeutung (s. oben unter II.2.a bb). Die Bescheinigungen haben auch insofern Indizwirkung, als --sofern keine
gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen-- davon auszugehen ist, dass Leistungen, die tatsächlich dem
Anforderungsprofil der Bescheinigung entsprechen, nicht den Charakter einer bloßen Freizeitgestaltung haben.
33 Solche gegenteiligen Anhaltspunkte, die zur Annahme reiner Freizeitgestaltungen führen, können sich zum Beispiel
aus dem Teilnehmerkreis oder aus der thematischen Zielsetzung eines Kurses ergeben. So sind Kurse, die von ihrer
Zielsetzung auf reine Freizeitgestaltung gerichtet sind, ausgeschlossen. Darunter fallen zum Beispiel Kurse, die sich
an Eltern von Schülern richten, um die Wartezeit während des Unterrichts der Kinder sinnvoll zu nutzen, Kurse für
Senioren oder allgemein am Tanz interessierte Menschen. Kurse hingegen, die es einem Teilnehmer ermöglichen,
die vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten durch Vertiefung und Fortentwicklung schließlich beruflich zu nutzen,
fallen unter die Steuerbefreiung auch dann, wenn von dieser Möglichkeit nur wenige Teilnehmer Gebrauch machen.
Hierfür spricht insbesondere auch Kapitel V Abschn. 1 Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 1777/2005 des Rates vom 17.
Oktober 2005 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 77/388/EWG über das gemeinsame
Mehrwertsteuersystem (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 288, S. 1). Danach umfassen die
Dienstleistungen der Ausbildung, Fortbildung oder beruflichen Umschulung, die unter den Voraussetzungen des Art.
13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG erbracht werden, Schulungsmaßnahmen mit direktem Bezug zu
einem Gewerbe oder einem Beruf sowie jegliche Schulungsmaßnahmen, die dem Erwerb oder der Erhaltung
beruflicher Kenntnisse dienten. Die Dauer der Ausbildung, Fortbildung oder beruflichen Umschulung ist hierfür
unerheblich. Für Schulunterricht und Hochschulunterricht ist ein direkter Bezug zu einem Beruf deshalb nicht
erforderlich.
34 3. Die Anfechtungsbeschränkung des § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) steht einer
Herabsetzung der Umsatzsteuer für das Streitjahr 1995 nicht entgegen. Die Bescheinigungen vom 6. Oktober 1999
und 8. Februar 2001 wirken auf das Jahr 1995 zurück (BFH-Beschluss vom 6. Dezember 1994 V B 52/94, BStBl II
1995, 913; Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 30. November 1995 IV C 4 -S 7177- 22/95,
BStBl I 1995, 827) und stellen entweder Grundlagenbescheide i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO oder
rückwirkende Ereignisse i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar (zur Problematik vgl. von Groll in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175 AO Rz 262). Ob die Rückwirkung bei einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst.
a UStG 1993 ausgeschlossen ist (so BFH-Urteil vom 15. September 1994 XI R 101/92, BFHE 176, 146, BStBl II 1995,
912; a.A. BMF, a.a.O.), bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Die durch Art. 8 Nr. 6 des Richtlinien-
Umsetzungsgesetzes vom 9. Dezember 2004 (BGBl I 2004, 3310) eingefügte Vorschrift des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO,
wonach die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes
Ereignis gilt, ist gemäß Art. 97 § 9 Abs. 3 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung erstmals anzuwenden,
wenn die Bescheinigung oder Bestätigung nach dem 28. Oktober 2004 vorgelegt oder erteilt wird, und spielt im
vorliegenden Fall schon deshalb keine Rolle.