Urteil des VG Stuttgart vom 01.07.2009
VG Stuttgart (bundesrepublik deutschland, cassis de dijon, kläger, schutz der gesundheit, freier warenverkehr, deutschland, genehmigung, wirkung, eugh, ausländischer staat)
VG Stuttgart Urteil vom 1.7.2009, 8 K 1815/08
Betriebserlaubnis für mit Carbonrädern ausgestattetes und in Großbritannien hergestelltes Motorrad
Leitsätze
Die Betriebserlaubnis für ein im Übrigen vorschriftsmäßiges und mit einer EG-Betriebserlaubnis versehenes
Kraftrad darf nicht allein deshalb versagt werden, weil das Kraftrad mit in Großbritannien hergestellten und dort
ohne Beschränkung für diesen Motorradtyp zugelassenen Carbon-Rädern ausgestattet worden ist.
Tenor
Der Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 01. April 2008 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die beantragte Betriebserlaubnis für das Motorrad MV Augusta, Typ: F
4 102001/Handelsbezeichnung: F 4 S 1+1; Fahrzeugident.-Nr. ZCGF...; EG-BE-Nr. / ABE-Nr. E92/61 0024 00 mit
folgender Räderausstattung: Vorderrad Rad-Nr. 611025; Größe: 3,5 x 17; Typ: 5SF; Handelsbezeichnung: DYMAG
Fünf Speichen Carbon; Zeichnungs-Nr.: B2146A17350FSF; Hinterrad: Rad-Nr.: 611026; Größe: 6,0 x 17; Typ:
5SFS; Handelsbezeichnung: DYMAG Fünf Speichen Carbon; Zeichnungs-Nr. B2145A17600FSF, zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger ist Halter und Eigentümer des Kraftrades MV Augusta Typ F4102001, Fahrzeug Id.Nr. ZC GF ... .
Er beabsichtigt die Umrüstung dieses Motorrads mit den im Tenor genannten Carbon-Rädern und beantragte
dazu am 09.01.2008 die Erteilung einer Betriebserlaubnis für das umgebaute Motorrad bei der Zulassungsstelle
des Landratsamtes ....
2
Zur Begründung führte er aus: Bei den Carbon-Rädern handle es sich um Sonderräder, die für das Fahrzeug
des Klägers gefertigt worden seien. Sie entsprächen den Prüfrichtlinien für Räder zur Verwendung im
öffentlichen Straßenverkehr Britisch Standard (BS) AU 50 (Räder für Motorräder, die ganz oder teilweise aus
Leichtmetall gefertigt sind). Dies sei aus den Bescheinigungen der DYMAG Racing U.K. Ltd. und DYMAG
Composites Ltd. vom 19.12.2007 zu entnehmen. Der BS AU 50 sei der von der British Standard-Institution
(BSI) London erstellte und vorgegebene einschlägige technische Standard für Räder für Motorräder. Die BSI sei
die offizielle nationale Stelle in Großbritannien für die Erstellung und Festlegung technischer Standards. Räder,
die dem Standard BS AU 50 entsprächen, verfügten in Großbritannien über eine Betriebserlaubnis zur
Verwendung im öffentlichen Straßenverkehr, die auch für alle übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
gelte. Diese britische Genehmigung sei auf Grund von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften auch in
der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen, nämlich auf Grund der innergemeinschaftlichen
Warenverkehrsfreiheit als Kernbestandteil der europäischen Grundfreiheiten. Die Nichtanerkennung wäre als
„Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S. des Art. 28 des EG mit dem europäischen Primärrecht unvereinbar und
deshalb gemeinschaftswidrig. In ihr läge eine Einfuhrbeschränkung von gleicher Wirkung wie eine
mengenmäßige Einfuhrbeschränkung, die gegen die innergemeinschaftliche Warenverkehrsfreiheit verstoßen
würde.
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Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers wurde vom Innenministerium Baden-Württemberg mitgeteilt: Mit
den anliegend übersandten Nachweisen sei eine Eintragung in die Fahrzeugpapiere nicht möglich. Ohne
Prüfung des Kraftrades nach § 19 bzw. § 21 StVZO einschließlich eines besonderen Eignungsnachweises der
Carbon-Sonderräder (Dauerlauftest) sei eine Umrüstung im Rahmen einer deutschen Fahrzeugbetriebserlaubnis
nicht zulässig. Die beigelegten Nachweise ließen weder einen anerkannten Technischen Dienst noch die
konkret erfüllten Prüfungen erkennen. Derzeit gebe es noch keine europäisch standardisierten Prüfkriterien für
Carbonräder, da eine Beurteilung nach den Kriterien für Aluminiumräder auf Grund abweichender
Werkstoffeigenschaften nicht automatisch vergleichbar sei. Eine EG- oder ECE-Typengenehmigung für
Carbonräder existiere derzeit noch nicht. Es gebe derzeit keine vereinbarten Bedingungen, internationale
Normen oder EG- bzw. ECE-Bestimmungen zu Carbonrädern. Eine englische Zulassung der Sonderräder
bedinge nicht automatisch deren Anerkennung in Deutschland, da Sonderräder (insbesondere an Krafträdern)
ein erhebliches Gefährdungspotenzial darstellen könnten.
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Der Kläger betonte daraufhin nochmals, dass die Carbonräder in Großbritannien über eine Betriebserlaubnis zur
Verwendung im öffentlichen Verkehr verfügten. Bei dieser Betriebserlaubnis handle es sich um eine
Genehmigung, die auf Grund von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften gemäß § 21 a Abs. 1 a
StVZO in der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen sei. Eine Nichtanerkennung verstoße gegen das
umfassende Beschränkungsverbot aus Art. 28 EG. Für eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 28 EG gebe
es im vorliegenden Fall keine Rechtfertigung. Es liege weder ein Rechtfertigungsgrund nach Art. 30 EG noch
ein gemeinschaftsrechtlich anerkannter ungeschriebener Rechtfertigungsgrund vor. Der Anwendungsbereich
des Art. 30 EG setze voraus, dass objektiv eine Gefahr für ein betroffenes Schutzgut bestehe. Die bloße
Behauptung des Innenministeriums, dass Carbonräder ein erhebliches Gefährdungspotenzial darstellen
könnten, genüge diesen strengen Anforderungen nicht einmal ansatzweise. Ein zwingendes Erfordernis für ein
derartiges nationales Handelshemmnis sei nicht ersichtlich. Selbst wenn ein solches vorliegen würde, müsse
bei Beschränkungen des freien Warenverkehrs der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
5
Mit Bescheid vom 01.04.2008 lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Erteilung einer
Betriebserlaubnis gemäß §§ 19/21 StVZO für die MV Augusta nach Umrüstung auf Carbon-Sonderräder
„DYMAG“-Fünf-Speichen-Carbon ab.
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Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass Erkenntnisse für eine umfassende Bewertung von
Kunststoffrädern noch nicht ausreichend vorlägen. Ein geeignetes Prüfverfahren und angemessene Vorgaben
für eine Überwachung seien gegenwärtig nicht zu realisieren. Auf die 145. Sitzung des Bund-Länder-
Fachausschusses „Technisches Kraftfahrwesen“ (BLFA-TK) vom 27./28.02.2008 werde hingewiesen. Die
Handelsbeschränkung sei daher nach Art. 30 EG zulässig, da diese zum Schutz der Gesundheit und des
Lebens von Menschen gerechtfertigt sei. Zahlreiche sicherheitsrelevante Fragen seien noch ungeklärt. Dies
gelte vor allem für das Temperaturverhalten, die Betriebslasten, die Medieneinwirkung (UV-Strahlung, Feuchte,
chemische Einwirkungen) und die Dauerhaltbarkeit von Carbonfelgen. Das Inverkehrbringen von bislang nur
unvollständig erforschten Produkten stelle eine latente Gefahr für die Gesundheit und Menschenleben dar.
7
Der Kläger hat dagegen am 02.05.2008 Klage erhoben, mit der er sein Begehren auf Erteilung der beantragten
Betriebserlaubnis weiterverfolgt.
8
In der Begründung verweist er unter Vorlage der Bescheinigungen der DYMAG Racing U.K. Ltd. und DYMAG
Composites Ltd. vom 19.12.2007 nochmals darauf, dass die Räder dem Standard BS AU 50 entsprächen und
in Großbritannien über eine Betriebserlaubnis zur Verwendung im öffentlichen Straßenverkehr verfügten. Ein
Rechtsanspruch des Klägers auf Erteilung der Betriebserlaubnis ergebe sich daher aus §§ 19, 21 StVZO i.V.m.
§ 21 a Abs. 1 S. 1 und Abs. 1 a StVZO. Die britische Betriebserlaubnis sei wegen Art 28 EG in der
Bundesrepublik Deutschland unmittelbar anzuerkennen. Eine Nichtanerkennung wäre eine „Maßnahme gleicher
Wirkung“ i.S. des Art. 28 EG. Für eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 28 EG existiere keine
Rechtfertigung. Unter Hinweis auf die europarechtliche Rechtsprechung (EuGH - Dassonville) sei hier die
staatliche Maßnahme (Versagung der Betriebszulassung), die geeignet sei, den innergemeinschaftlichen
Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, nach Art. 28 EG verboten.
Nationale Vorschriften, die Waren einem Zulassungsverfahren unterwerfen oder eine Genehmigung für das
Inverkehrbringen erfordern, entfalteten grundsätzlich eine einfuhrbehindernde Wirkung im Sinne von Art. 28 EG
und stellten damit eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ im Sinne dieser Vorschrift dar. Nach dem Willen der EU-
Kommission solle ein Erzeugnis, das in einem Mitgliedstaat hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist,
überall in der Gemeinschaft verkauft werden können. Für eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 28 EG gebe
es im vorliegenden Fall keine Rechtfertigung. Es läge weder ein Rechtfertigungsgrund nach Art. 30 EG noch
ein gemeinschaftsrechtlich anerkannter ungeschriebener Rechtfertigungsgrund vor. Ein Mitgliedstaat, der sich
auf eine Ausnahme nach Art. 30 EG berufe, müsse nachweisen, dass objektiv eine Gefahr für das betroffene
Schutzgut (Gesundheit und Menschenleben) bestehe. Die bloße Behauptung einer Gefahr bzw. allgemeine
Überlegungen reichten zur Rechtfertigung einer Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit nicht aus. Die bloße
Behauptung der Beklagten, dass die Carbonräder ein erhebliches Gefährdungspotenzial darstellen könnten,
genüge diesen strengen Anforderungen nicht einmal ansatzweise. Sie sei auf keinerlei wissenschaftliche
Erkenntnisse gestützt und werde zudem durch die Erfahrungen in Großbritannien widerlegt.
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Ein ungeschriebener Rechtfertigungsgrund sei ebenfalls nicht einschlägig. Nach der „Cassis-de-Dijon“-
Rechtsprechung des EuGH seien nationale Handelshemmnisse, die sich nicht auf Art. 30 EG stützen ließen,
nur dann hinzunehmen, wenn sie notwendig seien, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden. Dabei
könne es lediglich um zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gehen. Im vorliegenden Fall sei ein
solches zwingendes Erfordernis nicht einmal ansatzweise ersichtlich und vom Beklagten auch nicht dargetan.
Darüber hinaus müsse auch bei Vorliegen eines zwingenden Erfordernisses des Allgemeininteresses der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Die betreffende, den freien Warenverkehr beschränkende
Maßnahme müsse geeignet und notwendig sein, um dem jeweiligen öffentlichen Interesse des Allgemeinwohls
zu entsprechen. Zudem müsse die Abwägung der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs mit dem
Interesse des Mitgliedstaates an der Verfolgung des zwingenden Erfordernisses zu Gunsten des Letzteren
ausfallen. Ein Mitgliedstaat, der sich auf einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand berufe, trage für das
Vorliegen seiner Voraussetzungen in vollem Umfange die Beweislast. Auch insofern genüge der lapidare, völlig
unsubstanziierte und unzutreffende Verweis auf ein „erhebliches Gefährdungspotenzial“ von Carbonrädern bzw.
das Vorliegen einer „latenten Gefahr“ diesen strengen Anforderungen nicht.
10 Die Auffassung des 174. FKT am 24.10.2007 sowie die 145. Sitzung des BLFA-TK vom 27./28.02.2008 könne
zu keiner anderen Entscheidung führen. Zum einen seien diese Gremien nicht befugt, grundrechtsrelevante
Entscheidungen zu treffen. Weiter gehörten diesen Gremien unter anderem Fahrzeug- und Zubehörhersteller
an, die ein erhebliches wirtschaftliches Eigeninteresse daran hätten, derartige (neue) Produkte entgegen der
Rechtslage vom deutschen Markt fernzuhalten.
11 Auf den Einwand des Beklagten, dass es sich bei der DYMAG Wheels Certification“ vom 19.12.2007 weder um
eine amtliche Genehmigung noch um eine auf Grundlage des harmonisierten EG- oder ECE-Rechts für
Kunststoff-/Carbonräder erstellte Bescheinigung handle, führte der Kläger am 28.11.2008 ergänzend aus: Bei
einer rechtmäßigen Herstellung der Räder in einem Mitgliedstaat müsse eine freie Einfuhr und eine
Freizirkulation zulässig sein. Der Nachweis einer drohenden Gesundheitsgefahr im Sinne von Art. 30 EG sei
bislang nicht geführt worden.
12 Unter Hinweis auf die Richtlinien für die Prüfung von Sonderrädern für Kfz und Anhänger vom 25.11.1998 wird
betont, dass darin von einer Offenheit hinsichtlich der Werkstoffe ausgegangen werde und keine Festlegung
auf bestimmte Werkstoffe getroffen worden sei. Damit seien Verbundkonstruktionen ausdrücklich zugelassen.
Auch nach einem Gutachten des TÜV ... vom 14.11.2003 seien Carbonräder prüfbar. Sie seien im
Technologiecentrum der Typprüfstelle ... anhand der Richtlinie geprüft worden mit dem Ergebnis, dass auf
Grund der durchgeführten Prüfungen keine technischen Bedenken bestehen, die o. g. Sonderräder
(Carbonräder) an den in den Verwendungsbereichsgutachten genannten Krafträdern unter den dort aufgeführten
Bedingungen zu verwenden.
13 Weiter würden, unabhängig von der Prüfbarkeit, bei der Homologation von Fahrzeugen, an Räder keinerlei
Prüfanforderungen gestellt. Im Rahmen der Fahrzeugbetriebserlaubnis würden von den Fahrzeugherstellern im
Rahmen ihrer Produktverantwortung Räder geprüft und freigegeben.
14 Außerdem sei zu berücksichtigen, dass die Kunststoffräder bisher keinerlei Unfälle verursacht hätten. Dies
werde vom Beklagten auch nicht in Frage gestellt.
15 Das Versagen der Betriebserlaubnis verstoße im Übrigen auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Es sei das schwerste denkbare Mittel. Der Beklagte habe insoweit nicht einmal eine Abwägung anderer
möglicher Mittel, wie etwa die Einschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit oder die Festlegung von
Prüf- und Austauschzyklen der Räder, vorgenommen.
16 Eine Ablehnung der Erteilung einer Betriebserlaubnis sei auch bereits deshalb unzulässig, weil der Kläger,
sofern er das Kraftrad im Vereinigten Königreich erworben und nach Deutschland eingeführt hätte, dies lediglich
an seinem Wohnort in Deutschland hätte anmelden müssen, ohne darüber hinaus eine deutsche
Betriebserlaubnis zu beantragen.
17 Der Kläger beantragt,
18
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom
01.04.2008 - Az.: 46-3861.6/Lehnert, Thomas 001 - die beantragte Betriebserlaubnis für das Motorrad
MV Augusta, Typ: F 4102001; Handelsbezeichnung: F 4 S 1+1; Fahrzeugident.-Nr. ZCGF...; EG-BE-
Nr. / ABE-Nr. E92/61 0024 00; mit folgender Räderausstattung: Vorderrad: Rad-Nr. 611025; Größe: 3,5
x 17; Typ: 5SF; Handelsbezeichnung: DYMAG Fünf Speichen Carbon; Zeichnungs-Nr.:
B2146A17350FSF; Hinterrad: Rad-Nr.: 611026; Größe: 6,0 x 17; Typ: 5SFS; Handelsbezeichnung:
DYMAG Fünf Speichen Carbon; Zeichnungs-Nr. B2145A17600FSF, zu erteilen.
19 Der Beklagte beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21 Er ist der Auffassung, dass ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Betriebserlaubnis weder auf der
Grundlage des nationalen Rechts noch auf Grund von Art. 28 des EG-Vertrags bestehe. Dieser erfahre eine
Einschränkung durch Art. 30, der eine Einfuhrbeschränkung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen rechtfertige.
22 Bei der „DYMAG Wheels Certification“ vom 19.12.2007 handle es sich weder um ein amtliche Genehmigung,
noch sei diese auf Grundlage des harmonisierten EG- oder ECE-Rechts für Kunststoff-/Carbonräder erstellt
worden. Derzeit existierten noch keine national oder international abgestimmten oder allgemein akzeptierten
Prüfkriterien. Eine Freigabe der Fahrzeughersteller für Carbonräder gebe es ebenfalls noch nicht. Der fehlende
Nachweis für die Verkehrssicherheit reiche für die Anwendung von Art. 30 des EG-Vertrages aus. Auch unter
Berücksichtigung des einschränkenden Charakters des Art. 30 EG sei eine Gefährdungslage für die oben
genannten Schutzgüter ausreichend.
23 Im Termin der mündlichen Verhandlung am 26.11.2008 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers weiter
erklärt, dass sowohl in Großbritannien als auch in Holland die im Streit stehenden Carbon-Räder
unproblematisch an den hierfür zugelassenen Motorrädern montiert werden und diese am Straßenverkehr
teilnehmen könnten. In England obliege die Zulassung dem Hersteller, der eine entsprechende Bescheinigung
ausstelle, die letztendlich zu einer Herstellerhaftung führen könne. Ein weiterer hoheitlicher Genehmigungsakt
sei nicht notwendig. Die Bauteile Räder unterlägen in Großbritannien keiner besonderen Überprüfung. Der
Hersteller eines Fahrzeugs könne über die von ihm verwendeten Bauteile und Prüfungen selbst bestimmen.
24 Der Beklagten-Vertreter hat erklärt, dass in Deutschland zwar die ABE-Zertifizierung beantragt, aber nicht
erteilt worden sei.
25 Der Vertreter der Firma DYMAG, Herr B., betonte, dass allein 1000 Carbonräder an Dukati und KTM
ausgeliefert worden seien. Seit 1993 würden Carbonräder in Rennen und im Straßenverkehr laufen. Man
versuche seit Jahren bei entsprechenden Gremien in Deutschland die Bedenken gegen eine Zulassung der
Räder im Straßenverkehr auszuräumen.
26 Der im Termin anwesende Sachverständige des TÜV ... räumte ein, dass bislang keine Vorschriften
bestünden, die auf Carbonfaser abstellten. Es gebe hier auch verschiedene Aufbauformen und unterschiedliche
Herstellungsprozesse. Hier handle es sich um ein endlosfaserverstärktes Kunststoffrad. Die Wannungen bei
Pkw-Kunststoffrädern seien nicht unbedingt auf Carbonräder übertragbar. Problematisch bei Kunststoffrädern
könnten Steinschlagschäden, Dampfstrahlschäden oder UV-Einwirkungen sein. Ein entsprechendes Prüfpaket
sei bislang noch nicht geschnürt worden. Die Richtlinie 1998 habe sich nicht wesentlich geändert im Vergleich
zur Richtlinie 1982. Bei einer Hauptuntersuchung sei eine Rissfeststellung kaum möglich. Dies gelte für alle
Räder. Bei Carbonrädern seien an Schadstellen Verfärbungen festzustellen. Die Carbonräder seien teilweise
sogar dem Metallbauteil überlegen. Bei mehrlagigen Verbundteilen brauche die Beschädigung einer Lage nicht
durch weitere Lagen durchzuwachsen. Bei sachgerechter Herstellung seien Carbonräder seiner Auffassung
nach nicht gefährlicher als Metallräder. Die vom TÜV-Mainz (2003) vorgenommene Prüfung sei bezüglich der
Prüfkriterien nicht vollständig gewesen.
27 Die Beteiligten haben sich im Termin der mündlichen Verhandlung darauf verständigt, dass vom
Sachverständigen ... (TÜV-...) Prüfrichtlinien für ZFK-Motorradräder entworfen werden und dem Kläger die
beantragte Betriebserlaubnis erteilt wird, sofern dieser den Nachweis vorlegt, dass die im Streit befindlichen
Räder dem Entwurf dieser Richtlinien entsprechen.
28 Die Beteiligten haben daraufhin das Ruhen des Verfahrens beantragt.
29 Der Kläger hat am 20.03.2009 das Verfahren wieder angerufen und erklärt, dass der vom TÜV-Süd am
21.01.2009 übermittelte Prüfvorschlag ungeeignet und unverhältnismäßig sei. So habe der Kläger erfolglos
versucht, ein Prüfinstitut zu finden, das die streitbefangenen Räder anhand des Prüfvorschlags prüft. Lediglich
die TÜV-... GmbH habe ein eingeschränktes Angebot erstellt. Damit stehe fest, dass eine Prüfung der
streitbefangenen Räder des Klägers anhand des von Herrn ... unterbreiteten Prüfvorschlags nicht möglich ist.
Der Prüfvorschlag sei aus mehreren Gründen zu unbestimmt bzw. ungeeignet. Außerdem seien die
vorgeschlagenen Prüfungen, soweit sie überhaupt durchführbar seien, überwiegend mit unangemessen hohem
Material- und Kostenaufwand verbunden und damit unverhältnismäßig. Einige Prüfungen habe der Hersteller
zudem ohnehin bereits durchgeführt und bestanden.
30 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird
31 auf die beigezogenen Behördenakten sowie auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
32 Das Gericht konnte ohne (weitere) mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten damit
einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
33 Die Klage ist zulässig und begründet.
34 Der angefochtene Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 01.04.2008 ist rechtswidrig
und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Betriebserlaubnis
für sein Kraftrad MV Augusta Typ F 4102001, das mit DYMAG Fünf- Speichen Carbonrädern ausgerüstet ist (§
113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
35 Dieser Anspruch ergibt sich zwar nicht aus den nationalen Regelungen der Straßenverkehrs- Zulassungs-
Ordnung in der im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom
28.09.1988 (BGBl. I, S.1793), zuletzt geändert durch Art.3 V. vom 21.04.2009 (BGBl. I S.872) -StVZO-, und
insbesondere nicht aus § 21 StVZO (nachfolgend 1.). Der Anspruch ergibt sich vielmehr aus dem
Anwendungsvorrang des Art. 28 EG, der hier unmittelbar Anwendung findet (nachfolgend 2.).
36 1. Das Regierungspräsidium ist für die Genehmigung von Ausnahmen von den Vorschriften des Abschnittes B
der StVZO in bestimmten Einzelfällen -einen solchen hat der Beklagte hier zutreffend angenommen - sachlich
und instanziell zuständig ( § 2 Abs.2 der VO des Verkehrsministeriums über Zuständigkeiten zur Zulassung
von Fahrzeugen).
37 Ein Anspruch auf Betriebszulassung als Einzelfahrzeug nach § 21 StVZO steht dem Kläger bereits deshalb
nicht zu, weil sein Motorrad über eine EG-Betriebserlaubnis verfügt und in Deutschland (ohne die gewünschten
Carbon-Räder) für den Straßenverkehr zugelassen ist. Das Motorrad gehört daher „zu einem genehmigten Typ“
i.S.v. § 21 Abs.1 S.1 StVZO. Verliert dieser genehmigte Typ durch den Umbau einzelner Teile seine
Betriebszulassung, so unterfällt dies nicht dem Anwendungsbereich des § 21 StVZO (vgl. Dauer in
Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. § 21 Rdn.3). Der Kläger hat zudem auch nicht die für
Betriebszulassung des Motorrads als Einzelfahrzeug erforderlichen Gutachten mit der technischen
Beschreibung des Motorrads und den Ergebnissen der Prüfprotokolle (vgl. § 21 Abs. 1 und Abs. 2 StVZO)
vorgelegt.
38 2. Der Kläger hat gleichwohl einen Anspruch darauf, dass ihm auf seinen gestellten Antrag für das auf
endlosfaserverstärkte Carbon-Kunststoff-Räder umgerüstete Motorrad eine Betriebserlaubnis erteilt wird.
39 a.) Hierbei kann offen bleiben, ob die Betriebserlaubnis dem Kläger bereits deshalb neu zu erteilen ist, weil die
bisherige allgemeine EG- Betriebserlaubnis für dieses Motorrad durch die Umrüstung auf Carbon-Kunststoff-
Räder nicht erlischt. Dieses Rechtsschutzziel könnte der Kläger zwar auch mit einer Feststellungsklage
erreichen, dies steht der Zulässigkeit der von ihm erhobenen Verpflichtungsklage jedoch nicht entgegen. Denn
der Beklagte geht nach den im Verfahren abgegebenen Erklärungen davon aus, dass nach dem beabsichtigten
Umbau die für das Kraftrad erteilte EG-Betriebserlaubnis erloschen ist. Da diese Rechtsauffassung auch von
Zulassungsbehörden in anderen Bundesländern geteilt wird, besteht ein Rechtsschutzinteresse des Klägers,
für das umgebaute Kraftrad eine neue Betriebserlaubnis zu erhalten.
40 b.) Eine Betriebserlaubnis erlischt nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StVZO, wenn Änderungen vorgenommen werden,
durch die 1. die in der Betriebserlaubnis genehmigte Fahrzeugart geändert wird, 2. eine Gefährdung von
Verkehrsteilnehmern zu erwarten ist oder 3. das Abgas- oder Geräuschverhalten verschlechtert wird. Da die
Fahrzeugart (Kraftrad) durch den Umbau nicht geändert und das Abgas- oder Geräuschverhalten ersichtlich
nicht verschlechtert wird, käme allenfalls der Erlöschenstatbestand des § 19 Abs. 2 Nr. 2 StVZO in Betracht.
Hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass mit der Umrüstung des Kraftrades auf die im Streit stehenden
Carbon-Räder eine Gefährdung von Verkehrsteilnehmern zu erwarten ist, hat der Beklagte - wie noch
ausgeführt wird - nicht hinreichend dargetan. Die bloße Möglichkeit einer Gefährdung genügt seit der ab
01.01.1994 geltenden Fassung des Gesetzes nicht mehr (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. § 19 Rdn.8).
41 c.) Die Erteilung einer neuen Betriebserlaubnis wird dem Eigentümer oder sonst. Verfügungsberechtigten auf
Antrag erteilt. Sie setzt zwar grundsätzlich ein Vollgutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen
voraus. Besteht jedoch -wie hier- unstreitig kein Anlass zur Annahme der Unvorschriftsmäßigkeit des
Kraftrades im Übrigen, so wird sich die Begutachtung auf die Änderung beschränken dürfen, die zum Erlöschen
geführt hat (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, aaO, § 21 Rdn.15). Ist von der Umrüstung eine Gefährdung
der Verkehrsteilnehmer nicht zu erwarten, kann dem Eigentümer auf seinen Antrag demnach auch ohne
Vorlage eines Gutachtens eine Betriebserlaubnis erteilt werden.
42 d.) Geht man hingegen mit dem Beklagten davon aus, dass ein Erlöschengrund nach § 19 Abs. 2 Satz 2
StVZO gegeben ist, entfiele dieser vorliegend auch nicht § 19 Abs. 3 StVZO. Diese Vorschrift sieht zwar vor,
dass abweichend von Abs. 2 Satz 2 die Betriebserlaubnis nicht erlischt, wenn bei Änderungen durch Ein- oder
Anbau von Teilen 1. für diese Teile a) eine Betriebserlaubnis nach § 22 oder eine Bauartgenehmigung nach §
22a erteilt worden ist oder b) der nachträgliche Ein- oder Anbau im Rahmen einer Betriebserlaubnis oder eines
Nachtrags dazu für das Fahrzeug nach § 20 oder § 21 genehmigt worden ist und die Wirksamkeit der
Betriebserlaubnis, der Bauartgenehmigung oder der Genehmigung nicht von der Abnahme des Ein- oder
Anbaus abhängig gemacht worden ist oder 2. für diese Teile a) eine EWG-Betriebserlaubnis, eine EWG-
Bauartgenehmigung oder eine EG-Typengenehmigung nach Europäischem Gemeinschaftsrecht oder b) eine
Genehmigung nach Regelungen in der jeweiligen Fassung entsprechend dem Übereinkommen v. 20. März
1958 (BGBL.1965 II S.857) über die Annahme einheitlicher Bedingungen für die Genehmigung der
Ausrüstungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen über die gegenseitige Anerkennung der Genehmigung,
soweit diese von der Bundesrepublik Deutschland angewendet werden, erteilt worden ist.
43 Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
44 Entgegen die Rechtsauffassung des Klägervertreters kommt hier auch keine Anerkennung einer ausländischen
staatlichen Genehmigung bzw. eines Prüfzeichens nach § 21 a StVZO in Betracht.
45 Nach § 21 a Abs. 1 StVZO werden im Verfahren auf Erteilung der Betriebserlaubnis Genehmigungen und
Prüfzeichen anerkannt, die ein ausländischer Staat für Ausrüstungsgegenstände oder Fahrzeugteile oder in
Bezug auf solche Gegenstände oder Teile für bestimmte Fahrzeugtypen unter Beachtung der mit der
Bundesrepublik Deutschland vereinbarten Bedingungen erteilt hat.
46 Bei den vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen der DYMAG Racing U. K. Ltd. und DYMAG Composites Ltd.
vom 19.12.2007 handelt es sich weder um amtliche britische Genehmigungen bzw. Erlaubnisse noch um auf
Grundlage des harmonisierten EG oder ECE-Rechts für Kunstoff-/Carbonräder erteilte Genehmigungen, die
aufgrund von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft erteilt worden und daher anzuerkennen sind (§ 21 a
Abs. 1 a StVZO). Dasselbe gilt für den von der British Standards Institution (BSI) erstellten und vorgegebenen
einschlägigen technischen Standard für Räder für Motorräder. Zwar handelt es sich bei der BSI um eine
offizielle nationale Stelle in Großbritannien für die Erstellung und Festlegung technischer Standards. Hierbei
handelt es sich jedoch weder um nationale britische Genehmigungen und Prüfzeichen i.S.d. § 21 a Abs. 1 Satz
1 StVZO, noch um Genehmigungen und Prüfzeichen, die aufgrund von Rechtsakten der Europäischen
Gemeinschaften erteilt wurden oder anzuerkennen sind (§ 21 a Abs. 1 a StVZO).
47 Nach § 21 b StVZO werden im Verfahren auf Erteilung der Betriebserlaubnis Prüfungen anerkannt, die aufgrund
von harmonisierter Vorschriften nach § 19 Abs. 1 Satz 2 StVZO durchgeführt und bescheinigt worden sind.
48 Entsprechende Prüfungen bzw. Prüfrichtlinien im Sinne von § 19 StVZO gibt es jedoch bislang für
endlosfaserverstärkte Carbon-Kunststoffräder weder auf EU-Ebene, noch auf nationaler deutscher Ebene. Der
Kläger wäre daher derzeit nicht in der Lage, die notwendigen Gutachten vorzulegen, die ein Erlöschen der
Betriebserlaubnis nach nationalem Recht verhindern könnten.
49 e.) Selbst wenn man damit zur Auffassung käme, dass die dem Kläger für sein Kraftrad erteilte EG-
Betriebserlaubnis nach nationalem Recht erlöschen würde, schließt dies einen Anspruch des Klägers auf
Erteilung einer (neuen) Betriebserlaubnis für das im Tenor genannte (umgebaute) Kraftrad nicht aus. Denn eine
Versagung der Betriebserlaubnis würde vorliegend gegen Art. 28 EG, der hier unmittelbare Anwendung findet,
verstoßen.
50 Danach sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den
Mitgliedstaaten verboten.
51 Das Verbot „aller Maßnahmen gleicher Wirkung“ ist von zentraler Bedeutung für die Verwirklichung des
Binnenmarktes in der EU. Die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu diesem Verbot zeigt ein reiches
Panorama von offenen und versteckten Diskriminierungen, mit denen die Mitgliedstaaten zum Schutz des
heimischen Handels die Wareneinfuhr behindern. Der EuGH versteht den Begriff „Maßnahmen gleicher
Wirkung“ in Art. 28 EG in umfassender Weise. Danach ist „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die
geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu
behindern, als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen
(Dassonville EuGH, Rs 8/74, Slg. 1974, 837 Rn. 5). Die „Dassonville-Formel“ erfasst zunächst jegliche
Diskriminierungen eingeführter Waren gegenüber einheimischen Erzeugnissen. Die besondere Bedeutung der
Formel liegt jedoch darin, dass darüber hinaus auch diskriminierungsfreie Beschränkungen des Handelsverkehr
erfasst werden, die in- und ausländische Waren gleichermaßen treffen (vgl. Herdegen Europarecht 10. Aufl.
2008 § 16 freier Warenverkehr; Bergmann Recht und Politik der EU Anm. 492 ff.). Im hier zu entscheidenden
konkreten Fall der Verweigerung einer Betriebserlaubnis für mit Carbon Fünf- Speichenrädern ausgerüstete
Krafträder handelt es sich zwar um keine Handelsregelung, sondern um eine allgemeine Zulassungsregelung
für Kfz-Teile, die für alle Hersteller, also in- und ausländische, gleichermaßen gilt. Trotzdem handelt es sich
hier um Zulassungsbestimmungen, die den freien Warenverkehr und damit auch Absatzmöglichkeiten in
Großbritannien hergestellter und dort ohne Beschränkung zugelassener Kfz-Teile behindern. Eine unzulässige
Absatzbehinderung liegt auch dann vor, wenn keine ausdrückliche Diskriminierung bestimmter Hersteller zu
erkennen ist (vgl. „Cassis de Dijon“ EuGH Rs 120/78 Slg 1979, 649 Rn. 8 f.). Die Funktion der
Warenverkehrsfreiheit in der EU ist neben der Verwirklichung des Binnenmarktes der Abbau spezifischer
Zugangshindernisse für den grenzüberschreitenden Warenverkehr (Art. 14 Abs. 2 EG) auch das Ziel einer
möglichst gleichen Einsatzmöglichkeit der Produkte in der EU. Grundsätzlich soll jedes Produkt, das in einem
anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und dort in Verkehr gebracht worden ist, in die anderen
Mitgliedstaaten eingeführt werden und dort frei zirkulieren können.
52 Dem steht die Weigerung des Beklagten, dem Kläger die beantragte Betriebserlaubnis zu erteilen, entgegen.
Während der Kläger in Großbritannien sein mit endlosfaserverstärkten Carbonkunststoffrädern ausgestattetes
Kraftrad zulässigerweise fahren und dies sogar besuchsweise nach Deutschland mitbringen kann, wird ihm hier
ohne ausreichende Rechtsgrundlage die Erteilung einer Betriebserlaubnis versagt.
53 Das Gericht vermag auch nicht zu erkennen, dass im hier zu entscheidenden Fall die Weigerung der
Beklagten, die beantragte Betriebserlaubnis zu erteilen, durch die Ausnahmevorschrift des Art. 30 EG
gerechtfertigt ist.
54 Danach stehen die Bestimmungen der Art. 28 und 29 EG Einfuhr-, Ausfuhr und Durchfuhrverboten oder -
Beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum
Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von
künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen
Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur
willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den
Mitgliedsstaaten darstellen (Art. 30 EG).
55 Bei der Rechtfertigung von Beschränkungen des freien Warenverkehrs im Rahmen der immanenten Schranken
des Art. 28 EG oder nach Art. 30 EG spielt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine entscheidende Rolle (vgl.
Herdegen Europarecht a.a.O. § 16 freier Warenverkehr Rn. 20 f.).
56 Zwar handelt es sich bei den in der StVZO aufgestellten Voraussetzungen für die Erteilung / das Erlöschen
einer Betriebserlaubnis weder um formell, noch materiell diskriminierende Vorschriften, da diese
unterschiedslos für einheimische und eingeführte Waren gelten (vgl. Cassis de Dijon vom 20.02.1979). Trotz
alledem führen diese Bestimmungen zu einer Beschränkung des Handels und der Nutzungsmöglichkeiten für
Carbon-Kunststoffräder zwischen den Mitgliedsstaaten der EU. Diese wären nach Art. 30 EG u. a. dann
zulässig, wenn sie zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt sind.
57 Grundsätzlich ist es zunächst Sache der Mitgliedsstaaten, in den durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu
bestimmen, in welchem Umfang sie entsprechend Schutz gewähren (Streinz EUV/EGV Art. 30 Rn. 13 ff.).
Einer Ausuferung des Rechtfertigungsgrundes wird durch die Verpflichtung begegnet, das Bestehen einer
Gesundheitsgefahr objektiv zu untermauern. Dies ist der Beklagten bislang nicht gelungen. Mit entsprechenden
endlosfaserverstärkten Carbon-Kunststoffrädern ausgerüstete Motorräder sind seit Jahren in Großbritannien
und anderen Europäischen Ländern im öffentlichen Straßenverkehr und durchweg bei internationalen
Motorradrennen im Einsatz. Unfälle die auf eine fehlende Betriebssicherheit (Materialmängel,
Herstellungsmängel) zurückzuführen wären, sind dem Gericht bislang nicht bekannt und wurden vom Beklagten
auch nicht geltend gemacht. Bei Gebrauchs- und Vermarktungsbeschränkungen, die - wie hier - , auf einer
unsicheren Tatsachengrundlage dem Gesundheitsschutz dienen (sollen), ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip
von besonderer Bedeutung. Hier bindet die Verhältnismäßigkeit die zulässige Risikovorsorge an objektivierbare
Standards. Dies hat der EuGH u. a. im Verfahren um die dänischen Vermarktungsbeschränkungen für
Lebensmittel mit zugesetzten Vitaminen und Mineralstoffen deutlich gemacht (vgl. EuGH, RsC-192/01-
Kommission/Dänemark, Slg. 2003, I-9693 Rn. 45 ff.). Der EuGH verlangte für ein derartiges
Vermarkungsverbot eine Risikobewertung auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Informationen sowie
eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und der Schwere schädlicher Auswirkungen von Lebensmittelzusätzen.
58 Im hier zu entscheidenden Fall liegen aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen und Feststellungen zu den
von der Beklagten und den mit der Problematik befassten Fachausschüssen benannten Einflussgrößen wie
Temperaturverhalten, Betriebslasten, Medieneinwirkungen (UV-Strahlung, Feuchte, chemische Einwirkungen),
Erkennbarkeit von Vorschädigungen, Dauerhaltbarkeit/Altern des Materials, gleichmäßige Fertigungsqualität,
bislang nicht vor. Daher ist, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es bislang noch keine auf
endlosfaserverstärkte Carbonräder zurückzuführende Unfälle mit Personenschäden gab, in der Weigerung der
Beklagten, eine Betriebserlaubnis zu erteilen eine unverhältnismäßige Beschränkung des Art. 28 EG zu sehen.
Zwar stellt jede Teilnahme am Straßenverkehr, gerade mit schweren Krafträdern eine latente Gefahr für
Verkehrsteilnehmer dar. Dies rechtfertigt jedoch nicht, auch nicht unter dem Gesichtspunkt des
Vorsorgeprinzips, ohne wissenschaftliche Erkenntnis über konkrete Gefährdungen und Gefahren die von der
Nutzung der Carbon-Räder ausgehen, dem Kläger die beantragte Betriebserlaubnis für sein im Übrigen
vorschriftsmäßiges und mit einer EG-Betriebserlaubnis versehenes Kraftrad nur deshalb zu versagen, weil
dieses mit in Großbritannien hergestellten und dort ohne Beschränkung für diesen Motorradtyp zugelassenen
Carbon-Rädern ausgestattet wurde.
59 Der vom Sachverständigen ... nach der mündlichen Verhandlung vom 26.11.2008 vorgelegte
Prüfkriterienentwurf führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Zum einen handelt es sich hier nicht um
allgemein verbindliche von den zuständigen Fachkreisen erstellte Prüfkriterien, sondern um Vorschläge eines
Sachverständigen. Weiter sind die darin aufgestellten Verpflichtungen vom Kläger teilweise überhaupt nicht und
nur unter unverhältnismäßig hohen finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.
60 Der Versuch des Beklagten, Prüfkriterien für Carbon-Kunststoffräder zu entwickeln und aufzustellen, entbindet
diesen - wie oben dargelegt - nicht von der Verpflichtung konkrete Gefahren aufzuzeigen, die von der
Verwendung dieser Räder ausgehen und eine Nichtzulassung aus Gründen der Sicherheit für Leib und Leben
im Straßenverkehr ausnahmsweise nach Art. 30 EG rechtfertigen würden.
61 Der jahrelange problemlose, unfallfreie Einsatz in Großbritannien und Holland im öffentlichen Straßenverkehr
und bei internationalen Motorradrennen, machen derartige Nachweise wenig wahrscheinlich.
62 Es wird daher Aufgabe des europäischen und des nationalen Gesetzgebers sein, entsprechende verbindliche
internationale oder nationale Richtlinien zur Zulässigkeit von Carbon-Kunststoffrädern zu entwickeln. Die
Kammer sieht jedenfalls nach derzeitiger Rechtslage keinen Anlass, dem Kläger die beantragte
Betriebserlaubnis für sein Kraftrad MV-Augusta in Verbindung mit DYMAG Carbon Fünf- Speichenrädern zu
versagen.
63 3. Die Kostenentscheidung beruht auf §154 Abs. 1 VwGO.
64 Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 a Abs. 1 Satz 1 i.V.m.
§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).