Urteil des VG Trier vom 26.05.2008

VG Trier: nigeria, hiv, abschiebung, gefahr, ungeborenes kind, ärztliche behandlung, flüchtlingseigenschaft, regierung, freiheit, versorgung

Asylrecht
Aufenthaltsrecht
Ausländerrecht
Flüchtlingsrecht
VG
Trier
26.05.2008
5 K 1003/07.TR
Zum Vorliegen eines Abschiebungs
Verwaltungsgericht Trier
5 K 1003/07.TR
Urteil
In dem Verwaltungsrechtsstreit
wegen Asylrechts (Nigeria)
hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Trier am 26. Mai 2008 durch
für Recht erkannt:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 19. November 2007 wird insoweit aufgehoben, als hinsichtlich der
Klägerin das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf eine
Abschiebung nach Nigeria verneint und der Klägerin eine Abschiebung nach Nigeria angedroht wurde.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass im Hinblick auf die Klägerin in Bezug auf eine
Abschiebung nach Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes
vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Klägerin und die Beklagte haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckungsfähigen Betrages abwenden, wenn nicht
die jeweilige Kostengläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Die Klägerin erstrebt ihre Asylanerkennung, die Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft sowie von
Abschiebungsverboten und wendet sich gegen eine ihr gegenüber ergangene Ausreiseaufforderung mit
Abschiebungsandrohung.
Am 14. November 2007 stellte die Klägerin bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (Bundesamt) in Trier einen Asylantrag, nachdem sie sich am 5. November 2007 bei der
Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge Baden-Württemberg in Karlsruhe als Asylsuchende gemeldet hatte.
Bei der Asylbeantragung gab sie an, nigerianischer Staatsangehörigkeit und am 21. April 1971 in ***
geboren zu sein; sie gehöre der Volksgruppe der Edo an und sei christlicher Religionszugehörigkeit. Sie
habe die Grundschule abgeschlossen und sodann in der Landwirtschaft gearbeitet.
Bei ihrer persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 15. November 2007 trug sie vor, dass sie mit
einem Schiff nach Deutschland gekommen sei und keine Personalpapiere besitze. Sie habe ihr Dorf Ende
April 2007 mit dem Schiff verlassen und sei Ende September 2007 mit diesem Schiff im Hamburger Hafen
angekommen, wobei sie beim Verlassen des Schiffs nicht kontrolliert worden sei; es sei wahrscheinlich,
dass das Schiff einige Häfen angelaufen habe, sie habe das Schiff jedoch nie verlassen und sich in ihm
versteckt. Von Beruf sei sie Bäuerin und habe Cassavapflanzen angebaut, die für ein Gericht mit dem
Namen Garri verwandt würden. Nachdem die Ölfirmen zunehmend ihre Felder zerstört hätten, hätten sie
eine Frauenorganisation gegründet, die sich bei ihr getroffen und die Regierung gebeten habe, gegen die
Landzerstörung vorzugehen. Die Regierung sei dem nicht nachgekommen. Vielmehr seien immer öfter
Frauen gefangen genommen worden und nie mehr aufgetaucht. Als man sie habe gefangen nehmen
wollen, sei es ihr gelungen, weggelaufen. Glücklicherweise sei gerade ein Schiff vorbeigekommen, das
sie mitgenommen habe. Nachdem sie in Deutschland angekommen sei, habe sie einen Mann namens ***
kennengelernt, von dem sie jetzt schwanger sei.
Der Asylantrag blieb erfolglos; er wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 19. November 2007, der am
27. November 2007 zugestellt wurde, sowohl hinsichtlich der Anerkennung als asylberechtigt als auch
hinsichtlich § 60 Abs. 1 AufenthG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Außerdem wurde das
Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG verneint. Ferner wurde die
Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der
Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihr die Abschiebung nach
Nigeria oder in jeden anderen Staat, in den sie einreisen darf und der zu ihrer Rückübernahme
verpflichtet ist, angedroht. Zur Begründung des Bescheids ist ausgeführt, dass die Angaben der Klägerin
über ihre Reise nach Deutschland nicht glaubhaft seien, so dass eine Asylanerkennung ausscheide.
Abschiebungsverbote könnten nicht festgestellt werden, denn das Vorbringen der Klägerin sei ebenfalls -
wie auch die Angaben zum Fortschritt der Schwangerschaft - nicht glaubhaft, völlig unsubstanziiert und
lasse keine Rückschlüsse auf eine Verfolgungsgefahr im Sinne der genannten Normen zu.
Am 3. Dezember 2007 hat die Klägerin Klage erhoben, zu deren Begründung sie vorträgt, dass sie
Analphabetin sei und aus dem Dorf Jesse in Delta State stamme, wo sie auf eigenen Feldern
Cassavapflanzen angebaut habe. Soweit die Beklagte die Angaben der Klägerin aufgrund angeblich
unwahrer Angaben zum Stand der Schwangerschaft als nicht glaubhaft angesehen habe, beruhe dies auf
einer Verkennung der Tatsachen, denn sie sei erst seit Ende September 2007 schwanger und im Übrigen
HIV-Positiv infiziert. Aufgrund aller Umstände seien sowohl sie als auch ihr Kind bei einer Rückkehr nach
Nigeria hochgradig gefährdet. Die Beklagte habe es außerdem versäumt, das Vorbringen der Klägerin
hinsichtlich des Verschwindens von Frauen unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 Satz 4a AufenthG zu
prüfen.
Die Klägerin, die sich ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt hat, beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 19. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie
als Asylberechtigte anzuerkennen, ihre Flüchtlingseigenschaft festzustellen und festzustellen, dass im
Hinblick auf ihre Person in Bezug auf eine Abschiebung nach Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs.
1, Abs. 2 bis Abs. 5 bzw. Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte ist dem Vorbringen der Klägerin unter Bezugnahme auf die Gründe ihrer Entscheidung
schriftsätzlich entgegengetreten und bittet,
die Klage abzuweisen.
Ergänzend führt sie aus, dass HIV/Aids in Nigeria kostenlos behandelt werden könne. Im Übrigen sei nicht
nachgewiesen, dass nach der Entbindung ein Behandlungsbedarf bestehe, so dass keine Anhaltspunkte
für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis erkennbar seien.
Die Kammer hat mit Beschluss vom 11. Februar 2008 den Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen. Dem
von der Klägerin gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in
dem Bescheid der Beklagten enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung hat die
Kammer mit Beschluss vom 18. Dezember 2007 - 5 L 1004/07.TR - insoweit entsprochen, als der Klägerin
die Abschiebung nach Nigeria angedroht wurde.
Ferner hat die Kammer gemäß Beschluss vom 4. März 2008 Beweis erhoben zu den Fragen,
ob und in welchem Umfang die Klägerin im Hinblick auf die bei ihr festgestellte HIV-Infektion derzeit bzw.
in absehbarer Zukunft, auch unter Berücksichtigung ihrer Schwangerschaft, ärztlicher bzw.
medikamentöser Betreuung bedarf,
sofern ein Behandlungsbedarf bejaht wird, welche Folgen für die Klägerin und ihr ungeborenes Kind bei
einem Unterlassen der Behandlung zu befürchten sind
durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, das unter dem 2. April 2008, ergänzt unter dem 8.
Mai 2008, von Frau Dr. ***, Gesundheitsamt des ***kreises,***, erstellt wurde. In dem Gutachten ist
ausgeführt, dass bei der Klägerin zur Vermeidung von Resistenzentwicklungen regelmäßige
Blutkontrollen und eine Dauermedikation mit antiretrovialen Medikamenten unbedingt erforderlich seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze
der Beteiligten, die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die auf Blatt 140 ff. der Prozessakte
aufgelisteten Unterlagen zu den Verhältnissen in Nigeria, die vorlagen und bei der Entscheidungsfindung
berücksichtigt wurden.
Entscheidungsgründe:
Die Klage, über die das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden
kann, ist zulässig, in der Sache jedoch nur teilweise begründet. Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf
Anerkennung als asylberechtigt noch ein solcher auf Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft oder von
Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1, Abs. 2 bis Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes zur Seite. Allerdings
ist die Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 des
Aufenthaltsgesetzes festzustellen. Außerdem erweist sich die ihr gegenüber ergangene ansonsten
rechtmäßige Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung insoweit als rechtswidrig, als der
Klägerin die Abschiebung nach Nigeria angedroht wurde.
Nach Artikel 16 a Abs. 1 GG in Verbindung mit den Bestimmungen des Asylverfahrensgesetzes in der
zuletzt durch Gesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I. S. 1970) geänderten Fassung hat ein Ausländer
Anspruch auf Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, wenn er "politisch Verfolgter" ist.
Politisch verfolgt ist ein Ausländer, dem in seinem Heimatland wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, seiner politischen Überzeugung oder wegen anderer
für ihn unverfügbarer Merkmale, die sein "Anderssein" prägen, Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahren für
Leib, Leben, physische Freiheit oder andere Freiheits- und Schutzgüter drohen, die ihrer Intensität und
Schwere nach die Menschenwürde verletzen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 1988 - 9 C 37/88 -,
BVerwGE 80S. 321 ff. und vom 20. November 1990 - 9 C 72/90 -, BVerwGE 87 S. 141/144), und diese von
der Staatsgewalt oder einer staatsähnlichen Institution ausgehen. Dabei kommt es aber nicht darauf an,
ob der Verfolgte tatsächlich Träger eines Verfolgung verursachenden Merkmals ist; entscheidend ist
vielmehr, ob er einer bestimmten Gruppierung zugerechnet wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar
1992 - 2 BvR 472/91 -). Eine Asylanerkennung ist allerdings gemäß Art. 16 a Abs. 2, Abs. 3 GG, § 27
AsylVfG ausgeschlossen, wenn der Betreffende bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung
gefunden hat oder derartigen Schutz in anderen Teilen seines Heimatstaates hätte finden können (vgl.
auch BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 17/89 -, BVerwGE 85 S. 139). Des Weiteren kann sich ein
Asylbewerber gemäß Art. 16a Abs. 2 GG i. V. m. § 26a AsylVfG nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen, wenn
er auf dem Landweg nach Deutschland eingereist ist, da Deutschland nur von sicheren Drittstaaten im
Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG umgeben ist. Behauptet ein Asylbewerber, auf dem Luft- oder Seeweg ohne
Berührung eines sicheren Drittstaats nach Deutschland eingereist zu sein, trägt er hierfür die materielle
Beweislast (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 1999 - 9 C 36/98 -, BVerwGE 109, S. 174).
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer gemäß §§ 3 Abs. 1 AsylVfG, 60 Abs. 1 Satz 6 des
Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I. S. 1970)
durch die Beklagte zuzuerkennen, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in
dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 des
Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I. S. 1970)
ausgesetzt ist. Nach dieser Norm liegt ein Abschiebungsverbot dann vor, wenn ein Ausländer in
Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S.
559) nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner
Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der
körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Ferner kommt es bei
einer von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung nicht darauf an, ob in dem Land eine
staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist; entscheidend ist lediglich, dass sowohl der Staat als auch das
Staatsgebiet beherrschende Organisationen einschließlich internationaler Organisationen
erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, es sei
denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Vorliegend sind die Angaben der Klägerin zu den Gründen, die sie zur Ausreise bewogen haben sollen,
nicht glaubhaft. Dies hat die Kammer in ihrem im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
ergangenem Beschluss mit ausführlicher und zutreffender Begründung ausgeführt. Das Gericht macht
sich die dortigen Ausführungen zu Eigen und sieht insoweit gemäß § 77 AsylVfG von einer weiteren
Begründung der Entscheidung ab.
Von daher steht der Klägerin weder ein Rechtsanspruch auf Asylanerkennung im Sinne des Art. 16 a Abs.
1 GG noch ein solcher auf Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG zur
Seite, so dass auch die Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen.
Ferner steht der Klägerin auch kein Rechtsanspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach §
60 Abs. 2 bis 5 AufenthG zu, denn ihr drohen in Nigeria nicht die in dieser Norm genannten Gefahren mit
der für die Feststellung von Abschiebungsverboten erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zu
Letzterem: BVerwG, Beschluss vom 24. März 1998 - 9 B 995/97 -). Dies hat das Bundesamt in seinem
Bescheid mit ausführlicher und zutreffender Begründung, die sich die Kammer zu Eigen macht und auf die
zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, ausgeführt.
Allerdings ist die Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG festzustellen.
Nach dieser Vorschrift soll ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn eine
erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei die Gefahr, dass sich eine
Erkrankung des Ausländers auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel
als individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einzustufen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom
17. Oktober 2006 - 1 C 18/05 -, NVwZ 2007, S. 712 ff.).
Ob eine erhebliche konkrete Gefahr besteht muss anhand des gleichen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs wie
im Asylrecht, nämlich demjenigen der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit", beurteilt werden (vgl. BVerwG,
Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, S. 324/ 330). Insoweit ist eine umfassende
Bewertung der gesamten Gefährdungslage im Einzelfall vorzunehmen, ohne dabei in eine
"mathematische" oder "statistische" Betrachtungsweise zu verfallen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.
Februar 2003 - 1 B 273/02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 68). Eine krankheitsbedingte
zielstaatsbezogene Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG kann sich im Einzelfall auch daraus
ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung
tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann zum einen der Fall sein, wenn im Herkunftsstaat des
Ausländers eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit wegen
des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Zum anderen kann sich ein
zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser
und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass
der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann, z.B. wenn eine
notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer
individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom
29. Oktober 2002 - 1 C 1/02 -, DVBl 2003, S. 463).
An diesen Maßstäben ist das Vorbringen der Klägerin zu messen, dass im Rahmen der bei ihr
durchgeführten üblichen Schwangerschaftsvorsorge festgestellt worden sei, dass sie HIV-positiv infiziert
sei, was durch das im Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten bestätigt wurde, und deshalb bei
einer Rückkehr nach Nigeria erheblichen Gefahren ausgesetzt sei.
Allerdings muss gesehen werden, dass in Nigeria nach offiziellen Schätzungen ca. 5 % der Bevölkerung
HIV-positiv infiziert sind (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 6. November 2007 - 508-516.80/3 NGA -), so das die Gefahr, die
sich aus dem Auftreten von HIV-Infektionen ergibt, möglicherweise "allgemein" im Sinne des § 60 Abs. 7
Satz 3 AufenthG ist, weil sie eine Vielzahl von Personen betrifft, und deshalb die Anwendbarkeit des § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Satz 3 der Norm in Verbindung mit § 60a AufenthG verdrängt wird.
Jedoch ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass in den Fällen, in denen die Anwendbarkeit des § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Satz 3 der Norm in Verbindung mit § 60a AufenthG verdrängt wird, weil
dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht, gleichwohl
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung auch dann
gewährt werden muss, wenn im Abschiebezielstaat für den Ausländer (entweder auf Grund der
allgemeinen Verhältnisse oder auf Grund von Besonderheiten im Einzelfall) landesweit eine extrem
zugespitzte Gefahr wegen einer notwendigen, aber nicht erlangbaren medizinischen Versorgung zu
erwarten ist, wenn mit anderen Worten der betroffene Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam
sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.
Oktober 2006, a. a. O.).
Ausgehend hiervon ist das Gericht der Überzeugung, dass der HIV-positiv infizierten Klägerin bei einer
Rückkehr nach Nigeria extreme Gefahren in dem vorstehend aufgezeigten Sinn drohen, denn die
Gesundheitsversorgung in Nigeria ist, vor allem auf dem Lande, mangelhaft. Zwar finden Rückkehrer in
den Großstädten eine ausreichende medizinische (Grund-) Versorgung vor, da es sowohl staatliche als
auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser gibt. Da indessen die Patienten ihre Behandlung stets
selbst bezahlen müssen und Hilfsorganisationen, die für Not leidende Patientinnen und Patienten die
Kosten übernehmen, nicht bekannt sind, können aufwendigere Behandlungsmethoden, wie die
Behandlung von HIV/Aids, die zwar theoretisch möglich sind, von dem Großteil der Bevölkerung nicht
finanziert werden (so das Auswärtige Amt in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 6. November 2007 - 508-516.80/3 NGA -).
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf eine Stellungnahme von ACCORD zu Behandlungsmöglichkeiten
für HIV vom 12. Februar 2008 die Auffassung vertritt, dass in Nigeria eine kostenfreie Behandlung von
HIV-Erkrankungen möglich sei, vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. In diesem Bericht ist
nämlich ausgeführt, dass es zwar das Ziel der nigerianischen Regierung sei, eine kostenlose Behandlung
zu ermöglichen, und dass in den meisten von der Regierung betriebenen Gesundheitszentren
antiretrovirale Medikamente gratis zur Verfügung gestellt würden, dass aber gleichwohl nur eine von fünf
Personen, die derartige Medikamente benötigten, tatsächlich Zugang zu ihnen hätten. Im Übrigen seien
die erforderlichen Laboruntersuchungen und die Behandlung opportunistischer Infektionen nicht
kostenfrei. Ferner heißt es in einem Gutachten der Schweizer Flüchtlingshilfe zu
Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/Aids vom 12. Juli 2006, dass die Behandlung für viele
Patientinnen angesichts der geringen Einkommen unbezahlbar sei.
Ausgehend hiervon ist die Kammer der Überzeugung, dass im Fall der Klägerin bei verfassungskonformer
Auslegung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, weil sie ungeachtet dessen,
dass ihr die benötigten Medikamente möglicherweise unentgeltlich überlassen werden, jedenfalls die -
wie die Sachverständige ausgeführt hat - "unbedingt erforderlichen" Laboruntersuchungen nicht bezahlen
kann.
Dies hat, wie das BVerwG in seinem der Kammer im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht bekannten Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8/07
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht bekannten Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8/07
-, NVwZ 2008, S. 330, ausgeführt hat, zur Folge, dass die Abschiebungsandrohung als solche zwar
gemäß §§ 34, 36 AsylVfG rechtmäßig ist, da die Klägerin nicht als Asylberechtigte anerkannt wird, ihre
Flüchtlingseigenschaft nicht anerkannt wird, sie keinen Aufenthaltstitel besitzt und Abschiebungsverbote
nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen stehen.
Allerdings ist regelmäßig ein Absehen von der Abschiebung in den betreffenden Staat geboten,
hinsichtlich dessen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, sofern nicht - was
vorliegend nicht der Fall ist - ausnahmsweise Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Falles
bestehen. Von daher hätte Nigeria in der Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
als Staat hätte bezeichnet werden müssen, in den die Klägerin gerade nicht abgeschoben werden darf, so
dass die Abschiebungsandrohung insoweit rechtswidrig ist, als der Klägerin eine Abschiebung nach
Nigeria angedroht wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und
berücksichtigt die sich aus § 30 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ergebenden Gegenstandswerte;
Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten findet ihre
Rechtsgrundlage in §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung - ZPO -.