Urteil des BFH vom 26.01.2009

BFH (anspruch auf rechtliches gehör, rechtliches gehör, antragsteller, antrag, zugang, zpo, klagefrist, brief, verfahrensmangel, aussicht)

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 16.9.2010, XI S 18/10 (PKH)
Kein Vertretungszwang vor dem BFH im PKH-Verfahren - Entscheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil
Tatbestand
1 I. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage des Antragstellers wegen Umsatzsteuer 2003 wegen Versäumung der
Klagefrist als unzulässig ab.
2 Innerhalb der Beschwerdefrist beantragte der nicht vertretene Antragsteller Prozesskostenhilfe (PKH) für eine noch
einzulegende Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision im FG-Urteil. Er macht geltend, das FG habe zu
Unrecht die Klage als unzulässig abgewiesen. Er habe die Klagefrist nicht versäumt, weil ihm die
Einspruchsentscheidung verspätet zugegangen sei. Beweispflichtig für den Zugang der Einspruchsentscheidung sei
der Beklagte (das Finanzamt --FA--); das FG habe die gesetzliche Beweislast umgekehrt. Ferner habe das FG seinen
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
3 Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§ 142 der Finanzgerichtsordnung --FGO--
i.V.m. § 117 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--) hat der Antragsteller innerhalb der Beschwerdefrist vorgelegt.
Entscheidungsgründe
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II. Der Antrag auf PKH wird abgelehnt.
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1. Der Antrag auf PKH ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsteller im Streitfall nicht durch einen
Prozessbevollmächtigten vertreten wird.
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a) Zwar müssen sich die Beteiligten nach § 62 Abs. 4 FGO vor dem Bundesfinanzhof (BFH) grundsätzlich durch einen
Rechtsanwalt, Steuerberater oder einen anderen Bevollmächtigten i.S. des § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO vertreten lassen.
Das gilt nach Abs. 4 der Regelung auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem BFH eingeleitet
wird. Darunter fällt aber nicht die Stellung des Antrags auf Bewilligung von PKH (BFH-Beschlüsse vom 26. Januar
2009 II S 19/08 (PKH), nicht veröffentlicht --n.v.--; vom 20. Februar 2009 V S 18/08 (PKH), n.v.; vom 8. Mai 2009 IV S
3/09 (PKH), Zeitschrift für Steuern und Recht --ZSteu-- 2009, R679; vom 27. Juli 2010 III S 28/09 (PKH), n.v.; im
Ergebnis gl.A. Spindler in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--, § 62 FGO Rz 101; ebenso ständige Rechtsprechung
zu der bis zum 30. Juni 2008 anzuwendenden Regelung in § 62a FGO, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2003
VI S 4/03 (PKH), BFH/NV 2004, 356; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 142 Rz 63, m.w.N.).
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b) Soweit für § 62 Abs. 4 FGO eine andere Auffassung vertreten wird (Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 62 FGO Rz 44; vgl. auch Spindler, Der Betrieb 2008, 1283, 1286 f.), folgt der Senat dem
nicht. Wie der IV. Senat des BFH im Beschluss in ZSteu 2009, R679 zutreffend ausführt, erfordert der Wortlaut von § 62
Abs. 4 FGO wegen der Besonderheiten des Verfahrens zur Bewilligung von PKH eine solche Auslegung nicht. Sie
wird auch dem Zweck der Regelung des PKH-Verfahrens nicht gerecht, dem Unbemittelten einen Rechtsschutz zu
sichern, der demjenigen eines Bemittelten wenigstens annähernd entspricht. Die Gegenauffassung ist deshalb
verfassungsrechtlich bedenklich (Spindler in HHSp, § 62 FGO Rz 101). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die
bisherige Rechtslage ausdrücklich nicht ändern wollte (BTDrucks 16/3655, S. 99 f.).
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2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
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a) Gemäß § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 114 ZPO wird einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann,
auf Antrag PKH gewährt, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht
mutwillig erscheint. In dem Antrag ist das Streitverhältnis unter Angabe der Beweismittel darzustellen (§ 117 Abs. 1
Satz 2 ZPO). Dazu muss in einem Rechtsmittelverfahren ein nicht rechtskundig vertretener Antragsteller zumindest
erkennen lassen, in welchen Punkten und in welchem Umfang das angegriffene Urteil angefochten werden soll
(Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 142 Rz 69, m.w.N.).
10 b) Die vom Antragsteller mit der Nichtzulassungsbeschwerde beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine Aussicht auf
Erfolg. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO
gegeben, wenn das FG zu Unrecht durch Prozess- anstatt durch Sachurteil entschieden und dadurch auch den
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 2002 VI B 114/01, BFHE 198, 1,
BStBl II 2002, 306, und vom 16. April 2007 VII B 98/04, BFH/NV 2007, 1345). Ein solcher Verfahrensmangel ist im
Streitfall jedoch nicht festzustellen.
11 Das FG hat die Klage wegen Versäumung der einmonatigen Klagefrist nach § 47 Abs. 1 FGO zu Recht als unzulässig
abgewiesen. Der Antragsteller hat zwar den Zugang der mit einfachem Brief übermittelten Einspruchsentscheidung
vom 11. Juli 2006 bestritten und vorgetragen, diese erst nach der Vollstreckungsankündigung am 1. Dezember 2006
erhalten zu haben, so dass die Klage am 23. Dezember 2006 noch rechtzeitig erhoben worden sei. Entgegen der
Auffassung des Antragstellers durfte das FG im Streitfall aber von dem Grundsatz abweichen, wonach im Zweifel das
FA den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat (z.B. Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 122 AO Rz 57,
58, m.w.N.). Denn das FG ist unter Würdigung des Gesamtverhaltens des Antragstellers angesichts der besonderen
Umstände des Einzelfalls mit einem ausreichenden Grad an Gewissheit zu dem Schluss gelangt, dass der
Antragsteller die Einspruchsentscheidung tatsächlich schon im Juli 2006 mit einfachem Brief erhalten hat (vgl. z.B.
BFH-Beschlüsse vom 29. April 1999 V B 173/98, BFH/NV 1999, 1442, und vom 6. April 1999 VII B 207/98, BFH/NV
1999, 1581).
12 3. Der Beschluss ergeht gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2, § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes i.V.m. dem Kostenverzeichnis
der Anlage 1 gerichtsgebührenfrei.