Urteil des BFH vom 08.11.2012

Abzug von Versorgungsleistungen bei Vermögensübergabe im Wege der vorweggenommenen Erbfolge - Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 8.11.2012, V R 57/10
Abzug von Versorgungsleistungen bei Vermögensübergabe im Wege der vorweggenommenen
Erbfolge - Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Leitsätze
Versorgungsleistungen, die das Kind aufgrund einer Vermögensübergabe im Wege
vorweggenommener Erbfolge aus den Erträgen des übergebenen Vermögens an den nicht für
dieses Kind kindergeldberechtigten Vermögensübergeber leistet, sind bei der
Bemessungsgrundlage für den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) zu berücksichtigen.
Tatbestand
1 I. Streitig ist, ob die von einem Kind aufgrund einer Vermögensübergabe gegen
Versorgungsleistungen im Wege der vorweggenommenen Erbfolge aus der übertragenen
Einkunftsquelle bezogenen Einkünfte um vertraglich vereinbarte Versorgungsleistungen zu
mindern sind, die an den Vermögensübergeber gezahlt werden. Der Kläger und
Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater der am 3. Dezember 1979 geborenen Tochter (A), die in
den Streitzeiträumen (2001, 2003 und 2004) an einer Universität als Studentin immatrikuliert
war. Sie erzielte u.a. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aufgrund einer Beteiligung
an einer zusammen mit dem Vater und der Schwester gebildeten Gesellschaft bürgerlichen
Rechts (GbR), die Einkünfte aus der Vermietung und Verpachtung eines gewerblich
vermieteten Grundstücks bezog. Das Grundstück war der GbR bereits mit Notarvertrag vom
24. Oktober 1994 von der Mutter des Klägers (X) im Wege der unentgeltlichen
Vermögensübergabe im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge gegen
Versorgungsleistungen (dauernde Last), die einkommensteuerrechtlich als Sonderausgaben
nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der in den Streitjahren
2001, 2003 und 2004 geltenden Fassung abziehbar sind, übertragen worden. X verstarb im
Oktober 2004.
2 Die auf die A entfallenden Einkünfte lagen in den Streitjahren --je nachdem, ob die
Versorgungsleistungen von den Einkünften der A abgezogen werden-- über oder unter dem
jeweiligen Grenzbeträgen des § 32 Abs. 4 EStG a.F.
3 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom 30. November
2005 die Gewährung von Kindergeld ab. Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem
Einspruch hiergegen erhobenen Klage statt.
4 Zur Begründung des in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2010, 741 veröffentlichten
Urteils führte das FG aus, zwar werde ein über 18 Jahre altes Kind nach § 32 Abs. 4 EStG
dann nicht mehr beim Kindergeld berücksichtigt, wenn die eigenen Einkünfte den jeweiligen
Grenzbetrag überschritten. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 2 EStG seien unter
Einkünften die Einnahmen unter Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten zu
verstehen, nicht aber von Sonderausgaben, wozu die fraglichen Unterhaltskosten gehörten.
Bei verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 EStG dürften Einkünfte und Bezüge
des Kindes jedoch nur dann berücksichtigt werden, wenn diese zur Bestreitung des
Unterhalts "bestimmt und geeignet" seien. Dies sei in Höhe der vom Vermögensübergeber
vorbehaltenen Versorgungsleistungen nicht der Fall. Kerngedanke der
Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistung sei es, dass der Vermögensübergeber
sich Teile des übertragenen Vermögens zur eigenen Versorgung vorbehalte. Diese
vorbehaltenen Versorgungserträge seien einkommensteuerrechtlich auch nicht als
Zuwendungen des Vermögensübernehmers aufgrund freiwillig begründeter Rechtspflicht zu
beurteilen. Das Urteil des Niedersächsischen FG vom 29. November 2005 13 K 189/02
(juris), das der III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) durch Beschluss vom 26. November
2008 III R 20/06 nach § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) bestätigt habe, stehe dem
nicht entgegen, weil dort Empfänger der dauernden Last der kindergeldberechtigte Vater
selbst gewesen sei.
5 Hiergegen wendet sich die Familienkasse mit der vom FG zugelassenen Revision. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe nur z.B. Abzugsbeträge, wie die Berücksichtigung
von Sozialversicherungsbeiträgen, zugelassen, die unabhängig von einer Willensbetätigung
des Kindes entstünden. Die Versorgungsleistungen beruhten vorliegend jedoch auf einer
freiwillig begründeten Rechtspflicht aufgrund der Vereinbarung im
Vermögensübergabevertrag.
6 Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG München vom 10. Dezember 2009 5 K 3018/09 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
7 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8 Nur solche Einkünfte des Kindes könnten den Kindergeldanspruch ausschließen, die zur
Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet seien. Soweit
die Einkünfte zur Erfüllung der Unterhaltsauflage der Übergeberin des Vermögens, der Mutter
des Klägers, vorbehalten seien, fehle es daran. Diese Einkünfte seien zur Deckung des
Unterhaltsbedarfs der Mutter des Klägers und nicht der Tochter des Klägers bestimmt. Es
liege auch keine freiwillig begründete Rechtspflicht vor.
Entscheidungsgründe
9 II. Die Revision gegen das Urteil des FG ist unbegründet und war daher zurückzuweisen
(§ 126 Abs. 2 FGO).
10 1. Nach § 32 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Satz 2 EStG war ein über 18 Jahre altes, in
Berufsausbildung befindliches Kind --wie im Streitfall A-- beim Kindergeld nicht mehr zu
berücksichtigen, wenn es "Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder
der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind" erhält, die in den Streitjahren den
Grenzbetrag von 14.040 DM (2001), 7.188 EUR (2003) und 7.680 EUR (2004) überschreiten.
Die von A erzielten Einkünfte aus ihrer Beteiligung an der GbR überstiegen diese
Grenzbeträge; berücksichtigt man --wie die Vorinstanz-- die auf die Tochter des Klägers
entfallenden Versorgungsleistungen als Abzugsposten, wurden die Grenzbeträge jedoch
nicht überschritten.
11 a) Der Begriff der Einkünfte i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspricht dem in § 2 Abs. 2
EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Über-
schuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Er-zielt das Kind Einkünfte
aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Einnahmen die Werbungskosten
abzuziehen (stän-dige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 21. Oktober 2010 III R 18/10,
BFH/NV 2011, 251; vom 17. Juni 2010 III R 59/09, BFHE 230, 142, BStBl II 2011, 121).
12 Darüber hinaus sind nach der Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02
(BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, 260, Beilage 3) im Wege verfassungskonformer
Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Einkünfte --ebenso wie die Bezüge-- nur zu
berücksichtigen, soweit sie zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung
bestimmt oder geeignet sind. Es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Ein-
künfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im
Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen (z.B. BFH-Urteile
in BFH/NV 2011, 251; vom 7. April 2011 III R 72/07, BFHE 233, 449, BStBl II 2011, 974).
13 b) Zweck der Begrenzung von Ansprüchen gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist es, diejenigen
Eltern von finanziellen Entlastungen durch Freibeträge und Kindergeld auszuschließen,
deren Kinder über eigene Einkünfte und Bezüge in einer das zu schützende
Existenzminimum übersteigenden Höhe verfügen, so dass zugleich die Unterhaltspflicht der
Eltern entfällt oder sich mindert. Die folgerichtige Beachtung dieses Zwecks verlangt, dass
für die Einbeziehung von Mitteln des Kindes in die Bemessungsgröße für die Freigrenze die
mögliche Entlastungswirkung solcher Mittel bei den unterhaltspflichtigen Eltern entscheidet,
denn auf deren Leistungsfähigkeit kommt es für die Gewährung und Begrenzung von
Kindergeld und Kinderfreibeträgen an. Mit dem Jahresgrenzbetrag für "unschädliche"
Einkünfte und Bezüge des Kindes wird bestimmt, ob und wieweit anderweitige finanzielle
Entlastungen der Unterhaltsverpflichteten eine aus öffentlichen Haushalten finanzierte
zusätzliche Entlastung ausschließen (BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, 260,
Beilage 3 Rdnr. 39). Danach sind "diejenigen Beträge, die, wie die gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge, von Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder
dessen Eltern nicht verfügbar sind und deshalb keine Entlastung bei den Eltern bewirken
können, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhalts zu dienen bestimmt
sind, nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen (BVerfG in
BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, 260, Beilage 3 Rdnr. 52).
14 c) Im Streitfall ist zu berücksichtigen, dass die auf die Tochter des Klägers aufgrund ihrer
Beteiligung an der GbR entfallenden Einkünfte ebenso wie die Verpflichtung zur Zahlung der
Versorgungsleistungen auf einer Vermögensübergabe im Wege der vorweggenommenen
Erbfolge beruhen und daher dem Sonderrecht der Vermögensübergabe unterliegen.
15 Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist dabei davon auszugehen, dass der
Übernehmer des Vermögens durch die Übernahme der Verpflichtung zur Erbringung der
Versorgungsleistungen keine Gegenleistung für die Übernahme des Vermögens an den
Übergeber im Sinne eines Anschaffungsvorgangs erbringt, sondern sich der Übergeber
vielmehr aus dem übertragenen Vermögen Teile der nunmehr vom Vermögensübernehmer
zu erwirtschaftenden Nettoerträge vorbehält (Beschlüsse des Großen Senats des BFH vom
5. Juli 1990 GrS 4-6/89, BFHE 161, 317, BStBl II 1990, 847, und vom 15. Juli 1991 GrS 1/90,
BFHE 165, 225, BStBl II 1992, 78). Danach stellt die Übernahme der Verpflichtung zu
Versorgungsleistungen eine von vornherein vom Übergeber vorbehaltene Minderung des
übertragenen Vermögens dar. Wie der Große Senat des BFH ausgeführt hat, unterscheidet
sich die Versorgungsleistung von einer Unterhaltsleistung; sie enthält deshalb auch keine
Zuwendung des Übernehmenden aufgrund freiwillig begründeter Rechtspflicht (Beschluss
des Großen Senats des BFH in BFHE 161, 317, BStBl II 1990, 847 Leitsatz 2, unter C.II.1.c).
Der Vorbehalt der Erträge stelle sich vielmehr dar als ein "Transfer steuerlicher
Leistungsfähigkeit" (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 11. Oktober 2007 X R 14/06, BFHE 219, 160,
BStBl II 2008, 123; vom 19. Januar 2010 X R 32/09, BFHE 228, 291, BStBl II 2011, 162,
unter II.3.a) und führe zu einem vergleichbaren Ergebnis wie bei der unentgeltlichen
Übertragung einer Einkunftsquelle unter Nießbrauchsvorbehalt (Beschlüsse des Großen
Senats des BFH in BFHE 161, 317, BStBl II 1990, 847, unter C.II.1.c, und vom 12. Mai 2003
GrS 1/00, BFHE 202, 464, BStBl II 2004, 95, unter C.II.2.c; BFH-Urteil in BFHE 228, 291,
BStBl II 2011, 162, unter II.3.b). Dies gebietet eine Gleichhandlung einer
Vermögensübertragung gegen Versorgungslast mit der Übertragung einer Einkunftsquelle
unter Nießbrauchsvorbehalt.
16 d) Es liegen auch keine anderen Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG vor. Bezüge im
Sinne der Vorschrift sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen
der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (z.B. BFH-Urteile vom
28. Mai 2009 III R 8/06, BFHE 225, 141, BStBl II 2010, 346; vom 29. Mai 2008 III R 33/06,
BFH/NV 2008, 1664, jeweils m.w.N.). Ob und in welchem Umfang bei einer
Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen der Vermögenserwerb als Bezüge i.S.
des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu erfassen ist, kann im Streitfall offenbleiben, denn das im
Wege der vorweggenommenen Erbfolge übertragene Grundstück hat die GbR bereits 1994
und damit vor den Streitzeiträumen erhalten.
17 e) Nach Abzug der auf A entfallenden anteiligen Versorgungsleistungen sind die zu
berücksichtigenden Einkünfte der A in den Streitjahren geringer als der Grenzbetrag, so dass
dem Kläger Kindergeld in der beantragten Höhe für die Streitjahre zusteht.
18 2. Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht vom BFH-Beschluss vom 26. November
2008 III R 20/06 (nicht veröffentlicht) nach § 126a FGO ab, durch den der BFH die Revision
gegen das Urteil des Niedersächsischen FG vom 29. November 2005 13 K 189/02 (juris) als
unbegründet zurückgewiesen hat.
19 In dem vom III. Senat entschiedenen Sachverhalt waren die Versorgungsleistungen an die
Kindergeldberechtigte selbst zu zahlen und führten daher zur Erhöhung der
Leistungsfähigkeit der Kindergeldberechtigten, sodass deren Entlastung durch Kindergeld
nicht geboten war, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet der Zweck des § 32
Abs. 4 EStG, dass für die Einbeziehung von Mitteln des Kindes in die Bemessungsgröße für
die Freigrenze die mögliche Entlastungswirkung solcher Mittel bei den unterhaltspflichtigen
Eltern entscheidet, weil es auf deren Leistungsfähigkeit für Gewährung und Begrenzung von
Kindergeld und Kinderfreibeträgen ankommt (BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005,
260, Beilage 3 Rdnr. 39). Anders als in dem vom III. Senat entschiedenen Fall stehen im
Streitfall die Versorgungsleistungen nicht dem Kindergeldberechtigten, sondern einem
Dritten zu. Der III. Senat hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er wegen der unterschiedlichen
Sachverhalte keine Abweichung von seinem Beschluss vom 26. November 2008 III R 20/06
sehe.
20 3. Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).