martina heck

14.08.2012

Zum Umfang der Haftung nach § 74 AO – hier: grundstücksgleiche Rechte

Der Bundesfinanzhof hat entschieden, dass sich die  Haftung des an einem Unternehmen wesentlich beteiligten Eigentümers von Gegenständen, die er diesem Unternehmen überlässt, auch auf ein überlassenes Erbbaurecht, das dem Unternehmen als Betriebsgrundlage dient, erstreckt.  Die Haftung nach § 74 AO wird zudem nicht dadurch ausgeschlossen, dass der dem Unternehmen überlassene Gegenstand nicht im Eigentum des Haftenden, sondern im Eigentum einer KG steht, wenn Gesellschafter der KG ausschließlich der Haftende und eine andere am Unternehmen wesentlich beteiligte Person sind, so der Bundesfinanzhof.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 AO haftet der Eigentümer von Gegenständen, die einem Unternehmen dienen, mit den überlassenen Gegenständen für diejenigen Steuern des Unternehmens, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet. Voraussetzung für die Haftung ist eine wesentliche Beteiligung an dem Unternehmen, die nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AO dann vorliegt, wenn der Eigentümer der Gegenstände unmittelbar oder mittelbar zu mehr als einem Viertel am Grund- oder Stammkapital oder am Vermögen des Unternehmens beteiligt ist. Diese Haftungsvoraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

In dem entschiedenen Fall war der KG ein Erbbaurecht und somit ein Gegenstand i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 AO überlassen worden, der dem Unternehmen für seine wirtschaftliche Betätigung gedient hat. Die Haftung des § 74 AO ist nicht nur auf körperliche Gegenstände (Sachen) beschränkt.

Die Frage, ob auch Rechte und Forderungen als Gegenstände i.S. von § 74 Abs. 1 Satz 1 AO angesehen werden können, wird im Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Mit der Begründung, der in der Haftungsvorschrift verwendete Begriff des Eigentümers werde regelmäßig nur im Zusammenhang mit körperlichen Sachen gebraucht, während bei Rechten die Verwendung des Begriffs Inhaber üblich sei, und unter Hinweis auf den umfassenderen Begriff des Wirtschaftsguts in den §§ 39, 55 Abs. 3, § 180 Abs. 1 Nr. 3, § 181 Abs. 2 und § 271 AO wird die Auffassung vertreten, die in § 74 Abs. 1 AO normierte Ausfallhaftung beziehe sich nicht auf Forderungen und Rechte.

Andererseits wird im Schrifttum die Meinung vertreten, die in § 74 Abs. 1 AO angesprochenen Gegenstände könnten nicht nur Sachen, sondern auch Rechte bzw. alle Wirtschaftsgüter materieller und immaterieller Art sein.

Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff “Gegenstand” eine körperliche Sache, an der Eigentum und Besitz erlangt werden können. Ein solches – an zivilrechtlichen Vorgaben ausgerichtetes – Begriffsverständnis würde jedoch dem Sinn und Zweck des § 74 AO nicht gerecht. Im Gegensatz zu § 69 AO begründet die Regelung eine verschuldensunabhängige Ausfallhaftung, die auf § 7 Abs. 4 des Gewerbesteuerrahmengesetzes vom 30. Juni 1935 zurückgeht und die später in § 115 der Reichsabgabenordnung (RAO) übernommen wurde. Anlass für die Einführung des Haftungstatbestands war die Befürchtung, dass die Beitreibung einer Gewerbesteuerschuld gegenüber einem Unternehmer sich deswegen als unmöglich erweisen könnte, weil alle pfändbaren, dem Betrieb dienenden Gegenstände einem anderen als dem Unternehmer gehören, insbesondere wenn der Unternehmer mit gepachteten Betriebsmitteln wirtschaftet. In solchen Fällen sollte eine Beitreibung der Steuerschuld wenigstens dann ermöglicht werden, wenn der Eigentümer der dem Betrieb dienenden Gegenstände wesentlich an dem Unternehmen beteiligt ist.

Die Beschränkung der Haftung auf bestimmte Steuerverbindlichkeiten und auf die überlassenen Gegenstände deutet darauf hin, dass der eigentliche Grund der Haftung nicht die rechtliche Beteiligung am Unternehmen ist, sondern der objektive Beitrag, den der Gesellschafter durch die Bereitstellung von Gegenständen, die dem Unternehmen dienen, für die Weiterführung des Gewerbes leistet. Entscheidendes Kriterium ist die Parallelität des –durch die wesentliche Beteiligung vermittelten– Einflusses auf die unternehmerische Tätigkeit des Unternehmens und des Einsatzes des (eigenen) Vermögens für diese Tätigkeit.

Aufgrund dieser Zielsetzung erscheint bei der Bestimmung des Gegenstands der Haftung i.S. des § 74 AO eine Differenzierung zwischen körperlichen Sachen und immateriellen Wirtschaftsgütern jedenfalls dann nicht sachgerecht, wenn in solches Vermögen vollstreckt werden kann. Denn in beiden Fällen wird dem Unternehmen ein Wirtschaftsgut überlassen, das die Aufnahme oder die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs ermöglicht und das einer Verwertung im Rahmen einer Zwangsvollstreckung zugänglich ist. Die Möglichkeit der Vollstreckung in ein Grundstück, z.B. durch die Eintragung einer Zwangshypothek oder durch Zwangsversteigerung, steht außer Frage. Auch ein Erbbaurecht, d.h. das Recht auf oder unter der Oberfläche eines Grundstücks ein Bauwerk zu haben, unterliegt als grundstücksähnliche Berechtigung nach § 864 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) der Immobiliarvollstreckung. Nach § 11 Abs. 1 des Gesetzes über das Erbbaurecht (ErbbauRG) finden die sich auf Grundstücke beziehenden Vorschriften mit Ausnahme der §§ 925, 927 und 928 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie die Vorschriften über Ansprüche aus dem Eigentum grundsätzlich entsprechende Anwendung. Das auf Grund des Erbbaurechts errichtete Bauwerk gilt als wesentlicher Bestandteil des Erbbaurechts (§ 12 Abs. 1 ErbbauRG). Diese Vorschriften belegen die Annäherung des Erbbaurechts an das Recht eines Grundstückseigentümers. Es ist kein hinreichender Grund ersichtlich, warum ein an einem Unternehmen wesentlich Beteiligter, der die Aufnahme des Geschäftsbetriebs durch Verpachtung eines Grundstücks ermöglicht, der Haftung des § 74 AO unterliegt, während ein ebenso Beteiligter, der den Bau eines Betriebsgebäudes und damit ebenfalls die Aufnahme des Geschäftsbetriebs durch die Einräumung eines Erbbaurechts ermöglicht, nicht dem mit § 74 AO verbundenen Haftungsrisiko ausgesetzt sein sollte. Zumindest bei grundstücksähnlichen Berechtigungen, wie z.B. dem Erbbaurecht, dem Bergwerkseigentum oder der Abbaugerechtigkeit, gebieten Sinn und Zweck der Ausfallhaftung eine Auslegung des Gegenstandsbegriffs des § 74 AO, die den Anwendungsbereich der Haftungsnorm auch auf solche Rechte erstreckt.

Die Haftung nach § 74 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Erbbaurecht nicht dem Kläger selbst, sondern der A-KG zustand.

Die Haftung nach § 74 AO setzt voraus, dass der am Unternehmen wesentlich Beteiligte zugleich Eigentümer des dem Unternehmen dienenden Gegenstands ist. Im Streitfall war nicht der Kläger, sondern die A-KG erbbauberechtigt und als solche im Grundbuch eingetragen. Das Erbbaurecht befand sich somit im Gesamthandsvermögen der A-KG. Für den Fall der Zugehörigkeit des einem Unternehmen dienenden Gegenstands zu einem Gesamthandsvermögen einer GbR hat der Bundesfinanzhof zu § 115 RAO entschieden, dass dieser Umstand für die Haftung dann ohne Bedeutung ist, wenn Träger dieses Gesamthandsvermögens nur die am Unternehmen wesentlich beteiligten Personen sind, weil diese Personen als Personengruppe die Gegenstände zu Eigentum haben. Denn die haftungsbegründende Interessenparallelität könne nicht dahinter zurückstehen, dass ein Gegenstand dem Unternehmen diene, über den alle wesentlich beteiligten Gesellschafter des Unternehmens nur gemeinschaftlich verfügen könnten.

Bei dieser Betrachtung kann es nicht entscheidend auf die Rechtsform der Gesellschaft ankommen, in deren Vermögen sich der dem Unternehmen überlassene Gegenstand befindet. Ausschlaggebend ist vielmehr der Umstand, dass die Verfügungsberechtigung ausschließlich bei Personen liegt, die über ihre jeweiligen Beteiligungen entscheidenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben und über deren Wirtschaftsgüter verfügen können, so dass die Überlassung eines Gegenstands an ein Unternehmen nur ihnen zugerechnet werden kann. Daher lassen sich die vom Bundesfinanzhof für die GbR entwickelten Grundsätze unter bestimmten Umständen auf eine KG übertragen. Sind an einer solchen Gesellschaft als Kommanditisten und Gesellschafter der Komplementär-Gesellschaft ausschließlich Personen beteiligt, die eine wesentliche Beteiligung an dem Unternehmen halten, dem der Gegenstand überlassen worden ist, bedarf es keiner zusätzlichen Beteiligung der Komplementär-Gesellschaft, um den Haftungstatbestand des § 74 AO zu erfüllen. Denn aufgrund der gesellschaftsrechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse sind die an der KG beteiligten natürlichen Personen jedenfalls als wirtschaftliche Eigentümer des Gegenstands i.S. des § 74 AO anzusehen. Dies gilt erst recht, wenn der Gegenstand nicht im Eigentum der Komplementär-Gesellschaft, sondern im alleinigen Eigentum der Kommanditisten steht. Denn in diesem Fall decken sich die Anteile der Kommanditisten am Gesamthandsvermögen mit den Anteilen am überlassenen Gegenstand.

Nach den Feststellungen des Finanzgerichts in dem entschiedenen Fall war der Kläger in mehrfacher Hinsicht an der A-KG beteiligt. Zum einen war er zusammen mit K als Kommanditist zu 50 % an ihr beteiligt; zum anderen war er zusammen mit K auch zu 50 % an der A-GmbH, der Komplementärin der A-KG, beteiligt. Das Gesamthandsvermögen der A-KG bestand lediglich aus dem Erbbaurecht, das nur den Kommanditisten zustand; die A-GmbH hatte keinen eigenen Kapitalanteil. Wie bereits ausgeführt, sind bei dieser Fallkonstellation die in Haftung genommenen Kommanditisten als Eigentümer des Erbbaurechts anzusehen, so dass die Haftungsvoraussetzungen des § 74 AO erfüllt sind.

Der Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids war nicht deshalb unzulässig, weil auf dessen Grundlage keine Vollstreckung hätte erfolgen können.

Wie bereits ausgeführt, unterliegt ein Erbbaurecht als grundstücksähnliche Berechtigung nach § 864 Abs. 1 ZPO der Immobiliarvollstreckung. Im Streitfall ist die A-GmbH am Gegenstand der Vollstreckung nicht beteiligt; das Gesamthandsvermögen steht ausschließlich den Kommanditisten der A-KG zu, die beide nach § 74 AO in Haftung genommen worden sind. Deren Anteile am Gesamthandsvermögen sind pfändbar, wobei sich die Haftung auf den Anteil des jeweiligen Haftungsschuldners an dem überlassenen Gegenstand beschränkt. Im Falle einer Liquidation der A-KG müsste das Erbbaurecht auf die beiden Haftungsschuldner aufgeteilt werden, so dass weitere Vollstreckungsmöglichkeiten eröffnet würden. Wie der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 22.11.2011 (BFH, Urteil vom 22.11.2011 – VII R 63/10)) entschieden hat, erstreckt sich die Haftung des Eigentümers nach § 74 AO nicht nur auf den überlassenen Gegenstand, sondern sie erfasst auch in Fällen der Weggabe oder des Verlustes von Gegenständen nach der Haftungsinanspruchnahme die erlangten Surrogate. Somit würde sich die Haftung auch auf einen Anteil am Liquidationserlös erstrecken. Bei diesem Befund ist eine Unzulässigkeit einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme infolge einer gegenwärtigen oder zukünftigen Unmöglichkeit der Vollstreckung nicht ersichtlich.

Die Haftung für die Umsatzsteuer Dezember 2001 ist auch nicht dadurch entfallen, dass das Amtsgericht am 16.10.2001 nach § 21 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 InsO einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt hat.

Auch nach Wegfall der unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten durch Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters hat eine haftungsbegründende Interessenparallelität weiter bestanden. Nach wie vor hat der Kläger durch die Einräumung des Erbbaurechts einen objektiven Beitrag zur Fortführung der Geschäfte der KG erbracht, an der er auch weiterhin wesentlich beteiligt war. Aufgrund seiner Beteiligung bestanden auch weiterhin Einflussmöglichkeiten auf die Tätigkeit der KG. Denn im Fall der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters ohne Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO) verbleibt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wie auch die Prozessführungsbefugnis beim Schuldner. Daran vermag auch der Zustimmungsvorbehalt nichts zu ändern. Denn der vorläufige Insolvenzverwalter mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt kann nicht als Vermögensverwalter i.S. von § 34 Abs. 3 AO angesehen werden. Deshalb wird der Schuldner auch nicht aus seiner Pflichtenstellung verdrängt, so dass die ihm obliegenden steuerlichen Pflichten nunmehr ausschließlich vom Insolvenzverwalter zu erfüllen wären. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts sind sämtliche haftungsrelevanten Steueransprüche vor der Insolvenzeröffnung am 01.01.2002 entstanden. Zudem beruhen die Umsatzsteuernachforderungen für Dezember 2001 auf Vorsteuerberichtigungen wegen Zahlungsunfähigkeit, die sich aufgrund einer im Februar 2002 durchgeführten Umsatzsteuersonderprüfung ergaben. Die Behauptung des Klägers, die Umsatzsteuerschuld aus Dezember 2001 habe der vorläufige Insolvenzverwalter durch eigenes wirtschaftliches Handeln zur Entstehung gebracht, findet damit keine Stütze in den tatrichterlichen Feststellungen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.5.2012 – VII R 28/10