Urteil des BFH vom 13.03.2017

BFH (verfassungskonforme auslegung, festsetzung, einspruch, beratung, kläger, steuerfestsetzung, vorläufig, teil, auslegung, rechtsschutz)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 30.9.2010, III R 39/08
Inhaltliche Bestimmtheit eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO - Voraussetzungen für den Erlass
einer Teileinspruchsentscheidung - Verfassungsmäßiges Zustandekommen des JStG 2007 - Formelle Verfassungswidrigkeit
eines Gesetzes - Beendigung der Ungewissheit i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO
Leitsätze
1. Ein Vorläufigkeitsvermerk, der auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO und auf die Besteuerungsgrundlage hinweist, hinsichtlich
derer die Steuer vorläufig festgesetzt wird, ist inhaltlich nach Grund und Umfang hinreichend bestimmt. Es ist nicht
erforderlich, die betragsmäßige Auswirkung der vorläufigen Festsetzung anzugeben und die anhängigen Musterverfahren
nach Gericht und Aktenzeichen zu bezeichnen ff. .
2. Ein solcher Vorläufigkeitsvermerk beschränkt sich nicht auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung anhängigen
Verfahren. Sind die Verfahren, die der Vorläufigkeit zugrunde liegen, beendet und ist die vorläufige Festsetzung noch nicht
für endgültig erklärt, bleibt die Festsetzung vorläufig, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 171 Abs. 8 Satz 2 AO) wieder
ein einschlägiges Verfahren anhängig wird ff.
3. Eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Festsetzung kann auch dann geändert werden, wenn der BFH oder das
BVerfG eine Norm verfassungskonform auslegt .
4. Eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Festsetzung schränkt den verfassungsrechtlich garantierten
Rechtsschutz des Steuerpflichtigen nicht ein. Macht er besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art
substantiiert geltend, kann trotz vorläufiger Festsetzung ein Rechtsschutzbedürfnis für ein Einspruchsverfahren und
Klageverfahren anzunehmen sein, in dem der Steuerpflichtige ggf. auch vorläufigen Rechtsschutz erlangen kann. Erklärt die
Finanzbehörde die vorläufige Festsetzung (ggf. auf Antrag gemäß § 165 Abs. 2 Satz 4 AO) für endgültig oder entfällt ein
Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid, sind ebenfalls Einspruch und ggf. Klage möglich ff.
5. Die Sachdienlichkeit der Teileinspruchsentscheidung ist in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar. Ist eine
Teileinspruchsentscheidung sachdienlich, entspricht ihr Erlass regelmäßig billigem Ermessen mit der Folge, dass eine
weitere Begründung der Ermessensentscheidung nicht erforderlich ist .
6. Eine Teileinspruchsentscheidung ist auch dann sachdienlich, wenn sie nicht allein auf schnelleren Rechtsschutz im
Interesse des Steuerpflichtigen gerichtet ist, sondern dem Interesse der Finanzverwaltung an einer zeitnahen Entscheidung
über den entscheidungsreifen Teil eines Einspruchs dient, der ersichtlich nur zu dem Zweck eingelegt wird, die
Steuerfestsetzung nicht bestandskräftig werden zu lassen .
7. In der Teileinspruchsentscheidung wird durch Angabe der betreffenden Besteuerungsgrundlage(n) hinreichend bestimmt,
hinsichtlich welcher Teile Bestandskraft nicht eintreten soll .
8. Das JStG 2007 ist verfassungsmäßig zustande gekommen. Trotz der grundsätzlich vorgesehenen drei Beratungen eines
Gesetzentwurfs muss eine vom Gesetzentwurf in erster Beratung abweichende Beschlussempfehlung nicht Gegenstand
einer erneuten ersten Beratung sein. Ein Verstoß gegen § 81 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestags (Frist für die zweite Beratung) führt nicht zur formellen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ff.
Tatbestand
1
A. Im März 2007 ging beim Beklagten, Revisionsbeklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) die
Einkommensteuererklärung des Klägers, Revisionsklägers und Revisionsbeklagten (Kläger) für das Streitjahr 2005
ein, mit der er Einkünfte aus Gewerbebetrieb und aus nichtselbständiger Arbeit erklärte. Im Bescheid für 2005 über
Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 5. April 2007 berücksichtigte das FA die
Altersvorsorgeaufwendungen des Klägers (Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung) sowie die übrigen
Vorsorgeaufwendungen entsprechend den Regelungen in § 10 Abs. 3, 4 und 4a des Einkommensteuergesetzes in
der Fassung für das Streitjahr 2005 (EStG) in beschränktem Umfang als Sonderausgaben.
2
Auf Antrag des Klägers erging am 26. April 2007 ein geänderter Bescheid, weil die Einkünfte aus nichtselbständiger
Arbeit zu hoch angesetzt worden waren. Die Festsetzung der Einkommensteuer war --wie im ursprünglichen
Bescheid-- gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) vorläufig hinsichtlich
- der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen
(§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG),
- der Anwendung der durch das Haushaltsbegleitgesetz (HBeglG)
2004 vom 29. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 3076, BGBl I 2004,
69, BStBl I 2004, 120) geänderten Vorschriften und
- der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw.
Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung
nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der
Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz
--AbgG--).
Die Festsetzung des Solidaritätszuschlags war gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der
Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes (SolzG) 1995.
3
Im Bescheid wird erläutert, die Vorläufigkeitserklärung erfasse nur die Frage, ob die angeführten gesetzlichen
Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar seien. Die Vorläufigkeitserklärung erfolge aus verfahrensrechtlichen
Gründen und sei nicht dahin zu verstehen, dass die Regelungen als verfassungswidrig oder als gegen Europäisches
Gemeinschaftsrecht verstoßend angesehen würden. Änderungen dieser Regelungen würden von Amts wegen
berücksichtigt; ein Einspruch sei insoweit nicht erforderlich.
4
Mit seinem Einspruch gegen den geänderten Bescheid vom 26. April 2007 bat der Kläger unter Bezugnahme auf das
Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31. Mai 2006 X R 9/05 (BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858), ihm die von den
Vorläufigkeitsvermerken umfassten Verfahren und Rechtsfragen mitzuteilen, damit die Reichweite der
Vorläufigkeitsvermerke im vorliegenden Fall klar feststehe.
5
Ferner führte er unter anderem aus, ein Vorläufigkeitsvermerk biete nicht den gleichen Rechtsschutz wie ein
Einspruch. Solange ein Einspruchsverfahren laufe, sei der Steuerbescheid offen und der Steuerpflichtige könne sich
auf alle in dieser Zeit erlassenen Urteile berufen, während ein Vorläufigkeitsvermerk den Bescheid nur hinsichtlich der
ihm zugrunde liegenden anhängigen Verfahren offen halte. Zudem würden von dem Vorläufigkeitsvermerk nur
Verfahren umfasst, bei denen es um die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht gehe und wenn ein
Verstoß gegen höherrangiges Recht angenommen werde. Gelange das Gericht aber durch einfachgesetzliche
Auslegung zu einer verfassungskonformen Entscheidung, könne sich der Steuerpflichtige, dessen Steuer nach § 165
Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig festgesetzt sei, hierauf nicht berufen.
6
Beim BFH sei das Verfahren X R 9/07 anhängig, das die --auch im Streitfall erhebliche-- Frage betreffe, ob die
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf zukünftige Renteneinkünfte in voller Höhe als
vorweggenommene Werbungskosten oder nur beschränkt als Sonderausgaben abziehbar seien. Es sei zweckmäßig,
das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung dieser Rechtsfrage ruhen zu lassen.
7
Ergänzend werde der Einspruch auf die den Vorläufigkeitsvermerken im angefochtenen Bescheid zugrunde
liegenden Musterverfahren gestützt, bei denen er, der Kläger, davon ausgehe, dass sie durch einfachgesetzliche
verfassungskonforme Auslegung der jeweils betroffenen Norm zu Gunsten des Steuerpflichtigen entschieden würden.
Das Einspruchsverfahren habe bis zur Entscheidung auch dieser Musterverfahren zu ruhen.
8
Das FA erließ am 12. Juli 2007 gemäß § 367 Abs. 2a AO eine Teileinspruchsentscheidung mit folgendem Tenor:
"Der Einspruch wird, soweit hierdurch über ihn entschieden, als unbegründet zurückgewiesen.
Über folgenden Teil des Einspruchs wird nicht entschieden:
- Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als
vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne
des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG; beim BFH anhängiges
Verfahren X R 9/07
Der Bescheid ist weiterhin vorläufig gem. § 165 Abs. 1 AO, soweit dies im Erläuterungstext des angefochtenen
Bescheides ausgeführt ist."
9
Zur Begründung führte das FA aus: Wegen der vom Kläger beanstandeten Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zur
Rentenversicherung als vorweggenommene Werbungskosten sei beim BFH das Verfahren X R 9/07 anhängig.
Insoweit ruhe das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 AO.
10 Soweit der Kläger die ungeklärte Reichweite der Vorläufigkeitsvermerke rüge, sei der Einspruch entscheidungsreif. Es
sei sachdienlich, über diesen Teil gemäß § 367 Abs. 2a Satz 1 AO vorab zu entscheiden. Der Einspruch sei insoweit
unbegründet. Die Vorläufigkeitsvermerke seien nicht zu beanstanden, da sowohl Grund als auch Umfang der
Vorläufigkeit in den Erläuterungen zum Bescheid angegeben seien.
11 Der rechtliche und zeitliche Umfang eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO sei seit dem BFH-
Urteil in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858 geklärt. Danach reiche der Hinweis auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO aus.
Der Einwand des Klägers, die Vorläufigkeitsvermerke seien nicht ausreichend begründet, weil sie "nicht in eine
sachliche und rechtliche Verbindung zu genau bezeichneten Verfahren i.S.d. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO" gebracht
würden, gehe ins Leere. Denn die Vorläufigkeit beschränke sich nach dem BFH-Urteil in BFHE 213, 199, BStBl II
2006, 858 nur dann auf zum Zeitpunkt der Festsetzung anhängige Verfahren, wenn die Steuer "im Hinblick auf
anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren" vorläufig festgesetzt worden sei. Der
angefochtene Bescheid enthalte eine solche Einschränkung der Vorläufigkeit nicht. Die Reichweite einer Vorläufigkeit
sei dem dafür im Bescheid angeführten Grund zu entnehmen oder aus sonstigen Umständen im Wege der Auslegung
zu ermitteln.
12 Soweit die Steuerfestsetzung auf dem nicht entschiedenen Teil beruhe, ruhe das Verfahren weiterhin gemäß § 363
Abs. 2 AO. Nur insoweit trete durch diese Entscheidung keine Bestandskraft ein (§ 367 Abs. 2a Satz 2 AO).
13 Mit der Klage beantragte der Kläger, die Nichtigkeit des angefochtenen Bescheides sowie der
Teileinspruchsentscheidung festzustellen, hilfsweise deren Aufhebung. Das Finanzgericht (FG) hob durch Urteil vom
12. Dezember 2007 7 K 249/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2008, 1082) die
Teileinspruchsentscheidung auf. Sie sei rechtswidrig, weil das FA keine Ermessenserwägungen angestellt bzw. nicht
dargelegt habe, weshalb das Einspruchsvorbringen entscheidungsreif sei und weshalb es im Streitfall sachdienlich
sei, das Verfahren nicht ruhen zu lassen. Die Vorläufigkeitsvermerke seien unwirksam, denn sie ließen den Umfang
und den Grund der Vorläufigkeit nicht hinreichend genau erkennen. Da die Unwirksamkeit der Vorläufigkeitsvermerke
nicht zur Nichtigkeit des Steuerbescheides führe, habe das FA den Kläger insoweit unter Berücksichtigung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
14 Gegen das Urteil haben sowohl der Kläger als auch das FA Revision eingelegt.
15 Während des Revisionsverfahrens wurde der angefochtene Bescheid für 2005 über Einkommensteuer und
Solidaritätszuschlag --aus hier nicht streitigen Gründen-- mehrfach geändert. Die Bescheide vom 10. Juli 2008 und
vom 19. Januar 2009 waren nur noch vorläufig hinsichtlich der beschränkten Abziehbarkeit von
Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG) und der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw.
Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 AbgG. In dem nach § 172 Abs. 1 Nr. 2
AO geänderten Bescheid vom 23. September 2010 wurden die Vorläufigkeitsvermerke hinsichtlich des HBeglG 2004
und der Verfassungsmäßigkeit des SolzG 1995 wieder aufgenommen.
16 Der Kläger trägt zur Begründung seiner Revision im Wesentlichen vor:
17 Die Vorläufigkeitsvermerke seien unbestimmt und damit unwirksam. Die Unwirksamkeit führe zur Nichtigkeit der
Festsetzung. Zumindest aber seien die Vorläufigkeitsvermerke und damit auch der Bescheid für 2005 über
Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag rechtswidrig.
18 Entgegen § 165 Abs. 1 Satz 3 AO seien Grund und Umfang der Vorläufigkeit nicht angegeben. Die vorläufig
festgesetzte Steuer müsse beziffert werden, weil sich nach Beendigung der Vorläufigkeit ein Einspruchsverfahren
anschließen könne, in dem andere Begründungen nachgeschoben werden dürften. Unklar sei auch, ob sich der
jeweilige Vorläufigkeitsvermerk nur auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung anhängigen Verfahren beziehe
(so BFH-Urteil in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858, und Urteil des Sächsischen FG vom 19. August 2009 2 K
1038/09, juris) oder auch auf später anhängig werdende Verfahren, wie die Finanzverwaltung behaupte.
19 Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO sei vorläufig festzusetzen, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit
höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dem
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder einem obersten Bundesgericht sei. Es sei daher anzugeben, welche
anhängigen Verfahren (unter Angabe des Gerichts und des Aktenzeichens) und welche genauen Rechtsfragen von
dem Vorläufigkeitsvermerk umfasst seien. Ohne diese Angaben könne der Steuerpflichtige nicht entscheiden, ob ein
Einspruch gegen den Steuerbescheid erforderlich sei oder nicht. Fehlten diese Angaben im Vorläufigkeitsvermerk,
habe die Finanzbehörde die Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks im Einspruchsverfahren zu erläutern (BFH-Urteil
in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858). Dieser Begründungspflicht sei das FA bisher nicht nachgekommen.
20 Eine vorläufige Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO erfasse nur die Vereinbarkeit mit höherrangigem
Recht, nicht aber die einfachgesetzliche verfassungskonforme Auslegung. Die Vertreter der Finanzverwaltung hätten
in der mündlichen Verhandlung vor dem BFH zwar erklärt, die Vorläufigkeit beziehe sich auch auf die
verfassungskonforme Auslegung. Aus den bisherigen Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) ergebe
sich jedoch die gegenteilige Auffassung. Bei Erhalt des angefochtenen Bescheides sei daher die Reichweite der
Vorläufigkeitsvermerke auch insoweit nicht klar und eindeutig gewesen.
21 Da der Steuerpflichtige das Recht habe, nach Beseitigung der Ungewissheit eine Endgültigkeitserklärung zu
beantragen, müsse klar sein, wann die Ungewissheit beseitigt sei. Die Vertreter der Finanzverwaltung hätten in der
mündlichen Verhandlung erklärt, die Ungewissheit sei mit der Entscheidung über die im Vorläufigkeitsvermerk
bezeichnete Frage beseitigt; nach Rz 9 zu § 165 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) dürfe die
Vorläufigkeit aber jederzeit durch eine Endgültigkeitserklärung beendet werden. Zudem lasse die Finanzverwaltung
bei Änderungsbescheiden die Vorläufigkeitsvermerke bereits dann entfallen, wenn kein Verfahren mehr anhängig sei,
unabhängig davon, ob die Rechtsfrage bereits geklärt sei.
22 Nach dem aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) folgenden Recht freier Prozess- und Verfahrensführung könne
der Steuerpflichtige selbst entscheiden, ob er das Verfahren zum Stillstand bringe oder selbst eine gerichtliche
Entscheidung herbeiführe. Durch die vorläufige Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO werde dieses Recht
des Steuerpflichtigen aber eingeschränkt, da er nach Rechtsprechung und Verwaltungsauffassung bei vorläufiger
Festsetzung insoweit kein Rechtsschutzbedürfnis für einen Einspruch habe. Zwar hätten die Vertreter der
Finanzverwaltung erklärt, der Steuerpflichtige könne Einspruch einlegen, wenn der Vorläufigkeitsvermerk in einem
Änderungsbescheid entfalle, der Bescheid nach einer höchstrichterlichen Entscheidung zugunsten des
Steuerpflichtigen geändert oder für endgültig erklärt werde. In einem solchen Einspruchsverfahren könnte aber die
Rechtsfrage, deretwegen vorläufig festgesetzt worden sei, nicht geklärt werden; denn nach § 351 AO dürften
unanfechtbare Verwaltungsakte nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reiche. Selbst wenn das Entfallen
eines Vorläufigkeitsvermerks als Änderung angesehen würde, könne allenfalls geklärt werden, ob der
Vorläufigkeitsvermerk zu Recht entfallen sei. Bei einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen könne der
Änderungsbescheid nicht angegriffen werden, weil der Steuerpflichtige, der eine weitere Herabsetzung begehre,
durch den Änderungsbescheid nicht beschwert sei. Da die Endgültigkeitserklärung anders als die Aufhebung des
Vorbehalts der Nachprüfung (§ 164 Abs. 3 Satz 2 AO) keiner Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung
gleichstehe, könne der Steuerpflichtige mit einem Einspruch gegen die Endgültigkeitserklärung ebenfalls nicht
Rechtsfragen klären lassen, hinsichtlich derer die Steuerfestsetzung für endgültig erklärt worden sei.
23 Auch werde das Recht des Steuerpflichtigen auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Steuerbescheides
eingeschränkt; denn die Vollziehung der Steuerfestsetzung könne nur ausgesetzt werden, wenn ein zulässiger
Einspruch vorliege. Da zu einer Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung des Steuerbescheides führende ernstliche
Zweifel in der Regel erst vorlägen, wenn der BFH die Sache dem BVerfG zur Entscheidung vorlege, müsse dem
Steuerpflichtigen die Möglichkeit gegeben werden, trotz vorläufiger Festsetzung Einspruch einzulegen und das
Verfahren zum Ruhen zu bringen. Nur durch die generelle Zulässigkeit eines Einspruchs bei vorläufiger Festsetzung
und die Einräumung der Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO werde das Recht auf individuellen, effektiven
Rechtsschutz gewahrt. Art. 19 Abs. 4 GG verbiete jede Einschränkung des Rechts auf AdV durch
Vorläufigkeitsvermerke bei verfassungsrechtlichen Musterprozessen.
24 Die Teileinspruchsentscheidung sei ebenfalls nichtig, zumindest aber rechtswidrig, weil nicht angegeben sei, welcher
Steuerbetrag nicht bestandskräftig werden solle. Da eine Steuerfestsetzung stets betragsmäßig in Bestandskraft
erwachse, reiche ein Hinweis auf offene Besteuerungsgrundlagen nicht aus. Besteuerungsgrundlagen könnten nicht
bestandskräftig werden. Eine Bezifferung der nicht bestandskräftig werdenden Steuerfestsetzung sei auch deshalb
erforderlich, weil der Steuerpflichtige insoweit die Besteuerungsgrundlagen im Einspruchsverfahren austauschen
könne. Die Auffassung der Finanzverwaltung, nach Ergehen einer Teileinspruchsentscheidung bestehe ein solches
Recht nicht, schränke den Rechtsschutz ein.
25 Nichtig oder jedenfalls rechtswidrig sei die Teileinspruchsentscheidung zudem, weil sie inhaltlich nicht hinreichend
bestimmt sei. Nach Rz 6.3 zu § 367 AEAO sei "genau zu bestimmen (z.B. durch Benennung der anhängigen
Verfahren vor dem BFH, BVerfG oder EuGH mit Az. und Streitfrage), hinsichtlich welcher Teile des Verwaltungsaktes
Bestandskraft nicht eintreten" solle. Im Streitfall sei für den nicht bestandskräftig werdenden Teil des Einspruchs das
beim BFH anhängige Verfahren X R 9/07 genannt worden. Unklar sei, ob das Einspruchsverfahren trotz der
Entscheidung des BFH im Verfahren X R 9/07 weiterhin ruhe, weil gegen diese Entscheidung
Verfassungsbeschwerde erhoben worden sei (Az. 2 BvR 290/10).
26 Das FA habe die Teileinspruchsentscheidung auch deshalb nicht erlassen dürfen, weil gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO
gesetzliche Zwangsruhe eingetreten sei. Denn er, der Kläger, habe sich darauf berufen, dass die den
Vorläufigkeitsvermerken zugrunde liegenden Verfahren durch verfassungskonforme einfachgesetzliche Auslegung
der jeweils betroffenen Norm zu Gunsten des Steuerpflichtigen entschieden würden. Fragen der einfachgesetzlichen
Auslegung einer Rechtsnorm würden aber von einem auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützten
Vorläufigkeitsvermerk nicht umfasst. Da die zu klärende Frage den gesamten Bescheid betreffe, könne dieser nicht in
zwei Teile geteilt werden mit der Folge, dass eine abschließende Entscheidung nur hinsichtlich eines Teiles nicht
möglich sei (vgl. auch Beschluss des FG Düsseldorf vom 23. Juni 2009 11 V 1839/08 A [F], EFG 2009, 1817).
27 Die Teileinspruchsentscheidung sei außerdem ermessensfehlerhaft. Soweit das FA hinsichtlich der Sachdienlichkeit
Ermessen ausgeübt habe, sei dieses nicht auf den konkreten Einzelfall bezogen und deshalb fehlerhaft.
28 Schließlich gebe es für die Teileinspruchsentscheidung keine Rechtsgrundlage, weil das Jahressteuergesetz 2007
(JStG 2007) nicht verfassungsgemäß zustande gekommen sei. § 78 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestags (GO BT) schreibe drei Beratungen für Gesetzentwürfe vor. Bei der ersten Beratung des JStG 2007 am 28.
September 2006 sei aber § 367 Abs. 2a AO in dem Gesetzentwurf noch nicht enthalten gewesen (vgl. BTDrucks
16/2712). Die zweite Beratung des Gesetzentwurfs habe entgegen § 81 Abs. 1 GO BT früher als am zweiten Tag nach
Verteilung der Beschlussempfehlung und des Ausschussberichts begonnen bzw. eine dritte Beratung sei nicht
durchgeführt worden, da vor der Schlussabstimmung noch nicht einmal gefragt worden sei, ob sich jemand zur Sache
äußern möchte. Ein evidenter Mangel im Gesetzgebungsverfahren führe nach der Rechtsprechung des BVerfG zur
Nichtigkeit des Gesetzes.
29 Wegen des weiteren Vortrags des Klägers nimmt der Senat auf die im Revisionsverfahren eingereichten Schriftsätze
einschließlich des Schriftsatzes vom 6. Oktober 2010 Bezug.
30 Der Kläger beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Nichtigkeit des Bescheides für 2005 über Einkommensteuer
und Solidaritätszuschlag vom 5. April 2007, der geänderten Bescheide für 2005 über Einkommensteuer und
Solidaritätszuschlag vom 26. April 2007, 18. Februar 2008, 17. März 2008, 10. Juli 2008, 19. Januar 2009 und 23.
September 2010 sowie der Teileinspruchsentscheidung vom 12. Juli 2007 festzustellen,
hilfsweise,
das FG-Urteil, den Bescheid für 2005 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 5. April 2007, den
geänderten Bescheid für 2005 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 26. April 2007 in der Fassung
der Teileinspruchsentscheidung vom 12. Juli 2007 sowie die geänderten Bescheide für 2005 über Einkommensteuer
und Solidaritätszuschlag vom 18. Februar 2008, 17. März 2008, 10. Juli 2008, 19. Januar 2009 und 23. September
2010 aufzuheben,
weiter hilfsweise,
das FG-Urteil, den Bescheid für 2005 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 5. April 2007, den
geänderten Bescheid für 2005 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 26. April 2007 in der Fassung
der Teileinspruchsentscheidung vom 12. Juli 2007 sowie die geänderten Bescheide für 2005 über Einkommensteuer
und Solidaritätszuschlag vom 18. Februar 2008, 17. März 2008, 10. Juli 2008, 19. Januar 2009 und 23. September
2010 aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu
bescheiden.
31 Das FA beantragt mit seiner Revision, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
32 Das BMF und das Niedersächsische Finanzministerium sind dem Verfahren nach § 122 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) beigetreten. Sie haben keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
33 B. I. Auf die Revisionen des Klägers und des FA ist das FG-Urteil schon aus verfahrensrechtlichen Gründen
aufzuheben, weil diesem ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt. Das FG hat über den Bescheid für
2005 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 26. April 2007 und die Teileinspruchsentscheidung vom
12. Juli 2007 entschieden. Während des Revisionsverfahrens hat das FA aber mehrere geänderte Bescheide
erlassen, die gemäß § 121, § 68 FGO nacheinander Gegenstand des Verfahrens geworden sind (BFH-Urteil vom 15.
April 2010 IV R 5/08, BFHE 229, 524, BFH/NV 2010, 1926, m.w.N.).
34 Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 127 FGO bedarf es nicht, weil sich die Streitpunkte
nicht geändert haben. Die Einkommensteuer und der Solidaritätszuschlag im Bescheid vom 23. September 2010 sind
(wieder) in demselben Umfang vorläufig festgesetzt wie im angefochtenen Bescheid vom 26. April 2007, so dass die
Streitpunkte hinsichtlich der Vorläufigkeitsvermerke gleich geblieben sind. Auch über die Rechtmäßigkeit der
Teileinspruchsentscheidung ist im Revisionsverfahren weiterhin zu entscheiden. Denn die
Teileinspruchsentscheidung enthält eine selbständige Beschwer und wird insoweit durch die Änderungsbescheide,
die den Bescheid vom 26. April 2007 ersetzt haben, nicht berührt. Da die tatsächlichen, mit Verfahrensrügen nicht
angegriffenen Feststellungen des FG durch die Aufhebung des Urteils nicht weggefallen sind, bilden sie nach wie vor
die Grundlage für die Entscheidung des Senats (z.B. BFH-Urteil vom 27. März 2007 VIII R 64/05, BFHE 217, 497,
BStBl II 2007, 639, m.w.N.). Der Senat entscheidet daher aufgrund seiner Befugnis aus den §§ 121 und 100 FGO in
der Sache selbst.
35 II. Die Revision des FA führt zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO); die Revision des Klägers hat in
der Sache keinen Erfolg (§ 126 Abs. 2 FGO).
36 1. Die Vorläufigkeitsvermerke sind i.S. des § 119 Abs. 1 AO inhaltlich hinreichend bestimmt.
37 a) Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO kann die Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die
Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind. Diese Regelung ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auch
anzuwenden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens
beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Welche Anforderungen an die inhaltliche
Bestimmtheit einer vorläufigen Festsetzung zu stellen sind, ergibt sich aus § 165 Abs. 1 Satz 3 AO. Danach sind
Umfang und Grund der Vorläufigkeit anzugeben.
38 b) Aus den Vorläufigkeitsvermerken ergibt sich der Umfang der Vorläufigkeit hinreichend deutlich.
39 Zwar bezieht sich nach § 165 Abs. 1 AO die Vorläufigkeit auf die Festsetzung der Steuer. Nach ständiger
Rechtsprechung des BFH muss die Auswirkung der Vorläufigkeit auf die Steuerfestsetzung jedoch nicht betragsmäßig
angegeben werden. Es reicht der Hinweis auf eine Besteuerungsgrundlage aus, wenn dadurch jedenfalls mittelbar
der Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung änderbar sein soll (BFH-Urteil vom 27. November
1996 X R 20/95, BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791, m.w.N.).
40 Diesem Erfordernis wird der Änderungsbescheid vom 23. September 2010 gerecht. Es wird hinreichend bestimmt
umschrieben, inwieweit die Steuerfestsetzung vorläufig ist, nämlich insoweit, als die Vorsorgeaufwendungen des
Klägers nicht in vollem Umfang als Sonderausgaben abgezogen, Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben nicht in
Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 AbgG berücksichtigt sowie durch das HBeglG 2004
geänderte Vorschriften angewendet worden sind und ein Solidaritätszuschlag festgesetzt worden ist.
41 Hierdurch ist auch der Änderungsrahmen eines Einspruchsverfahrens bestimmt, das sich gegebenenfalls anschließt,
wenn ein Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid nicht mehr enthalten ist (vgl. BFH-Urteil vom 19. Oktober
1999 IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282) oder wenn das FA die Festsetzung von sich aus oder auf Antrag
des Steuerpflichtigen für endgültig erklärt (§ 165 Abs. 2 Sätze 2 und 4 AO). Im Übrigen wird eine im Hinblick auf eine
(oder mehrere) Besteuerungsgrundlage(n) vorläufige Steuerfestsetzung nur für solche Einwendungen offen gehalten,
die sich auf die betreffende(n) Besteuerungsgrundlage(n) beziehen; in einem nachfolgenden Einspruchs- oder
Klageverfahren können Einwendungen hinsichtlich anderer Besteuerungsgrundlagen wegen der materiellen
Bestandskraft der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht mehr berücksichtigt werden (Senatsurteil vom 6. März 1992
III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588). Nur bei einer Änderung der vorläufigen Festsetzung sind im Rahmen
des Änderungsbetrags auch solche Fehler zu berücksichtigen, die nicht mit dem Grund der Vorläufigkeit
zusammenhängen (§ 177 Abs. 4 AO).
42 Es ist auch nicht unklar, ob die Vorläufigkeitsvermerke nur bereits anhängige oder auch künftig anhängig werdende
Verfahren betreffen. Die Vorläufigkeitsvermerke waren --anders als die Vorläufigkeitsvermerke, über die der BFH im
Urteil in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858 zu entscheiden hatte-- nicht beschränkt auf die zum Zeitpunkt der
vorläufigen Festsetzung anhängigen Verfahren. Eine solche Einschränkung ergibt sich auch nicht aus § 165 Abs. 1
Satz 2 Nr. 3 AO. Danach ist tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Vorläufigkeit, dass die Vereinbarkeit eines
Gesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand (mindestens) eines Verfahrens bei dem EuGH, dem BVerfG oder
einem obersten Bundesgericht ist. Hat sich das Verfahren, das Anlass für die vorläufige Festsetzung war, in welcher
Weise auch immer erledigt, bleibt der Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gleichwohl erfüllt, wenn inzwischen
ein anderes einschlägiges Verfahren anhängig geworden ist. Selbst wenn insoweit Zweifel hätten bestehen können,
wären diese durch die Ausführungen des FA in der Teileinspruchsentscheidung beseitigt und ein etwaiger
Begründungsmangel nach § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO geheilt worden (vgl. BFH-Urteil vom 25. Oktober 1989 X R 109/87,
BFHE 159, 128, BStBl II 1990, 278).
43 Ebenso wenig ist unklar, wie lang der künftige Zeitraum, in dem neue Gerichtsverfahren zu berücksichtigen sind, zu
bemessen ist und wann die Ungewissheit i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO endet. Sind die Verfahren, die der
vorläufigen Festsetzung zugrunde liegen, auf welche Weise auch immer beendet, ist die Rechtsgrundlage für ein
Aufrechterhalten des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, d.h. die Ungewissheit im Sinne dieser
Vorschrift entfallen, selbst wenn die betreffende Rechtsfrage noch nicht entschieden ist (vgl. Heuermann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSP--, § 165 AO Rz 19e).
44 Ob und wann das FA eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Festsetzung für endgültig erklärt, steht in
seinem Ermessen. Dazu verpflichtet ist es nur, wenn der Steuerpflichtige dies nach Beendigung der Ungewissheit
beantragt (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO). In der Regel bleibt die Festsetzung daher, wenn der Steuerpflichtige einen
solchen Antrag nicht stellt, formal weiterhin vorläufig. Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist (vor Ablauf von zwei Jahren
nach Beseitigung der Ungewissheit und Kenntnis der Finanzbehörde hiervon, § 171 Abs. 8 Satz 2 AO) ein weiteres
einschlägiges Verfahren anhängig, hat die angeordnete Vorläufigkeit wieder eine Rechtsgrundlage; die Festsetzung
bleibt weiterhin vorläufig (vgl. auch Buciek in Beermann/Gosch, AO § 165 Rz 116). Dass bei Erlass des vorläufigen
Steuerbescheides der konkrete Zeitpunkt nicht bekannt ist, zu dem die Ungewissheit entfällt, liegt in der Natur der
Sache und kann die Rechtswidrigkeit oder gar Nichtigkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nicht begründen.
45 c) Der Grund der Vorläufigkeit ist aus den Vorläufigkeitsvermerken ebenfalls ersichtlich. Aus der Bezugnahme auf §
165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO und der Angabe der Besteuerungsgrundlage --wie der beschränkten Abziehbarkeit von
Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG)-- ergibt sich, dass das FA von der Möglichkeit einer vorläufigen
Steuerfestsetzung Gebrauch gemacht hat, weil bei dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ein
Verfahren anhängig ist, in dem darum gestritten wird, ob § 10 Abs. 3, 4, 4a EStG mit höherrangigem Recht vereinbar
ist.
46 Einer weiteren Begründung der Anordnung der Vorläufigkeit bedarf es nicht. Es ist nicht erforderlich, dass die dem
Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegenden Verfahren im Einzelnen bezeichnet werden (BFH-Urteil in BFHE 183, 348,
BStBl II 1997, 791). Auch nach dem BFH-Urteil in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858 reicht die Angabe der
Rechtsgrundlage aus. Aus der Formulierung in diesem Urteil, dem Steuerpflichtigen könne es "zugemutet werden, ...
ggf. zur Klärung der Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks Einspruch einzulegen", kann nicht hergeleitet werden,
dass das FA dem Steuerpflichtigen die dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegenden Verfahren im
Einspruchsverfahren mitteilen muss und dass der Vorläufigkeitsvermerk rechtswidrig oder sogar nichtig ist, wenn das
FA einem solchen Verlangen nicht nachkommt. Da sich die Vorläufigkeit nicht auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen
Festsetzung anhängigen Verfahren beschränkt, wäre eine Angabe dieser Verfahren im Bescheid auch nicht
zweckmäßig. Die Verfahren, die Grund für die vorläufige Festsetzung sind, können der vierteljährlich erscheinenden
Beilage zum Bundessteuerblatt Teil II, den Fachzeitschriften und auch den elektronischen Medien entnommen
werden.
47 2. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO schränkt den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen nicht in verfassungswidriger Weise
ein.
48 a) Der Kläger meint, es werde kein ausreichender Rechtsschutz gewährt, wenn das dem Vorläufigkeitsvermerk
zugrunde liegende Verfahren aufgrund verfassungskonformer Auslegung zugunsten des Steuerpflichtigen
entschieden werde. Entgegen der Auffassung des Klägers kann eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige
Festsetzung aber auch dann geändert werden, wenn das Gericht in dem Musterverfahren über die Vereinbarkeit eines
Steuergesetzes mit höherrangigem Recht aufgrund verfassungskonformer Auslegung zu einem für den
Steuerpflichtigen günstigen Ergebnis kommt. Denn die verfassungskonforme Auslegung ist insoweit keine
einfachgesetzliche Auslegung eines Steuergesetzes, sondern das Ergebnis der Prüfung, ob das betreffende
Steuergesetz mit höherrangigem Recht vereinbar ist.
49 b) Ebenso wenig wird der Steuerpflichtige dadurch in seinem Recht nach Art. 19 Abs. 4 GG auf effektiven
Rechtsschutz beschränkt, dass sich der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht auf alle
denkbaren Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts erstreckt. Denn der Steuerpflichtige kann mit
dem Einspruch gegen die Steuerfestsetzung Fragen der Auslegung einfachen Rechts geltend machen und ggf. das
Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zum Ruhen bringen, so wie es im Streitfall wegen der
Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den
Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG geschehen ist. Dem Steuerpflichtigen kann es zugemutet werden,
für eine sachgerechte Verfolgung seiner Rechte ggf. fachkundigen Rat einzuholen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 213, 199,
BStBl II 2006, 858).
50 c) Auch ist es dem Steuerpflichtigen durch eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht
generell mangels Rechtsschutzbedürfnisses verwehrt, Einspruch und ggf. Klage zu erheben und vorläufigen
Rechtsschutz zu erlangen. Nach der Rechtsprechung kann trotz vorläufiger Festsetzung wegen anhängiger
Musterverfahren ein Rechtsschutzbedürfnis für das Einspruchs- und Klageverfahren anzunehmen sein, wenn --anders
als im Streitfall-- besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht
werden (BFH-Beschlüsse vom 22. März 1996 III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506; vom 30. November
2007 III B 26/07, BFH/NV 2008, 374; BFH-Urteil vom 16. Februar 2005 VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323). In einem
solchen Einspruchs- und sich ggf. anschließenden Klageverfahren hat der Steuerpflichtige jederzeit die Möglichkeit,
vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen und --sofern die Voraussetzungen des § 361 AO bzw. des § 69 FGO
vorliegen-- zu erhalten.
51 d) Der Steuerpflichtige erleidet auch keine unzumutbaren Rechtsnachteile, wenn die materiell-rechtliche Frage in dem
Musterverfahren nicht in seinem Sinne oder --z.B. wegen Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wegen Abhilfe oder
wegen Rücknahme-- überhaupt nicht geklärt wird. Denn er kann nach Erledigung des Musterverfahrens gemäß § 165
Abs. 2 Satz 4 AO beantragen, dass die Steuerfestsetzung für endgültig erklärt wird, und gegen die dann auch insoweit
endgültige Festsetzung Einspruch einlegen und ggf. anschließend Klage erheben zur weiteren
verfassungsrechtlichen Klärung (vgl. Senatsbeschluss in BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, m.w.N.; Seer in Tipke/
Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 165 AO Rz 54; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 165 Rz 56;
Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz 39, 40, 46), ohne dass dem § 351 Abs. 1 AO entgegensteht (vgl. z.B. Klein/Rüsken,
a.a.O., § 351 Rz 5; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz 46). Erklärt die Finanzbehörde die vorläufige Festsetzung für
endgültig oder entfällt ein Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid, sind ebenfalls Einspruch und ggf.
Klage möglich.
52 3. Die Entscheidung des FA, eine Teileinspruchsentscheidung zu erlassen, ist revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden.
53 a) Nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde auf den Einspruch des Steuerpflichtigen die Sache in vollem
Umfang erneut zu prüfen und eine abschließende Einspruchsentscheidung zu erlassen. Sie kann aber nach § 367
Abs. 2a AO vorab über Teile des Einspruchs entscheiden, wenn dies sachdienlich ist. In dieser Entscheidung hat sie
zu bestimmen, hinsichtlich welcher Teile Bestandskraft nicht eintreten soll (§ 367 Abs. 2a Satz 2 AO).
54 b) Der Erlass der Teileinspruchsentscheidung war entgegen der Auffassung des FG sachdienlich.
55 aa) Das FA entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen ("kann"), ob es eine Teileinspruchsentscheidung erlässt (sog.
Entschließungsermessen). Diese Ermessensentscheidung ist verbunden mit einem unbestimmten Rechtsbegriff, weil
der Erlass einer Teileinspruchsentscheidung sachdienlich sein muss. Entgegen der Auffassung des BMF führt die
Verknüpfung aber --anders als bei einem Erlass nach § 227 AO wegen sachlicher Unbilligkeit (vgl. Beschluss des
Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101,
BStBl II 1972, 603)-- nicht dazu, dass auch der Rechtsbegriff in den Bereich der Ermessensbetätigung fällt mit der
Folge, dass der Erlass einer Teileinspruchsentscheidung auch in Bezug auf die Sachdienlichkeit der Maßnahme
gemäß § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden könnte, ob das FA die Grenzen des Ermessens überschritten oder
von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Die
Sachdienlichkeit der Teileinspruchsentscheidung ist vielmehr in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar (so auch
Beschluss des FG Düsseldorf in EFG 2009, 1817, bestätigt durch BFH-Beschluss vom 21. Mai 2010 IV B 88/09,
BFH/NV 2010, 1613; Urteil des Niedersächsischen FG vom 16. Februar 2010 12 K 119/08, Steuer-Eildienst 2010,
454; Bartone in Beermann/ Gosch, AO § 367 Rz 52; Klein/Brockmeyer, a.a.O., § 367 Rz 19; a.A. Birkenfeld in HHSp, §
367 AO Rz 509, das FA habe einen Beurteilungsspielraum).
56 bb) Nach den Gesetzesmaterialien soll § 367 Abs. 2a AO --der auf Vorschlag des Bundesrates eingefügt wurde
(BTDrucks 16/3368, S. 6)-- den Finanzbehörden ermöglichen, in einer förmlichen Einspruchsentscheidung zunächst
nur über Teile des Einspruchs zu befinden. Dies sei insbesondere dann sinnvoll, wenn ein Teil des Einspruchs
entscheidungsreif sei und hinsichtlich des anderen Teils, z.B. nach der Entscheidung in einem beim BFH anhängigen
Verfahren, eine einvernehmliche Lösung des Rechtsstreits erwartet werden könne. Auf diese Weise könne der
Steuerpflichtige hinsichtlich des entscheidungsreifen Teils seines Einspruchs schnelleren gerichtlichen Rechtsschutz
erlangen. Es liege sowohl im Interesse des Steuerpflichtigen als auch im Interesse der Finanzverwaltung, wenn über
den entscheidungsreifen Teil zeitnah entschieden werde (BTDrucks 16/3368, S. 25).
57 Aus der Gesetzesbegründung kann nicht --wie das FG annimmt-- hergeleitet werden, der Zweck der
Teileinspruchsentscheidung sei allein auf schnelleren Rechtsschutz im Interesse des Steuerpflichtigen gerichtet und
deshalb eine Teileinspruchsentscheidung bei einem nur die vorläufige Festsetzung betreffenden Einspruch nicht
sachdienlich. Abgesehen davon, dass eine solche Einschränkung im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck kommt,
wird in der Gesetzesbegründung darauf hingewiesen, dass die Teileinspruchsentscheidung auch dem Interesse der
Finanzverwaltung an einer zeitnahen Entscheidung über den entscheidungsreifen Teil eines Einspruchs dient.
58 Aus dem Zusammenspiel der Vorschrift mit der --ebenfalls durch das JStG 2007 eingefügten-- Regelung in § 367 Abs.
2b AO ergibt sich zudem, dass die Teileinspruchsentscheidung als Instrument zur Bewältigung von
Masseneinsprüchen im Hinblick auf Musterverfahren geschaffen wurde (so auch Bartone, a.a.O., AO § 367 Rz 50;
Birkenfeld in HHSp, § 367 AO Rz 486, 490). Betreffen die Einsprüche (auch) Rechtsfragen, die Gegenstand eines
Verfahrens beim EuGH, BVerfG oder BFH sind, sollen die Finanzbehörden über die Sach- und Rechtsfragen vorab
entscheiden können, die von den anhängigen höchstrichterlichen Verfahren nicht betroffen sind. Ist aufgrund der
Entscheidung in den betreffenden Verfahren den Einsprüchen nicht abzuhelfen, kann die Finanzverwaltung die
Einsprüche gemäß § 367 Abs. 2b AO durch Allgemeinverfügung zurückweisen. Diese Lösung ist insbesondere dann
zweckmäßig, wenn aufgrund einer Teileinspruchsentscheidung nur noch der von der Allgemeinverfügung betroffene
Teil unentschieden ist, weil andernfalls trotz der Allgemeinverfügung das Einspruchsverfahren fortzuführen und eine
Einspruchsentscheidung zu erlassen ist (vgl. Rz 7.2 zu § 367 AEAO).
59 Es entspricht daher dem mit der Vorschrift verfolgten Zweck und ist deshalb sachdienlich, eine
Teileinspruchsentscheidung zu erlassen, wenn Teile des Einspruchs entscheidungsreif sind und der Einspruch
ersichtlich nur zu dem Zweck eingelegt wird, die Steuerfestsetzung nicht bestandskräftig werden zu lassen. Auch Art.
19 Abs. 4 GG gebietet es nicht, Einspruchsverfahren möglichst lange offen zu halten, damit der Steuerpflichtige an
künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben kann
(z.B. BFH-Urteile vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20; vom 26. September 2006 X R
39/05, BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter 6.; BFH-Beschluss vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587).
60 cc) Nach diesen Grundsätzen war es im Streitfall sachdienlich, über den Einspruch zu entscheiden mit Ausnahme des
Teils, der die in dem anhängigen Musterverfahren zu entscheidende Frage über die Abziehbarkeit der
Rentenversicherungsbeiträge als Werbungskosten betraf.
61 Der Kläger hat mit seinem Einspruch materiell-rechtlich nur eingewendet, die Vorläufigkeitsvermerke seien nichtig
bzw. rechtswidrig, und unter Hinweis auf das beim BFH anhängige Revisionsverfahren X R 9/07 zur
Nichtabziehbarkeit der Rentenversicherungsbeiträge als Werbungskosten das Ruhen des Verfahrens beantragt.
Hinsichtlich der gerügten Nichtigkeit/Rechtswidrigkeit der Vorläufigkeitsvermerke war der Einspruch
entscheidungsreif.
62 Entgegen der Auffassung des Klägers war nicht insgesamt gesetzliche Verfahrensruhe gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO
eingetreten. Das Einspruchsverfahren ruht nur dann kraft Gesetzes, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer
Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten
Bundesgericht anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird. Der Einspruchsführer muss in der Begründung
seines Einspruchs die Rechtsfragen darlegen und sich auf dazu anhängige konkrete Verfahren berufen (BFH-Urteile
vom 27. April 2006 IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017, und in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222). Der Kläger hat sich aber
ausdrücklich nur auf das BFH-Verfahren X R 9/07 bezogen.
63 Sein Vortrag, die dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegenden --nicht bezeichneten-- Musterverfahren könnten
auch durch verfassungskonforme einfachgesetzliche, vom Vorläufigkeitsvermerk nicht umfasste Auslegung
entschieden werden, reicht nicht aus, um gesetzliche Verfahrensruhe eintreten zu lassen. Abgesehen davon ist eine
nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Festsetzung auch dann zu ändern, wenn das dem Vorläufigkeitsvermerk
zugrunde liegende Verfahren durch verfassungskonforme Auslegung zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden
wird (vgl. oben unter B.II.2.a). Insoweit kommt eine gesetzliche Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO
nicht in Betracht.
64 c) Das FA hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck des § 367 Abs. 2a AO ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen
des Ermessens eingehalten (§ 5 AO). Es hat seine Ermessensentscheidung auch ausreichend begründet.
65 Das FA hat in der Einspruchsentscheidung dargelegt, warum der Erlass der Teileinspruchsentscheidung sachdienlich
ist. Diese Ausführungen genügen, um zu erläutern, warum es von seinem Entschließungsermessen Gebrauch
gemacht hat. Ist der Erlass einer Teileinspruchsentscheidung sachdienlich, entspricht es im Regelfall billigem
Ermessen, eine Teileinspruchsentscheidung zu erlassen; das Entschließungsermessen ist daher in einer Weise
vorgeprägt, dass keine weitere Begründung erforderlich ist (vgl. zur Betätigung des Ermessens im Falle der
Haftungsinanspruchnahme BFH-Urteil vom 12. Februar 2009 VI R 40/07, BFHE 224, 306, BStBl II 2009, 478, m.w.N.).
66 d) Die Teileinspruchsentscheidung ist auch nicht nichtig oder rechtswidrig, weil das FA nur die
Besteuerungsgrundlage genannt hat, die nicht bestandskräftig werden soll, nicht aber den Steuerbetrag. Denn
ebenso wenig wie bei der vorläufigen Festsetzung muss bei der Teileinspruchsentscheidung die nicht bestandskräftig
werdende Steuer beziffert werden. Auch im Hinblick auf eine mögliche Saldierung --wie sie der BFH bei der
vorläufigen Festsetzung anerkennt (z.B. BFH-Entscheidungen vom 2. März 2000 VI R 48/97, BFHE 191, 223, BStBl II
2000, 332; vom 6. März 2003 IX B 197/02, BFH/NV 2003, 742; vom 14. Oktober 2002 VIII R 70/98, BFH/NV 2003, 742)-
- ist eine Bezifferung nicht erforderlich. Der genaue Steuerbetrag, der möglicherweise saldiert werden könnte, kann
ohnehin erst ermittelt werden, wenn feststeht, wie die Rechtsfrage, deretwegen das Verfahren ruht, zu entscheiden ist.
67 e) Ebenso wenig ist die Teileinspruchsentscheidung nichtig oder rechtswidrig, weil --wie der Kläger vorträgt-- unklar
sei, ob der Einspruch bis zur Entscheidung des BFH im Revisionsverfahren X R 9/07 oder bis zur endgültigen Klärung
durch das BVerfG ruhe, bei dem das Verfahren inzwischen anhängig sei.
68 Nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ruht das Einspruchsverfahren, soweit der Einspruchsführer seinen Einspruch auf ein
Verfahren stützt, das wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder einer Rechtsfrage bei dem EuGH, dem
BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist. Ruht das Verfahren wie im Streitfall wegen einer durch den
BFH zu klärenden Rechtsfrage, endet die Verfahrensruhe mit der Entscheidung des anhängigen Verfahrens, auf das
sich der Einspruchsführer berufen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. November 2003 II B 68/02, BFH/NV 2004, 462;
vom 24. Oktober 2006 X B 39/04, BFH/NV 2007, 258; BFH-Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.3.b). Das
FA kann über den noch offenen Teil des Einspruchs ohne vorherige Mitteilung entscheiden, z.B. auch durch
Allgemeinverfügung; eine Mitteilung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO ist nur erforderlich, wenn das FA das
Einspruchsverfahren trotz andauernder Zwangsruhe fortsetzen will (BFH-Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222).
Wird gegen die Entscheidung, deretwegen das Einspruchsverfahren ruhte, Verfassungsbeschwerde erhoben, setzt
sich die Zwangsruhe nicht "automatisch" fort. Der Einspruchsführer muss vielmehr, bevor über den noch ruhenden Teil
des Einspruchs entschieden wird, seinen Einspruch auf die Verfassungsbeschwerde erstrecken (Urteile des FG
Baden-Württemberg vom 27. Mai 2008 4 K 340/06, EFG 2008, 1352, und des FG Hamburg vom 31. Juli 2009 1 K
4/09, EFG 2010, 109).
69 Der Kläger hat sich auf das Verfahren X R 9/07 berufen; insoweit ruht das Verfahren kraft Gesetzes. Das FA hat
deshalb insoweit über den Einspruch nicht entschieden. Es hat im Tenor unter Hinweis auf das BFH-Verfahren X R
9/07 genau umschrieben, über welchen Teil des Einspruchs nicht entschieden wird, nämlich soweit er die
Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den
Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG betrifft. Damit steht zweifelsfrei fest, dass nur unentschieden bleibt,
ob die Beiträge des Klägers zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 10 Abs. 3 Satz 4 EStG als
Sonderausgaben der Höhe nach beschränkt oder als Werbungskosten in voller Höhe abziehbar sind. In den Gründen
der Teileinspruchsentscheidung wird ausgeführt, dass das Verfahren hinsichtlich der Steuerfestsetzung des nicht
entschiedenen Teils weiterhin gemäß § 363 Abs. 2 AO ruht und insoweit keine Bestandskraft eintritt.
70 Mit dem Urteil des BFH vom 18. November 2009 X R 9/07 (BFH/NV 2010, 412) endete die gesetzliche
Verfahrensruhe, sodass das FA über diesen Teil des Einspruchs ebenfalls entscheiden könnte, sofern der Kläger sich
nicht auf die beim BVerfG gegen dieses Urteil anhängige Verfassungsbeschwerde 2 BvR 290/10 beruft.
71 4. Anders als der Kläger ist der Senat der Auffassung, dass das JStG 2007 und damit auch der durch das JStG 2007
eingeführte § 367 Abs. 2a AO verfassungsmäßig zustandegekommen ist. Eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100
Abs. 1 GG kommt daher nicht in Betracht.
72 a) Die Rüge des Klägers, § 367 Abs. 2a AO sei nicht Gegenstand der ersten Lesung gewesen, ergibt keinen
Verfassungsverstoß.
73 Der Deutsche Bundestag hat den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BTDrucks 16/2712, 16/3036), der § 367 Abs.
2a AO noch nicht enthielt, in seiner Sitzung am 28. September 2006 dem Finanzausschuss zur federführenden
Beratung sowie weiteren Ausschüssen zur Mitberatung überwiesen. In der Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses vom 8. November 2006 und in dem Bericht des Finanzausschusses vom 9. November 2006 war
der vom Bundesrat zur Verwaltungsvereinfachung und zum Bürokratieabbau vorgeschlagene § 367 Abs. 2a AO
eingefügt (BTDrucks 16/3325, S. 54, 55; BTDrucks 16/3368, S. 6, 25). Die zweite Beratung des Entwurfs des JStG
2007 fand am 9. November 2006 statt. Laut Plenarprotokoll 16/63 (S. 6224, 6232) wurde der Gesetzentwurf, für den
eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen war, in zweiter Beratung angenommen, an die sich nach Aufruf
der dritten Beratung die Schlussabstimmung anschloss.
74 Nach § 78 Abs. 1 GO BT werden Gesetzentwürfe zwar in drei Beratungen behandelt. Entgegen der Auffassung des
Klägers muss eine vom Gesetzentwurf in erster Beratung abweichende Beschlussempfehlung aber nicht Gegenstand
einer erneuten ersten Beratung sein. Nach dem Plenarprotokoll (16/54, S. 5274) fand in der ersten Beratung in
Übereinstimmung mit § 79 GO BT keine allgemeine Aussprache statt, sondern der Gesetzentwurf wurde gemäß § 80
Abs. 1 GO BT an die entsprechenden Ausschüsse überwiesen. Nach Verteilung der Beschlussempfehlung und des
Ausschussberichts begann wie in § 81 GO BT vorgesehen die Aussprache, für die eine halbe Stunde vorgesehen war.
Da in zweiter Beratung keine Änderungen beschlossen wurden, folgten gemäß § 84 Satz 1 Buchst. a GO BT
unmittelbar im Anschluss die dritte Beratung und die Schlussabstimmung (§ 86 Sätze 1 und 2 GO BT). Es gibt auch
kein verfassungsrechtliches Prinzip, das drei Beratungen erfordert (vgl. BVerfG-Urteil vom 6. März 1952 2 BvE 1/51,
BVerfGE 1, 144).
75 b) Auch die Rüge des Klägers, die zweite Beratung des JStG 2007 habe entgegen § 81 Abs. 1 Satz 2 GO BT bereits
vor dem zweiten Tag nach Verteilung der Beschlussempfehlung und des Ausschussberichts stattgefunden, begründet
keine formelle Verfassungswidrigkeit des JStG 2007.
76 Zwar fand die zweite Beratung des JStG 2007 schon am 9. November 2006 statt, obwohl der Finanzausschuss den
Gesetzentwurf erst am 8. November 2006 abschließend beraten hatte und die mitberatenden Ausschüsse sich
ebenfalls erst am 8. November 2006 mit der Vorlage befasst hatten, sodass die Frist für den Beginn der zweiten
Beratung --am zweiten Tag nach Verteilung der Beschlussempfehlung und des Ausschussberichts-- nicht eingehalten
war. Aus dem Plenarprotokoll ergibt sich auch nicht, dass die Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 GO BT für eine
Fristverkürzung vorgelegen haben. Dieser Verstoß gegen die GO BT führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit des JStG
2007.
77 Bei der GO BT handelt es sich um eine autonome Satzung, deren Bestimmungen nur die Mitglieder des Bundestages
binden. Ungeachtet ihrer großen Bedeutung für das materielle Verfassungsrecht und das Verfassungsleben folgt aus
dieser Rechtsnatur der GO BT, dass sie der geschriebenen Verfassung und den Gesetzen im Range nachsteht
(BVerfG-Urteil in BVerfGE 1, 144). Es ist daher fraglich, ob Verstöße gegen Bestimmungen der GO BT überhaupt zur
Unwirksamkeit eines Gesetzes führen können (offen gelassen im BVerfG-Beschluss vom 8. Dezember 2009 2 BvR
758/07, Deutsches Verwaltungsblatt 2010, 308, betr. Verletzung des § 78 Abs. 5 GO BT, den Einigungsvorschlag des
Vermittlungsausschusses dem Deutschen Bundestag mindestens zwei Tage vor dessen endgültiger
Beschlussfassung nach Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG zuzuleiten). Zur formellen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes
können jedenfalls nur schwerwiegende, die grundgesetzlichen Verfahrensvorschriften (Art. 76 bis 78 GG) berührende
Verstöße führen (vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 10. Aufl., Art. 40
Rz 9; Rubel in Umbach/Clemens, Grundgesetz, Art. 77 Rz 16). Hierzu gehört die Verletzung der Frist nach § 81 Abs. 1
GO BT nicht.
78 Ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit wird traditionell außerhalb des Plenums geleistet. Die GO BT trägt dem
faktischen Zwang zur Arbeitsteilung im parlamentarischen Bereich zunächst dadurch Rechnung, dass sie die
Einrichtung von Ausschüssen (§§ 54 ff. GO BT) vorsieht. In ihnen vollzieht sich ein wesentlicher Teil des
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages. Die Arbeit der Fraktionen (§§ 10 ff. GO BT) erreicht
grundsätzlich alle Abgeordneten des Parlaments. Die Schlussabstimmung nach Beratung im Plenum bildet einen
zwar rechtlich notwendigen, zuweilen in seiner politischen Bedeutung jedoch geminderten letzten Teilakt der
parlamentarischen Willensbildung, während die Entscheidung in Wirklichkeit bereits in den Ausschüssen und
Fraktionen gefallen ist (BVerfG-Beschluss vom 10. Mai 1977 2 BvR 705/75, BVerfGE 44, 308). Vor diesem
Hintergrund ist die Nichteinhaltung der in § 81 Abs. 1 GO BT vorgegebenen Frist (kein Beginn der zweiten Beratung
vor dem zweiten Tag nach Verteilung der Beschlussempfehlung und des Ausschussberichts) kein schwerwiegender,
zur formellen Verfassungswidrigkeit führender Verstoß, zumal die Abgeordneten zu Beginn der zweiten Beratung der
vorgeschlagenen Aussprache von einer halben Stunde laut Plenarprotokoll (16/63, S. 6224) nicht widersprochen und
damit zum Ausdruck gebracht haben, dass die Vorbereitungszeit ausreichte. Lediglich ein Abgeordneter mahnte an,
künftig die Fristen einzuhalten. Da der Ablauf des Verfahrens bis zum Gesetzesbeschluss in Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG
nicht geregelt ist und die Fristbestimmung in § 81 Abs. 1 GO BT weder Verfassungsgewohnheitsrecht ist noch zu den
unabdingbaren Grundsätzen der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung gehört (vgl. BVerfG-Entscheidung vom
14. Oktober 1970 1 BvR 307/68, BVerfGE 29, 221), kann die Nichteinhaltung der Frist nicht zur formellen
Verfassungswidrigkeit des JStG 2007 führen.