Urteil des BFH vom 25.09.2008

BFH: jugendhilfe, auszahlung, form, leistungsfähigkeit, einkünfte, ausbildung, einspruch, kostenbeitrag, arbeitslosigkeit, unterhaltsaufwendungen

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 25.9.2008, III R 16/06
Ermessensreduzierung auf Null bei Abzweigung des Kindergeldes zugunsten des Sozialleistungsträgers
Tatbestand
1
I. Die am ... Dezember 1982 geborene Tochter (T) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) erhielt vom
Jugendamt der Stadt A (Beigeladene und Revisionsklägerin --Beigeladene--) zunächst Leistungen der Jugendhilfe in
Form der Heimerziehung. Seit Januar 1999 zweigte die Beklagte (Familienkasse) das Kindergeld an die Beigeladene
gemäß § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab.
2
Anfang November 2000 wies die Familienkasse den Kläger und die Beigeladene darauf hin, dass das Kindergeld
wegen Vollendung des 18. Lebensjahres der T letztmals im Dezember 2000 gezahlt werde, sofern nicht die
Voraussetzungen für eine Weiterzahlung über das 18. Lebensjahr hinaus nachgewiesen würden. Daraufhin teilte die
Beigeladene mit Schreiben vom 13. November 2000 mit, T werde seit September 2000 zur Sozialpflegeassistentin
ausgebildet. Die vollen Kosten für T übernehme sie, die Beigeladene. Der Kläger werde aufgrund seiner
wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen, die Mutter der T sei bereits verstorben. Es
werde gebeten "gemäß § 104 SGB X zu prüfen, ob das Kindergeld in voller Höhe an die ... (Beigeladene) überwiesen
werden" könne.
3
Auch nach Eintritt der Volljährigkeit erhielt T bis zum 31. Juli 2001 Leistungen der Jugendhilfe in Form der
Heimerziehung nach § 41 i.V.m. § 27, § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch --Kinder- und Jugendhilfe-- i.d.F. für
das Jahr 2001 (SGB VIII). Am 1. August 2001 bezog T eine Mietwohnung, wurde aber weiterhin von der Beigeladenen
betreut (sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII). Die Beigeladene erbrachte zudem bis zum 31.
Dezember 2001 Leistungen zum Unterhalt der T gemäß § 41 i.V.m. § 39 SGB VIII (Hilfe zum Lebensunterhalt,
Fahrtkosten und Miete). Die Halbwaisenrente der T sowie die ihr zustehenden Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) beanspruchte die Beigeladene nach § 93 Abs. 5 SGB VIII. Die
Leistungen wurden ihr von den Sozialleistungsträgern nach § 104 Abs. 1 Satz 4 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB X) erstattet.
4
Die Familienkasse setzte das Kindergeld mit Bescheid vom 4. Mai 2001 auf 0 DM fest, weil die Einkünfte und Bezüge
von T (Halbwaisenrente, BAföG und Leistungen der Jugendhilfe) den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
voraussichtlich überschreiten würden.
5
Im August 2001 beantragte der Kläger im Namen von T Kindergeld, weil sich deren Verhältnisse geändert hätten. Sie
habe seit dem 1. August 2001 eine eigene Wohnung bezogen, werde aber weiterhin noch von der Beigeladenen
betreut. Er, der arbeitslose Kläger, könne sie nicht unterstützen. Das Kindergeld solle auf das Konto der T überwiesen
werden. Durch Bescheid vom 8. November 2001 setzte die Familienkasse unter Hinweis auf die Einkünfte und
Bezüge der T das Kindergeld wiederum mit 0 DM fest. Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage.
6
Im März 2002 beantragte T die Auszahlung des Kindergeldes an sich, weil der Kläger keinen Unterhalt leiste. Der
Kläger bestätigte dies. Mit Bescheid vom 28. Mai 2002 setzte dann die Familienkasse Kindergeld ab Januar 2002 fest
und zweigte das Kindergeld dem Antrag der T und des Klägers entsprechend an die T ab.
7
Nach einem Hinweis des Landesarbeitsamts während des Klageverfahrens, dass die Leistungen der Jugendhilfe
generell nicht als Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzurechnen seien, hob die Familienkasse mit Bescheid
vom 22. August 2002 den Bescheid vom 8. November 2001 auf.
8
Mit weiterem Bescheid vom 22. August 2002 setzte die Familienkasse Kindergeld rückwirkend für Januar bis
Dezember 2001 fest. Da der Kläger T mangels Leistungsfähigkeit keinen Unterhalt leisten könne, werde der
Nachzahlungsbetrag in Höhe von 1 656,59 EUR gemäß § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG an die Beigeladene abgezweigt. Die
Abzweigung sei in dieser Höhe angemessen, weil das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt sei.
9
Den Einspruch des Klägers wies die Familienkasse mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 als unbegründet zurück. Sie
führte aus, die Beigeladene habe einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3 EStG (ab 2002 § 74 Abs. 2 EStG) i.V.m.
§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X geltend gemacht. Die Voraussetzungen hierfür lägen vor, da die Beigeladene zunächst
Sozialleistungen erbracht habe, obwohl das vorrangig zustehende Kindergeld hierauf hätte angerechnet werden
müssen. Der Erstattungsanspruch entstehe kraft Gesetzes und führe zum Erlöschen des Auszahlungsanspruchs auf
Kindergeld. Die Erstattung gehe damit der auf § 74 Abs. 1 EStG gestützten Abzweigung vor. Im finanzgerichtlichen
Verfahren führte die Familienkasse aus, der Einspruchsbescheid sei in seiner Begründung fehlerhaft, weil nicht über
einen Erstattungsantrag, sondern über einen Abzweigungsantrag zu entscheiden gewesen sei.
10 Das Finanzgericht (FG) hob den Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch Urteil vom 8.
Dezember 2005 6 K 2516/02 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 907) auf, weil die Beigeladene einen
eindeutig als Erstattung bezeichneten Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes gestellt und auch nur dessen
Voraussetzungen dargelegt habe. Die Familienkasse habe nunmehr zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine
Erstattung nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 und Satz 4 SGB X vorlägen.
11 Auch wenn dieser Auffassung nicht gefolgt würde, seien der Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung
aufzuheben, weil keiner der Bescheide ausreichende Ermessenserwägungen enthalte. Eine Ermessensreduzierung
auf Null könne nur dann angenommen werden, wenn sich der Kindergeldberechtigte unabhängig von
Unterhaltsverpflichtungen nicht um sein Kind gekümmert habe. Hierzu habe die Familienkasse keine Feststellungen
getroffen.
12 Mit ihrer Revision trägt die Beigeladene vor, für eine Abzweigung sei kein ausdrücklicher Antrag erforderlich. Nach der
Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes 74.1.1 Abs. 2 Satz 3 seien lediglich zunächst die Voraussetzungen einer Erstattung zu
prüfen, wenn das Auszahlungsersuchen nicht oder nicht nur auf § 74 Abs. 1 EStG gestützt werde. Eine Erstattung sei
im Streitfall aber nicht in Betracht gekommen, weil der Kläger nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen worden sei.
Die Entscheidung der Familienkasse sei im Ergebnis rechtmäßig, da die Voraussetzungen für eine Abzweigung
vorgelegen hätten und nur die Abzweigung eine ermessensgerechte Entscheidung gewesen sei.
13 Die Beigeladene beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
14 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
15 II. Die Revision führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1
der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
16 1. Zu Recht hat die Familienkasse die Bitte der Beigeladenen im Schreiben vom 13. November 2000, "gemäß § 104
SGB X zu prüfen, ob das Kindergeld in voller Höhe an die (Beigeladene) .... überwiesen werden" könne, als Antrag auf
Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG behandelt.
17 Entgegen der Auffassung des FG setzt eine Abzweigung weder einen ausdrücklichen Antrag auf Abzweigung noch
ein eindeutig geäußertes Abzweigungsbegehren voraus. Denn die Entscheidung über eine Abzweigung ergeht von
Amts wegen, eines Antrags bedarf es nach § 74 Abs. 1 EStG nicht. Auch eine Erstattung nach § 104 SGB X muss nicht
beantragt werden, der Erstattungsanspruch entsteht kraft Gesetzes. Abzweigungsanspruch und Erstattungsanspruch
müssen aber in irgendeiner Form geltend gemacht werden, da die Familienkasse sonst keine Kenntnis von dem
entscheidungserheblichen Sachverhalt erhält. Wird ausdrücklich ein Antrag auf Erstattung gestellt, schließt dies nicht
aus, dem Begehren auf Auszahlung des Kindergeldes durch eine Abzweigung nachzukommen (vgl. auch Beschluss
des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. Januar 2001 VI B 272/99, BFH/NV 2001, 898). Ist die Anspruchsgrundlage für
das Begehren auf Auszahlung nicht eindeutig oder unzutreffend, hat die Familienkasse das Begehren auszulegen.
18 2. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes sind im Streitfall gegeben.
19 Ist der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig, kann das nach § 66 Abs. 1 EStG für
ein Kind festgesetzte Kindergeld an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt --§ 74 Abs. 1 Satz 4
i.V.m. Satz 1 bis 3 EStG-- (vgl. BFH-Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171, m.w.N.).
20 Der Kläger war dem Grunde nach unterhaltspflichtig, da T ihren Unterhalt und ihre Ausbildung allein mit der
Halbwaisenrente und den BAföG-Leistungen nicht finanzieren konnte. Wegen seiner geringen Einkünfte brauchte der
Kläger jedoch nach zivilrechtlichen Grundsätzen keinen Unterhalt zu leisten (§ 1603 Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs).
21 3. Ob die Familienkasse das Kindergeld abzweigt, ist eine Ermessensentscheidung ("kann"). Dahinstehen kann, ob
die Familienkasse ihre Ermessenserwägungen im Abzweigungsbescheid ausreichend dargelegt oder ggf. im
finanzgerichtlichen Verfahren ausreichend ergänzt hat (§ 102 Satz 2 FGO). Denn im Streitfall ist das Ermessen so weit
eingeengt, dass nur die Abzweigung an die Beigeladene vertretbar erscheint --sog. Ermessensreduzierung auf Null--
(vgl. BFH-Urteil vom 17. Februar 2004 VIII R 58/03, BFHE 206, 1, BStBl II 2006, 130).
22 a) Zu Unrecht geht das FG davon aus, eine Ermessensreduzierung auf Null könne nur angenommen werden, wenn
sich der Kläger nicht um T "gekümmert" hätte; dies hätte die Familienkasse ermitteln müssen. Nach der
Rechtsprechung ist zwar bei der Ermessensentscheidung über die Höhe der Abzweigung zu prüfen, ob dem
Kindergeldberechtigten, auch wenn er mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist,
Unterhaltsaufwendungen für den Umgang mit dem Kind zumindest in Form von Sachleistungen entstanden sind
(Senatsurteil vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.). Eine solche Prüfung
erübrigte sich aber im Streitfall, da der Kläger mehrfach erklärt hat, wegen seiner Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt
leisten zu können, und auch nicht geltend gemacht hat, dass ihm Aufwendungen für T entstanden seien. Er hat
deshalb das Kindergeld auch nicht für sich selbst beansprucht, sondern beantragt, es an T auszuzahlen.
23 b) Ebenso wenig steht der Abzweigungsantrag der T einer Ermessensreduzierung auf Null entgegen.
24 Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes beim anspruchsberechtigten
Elternteil und --soweit es dafür nicht erforderlich ist-- der Förderung der Familie. Es gehört bei Auszahlung an den
anspruchsberechtigten Elternteil zu dessen Einkommen (Senatsurteil vom 17. April 2008 III R 33/05, BFH/NV 2008,
1577) und ist schon deshalb keine mit den Jugendhilfeleistungen für das volljährige Kind zweckidentische Leistung.
Wird das Kindergeld dagegen aufgrund eines Abzweigungsantrags an das Kind ausgezahlt, weil der
anspruchsberechtigte Elternteil keinen Unterhalt leistet oder leisten kann, ist das Kindergeld Einkommen des Kindes
(Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. März 2008 B 11b AS 13/06 R, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht
2008, 1527) und für dessen Unterhalt und Ausbildung bestimmt. Im Falle der Abzweigung an T wäre das Kindergeld
daher abweichend vom Regelfall eine mit den Leistungen der Jugendhilfe zweckidentische Leistung, welche T
ebenso wie die Halbwaisenrente und die BAföG-Leistungen nach § 93 Abs. 5 SGB VIII einzusetzen hätte. Deshalb ist
allein eine Abzweigung an die Beigeladene sachgerecht.
25 c) Unbeachtlich ist, dass die Familienkasse dem Kläger vor Erlass der Abzweigungsentscheidung nicht nochmals
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Denn eine nach § 91 der Abgabenordnung (AO) erforderliche
Anhörung kann bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz des finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§
126 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 AO).