Urteil des VG Stuttgart vom 16.01.2013

VG Stuttgart: aufschiebende wirkung, verfügung, ex nunc, firma, ex tunc, werbung, anfechtungsklage, ermessensausübung, erlass, ermächtigung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 16.1.2013, 6 S 1968/12
Leitsätze
§ 3 Abs. 4 Satz 2 LGlüG entbindet die zuständige Behörde bei glücksspielrechtlichen
Untersagungsverfügungen nicht davon, eine Ermessensentscheidung zu treffen, sondern
schränkt lediglich ihr Entschließungsermessen ein.
Tenor
Auf den Antrag der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom
27. August 2012 - 3 K 882/12 - geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der
Antragstellerin gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. April 2012
wird ab dem Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses an den Antragsgegner angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Antragstellerin betreibt die Internetseite ..., über die das - jeweils Onlineglücksspiele in
Form von Sportwetten, Casinospielen und Poker umfassende - Angebot zunächst der
Firma ..., später der Firma ... verlinkt ist.
2 Mit auf § 9 Abs. 1 Satz 2 und 3 Nr. 3 GlüStV in der bis zum 30.06.2012 gültigen Fassung
(im Folgenden: GlüStV a.F.) gestützten Verfügung vom 11.04.2012 untersagte das
Regierungspräsidium Karlsruhe der Antragstellerin jegliche Werbung in Baden-
Württemberg für unerlaubtes Glücksspiel, insbesondere für die Firma ..., gab ihr auf,
bereits begonnene Werbemaßnahmen einzustellen (Ziff. 1 der Verfügung) und die
Einstellung der Werbetätigkeiten dem Regierungspräsidium Karlsruhe schriftlich
mitzuteilen (Ziff. 2). Für den Fall, dass die Antragstellerin dieser Verpflichtung bis zwei
Wochen nach Bekanntgabe der Verfügung nicht nachgekommen sein sollte, wurde ein
Zwangsgeld in Höhe von 10.000,-- EUR angedroht (Ziff. 3).
3 Zur Begründung wurde ausgeführt, gemäß § 5 Abs. 4 GlüStV a.F. sei Werbung für
unerlaubtes Glücksspiel verboten. § 5 Abs. 3 GlüStV a.F. verbiete jegliche Werbung im
Internet für Glücksspiel. Hiergegen verstoße die Antragstellerin durch die Verwendung des
verlinkten Internetlogos der Firma ... Die Firma ... verfüge über keine Erlaubnis für die
Veranstaltung bzw. Vermittlung von Sportwetten und anderen Glücksspielen in Baden-
Württemberg. Der Erteilung einer solchen Erlaubnis stehe das staatliche
Glücksspielmonopol entgegen. Unabhängig davon könne eine Erlaubnis u.a. deshalb
nicht erteilt werden, weil die Firma ... ihre Glücksspiele unter Verstoß gegen § 4 Abs. 4
GlüStV a.F. über das Internet anbiete.
4 Die Antragstellerin hat hiergegen Klage vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe erhoben (3
K 881/12) und beantragt, die aufschiebende Wirkung dieser Klage gegen die kraft
Gesetzes sofort vollziehbare Verfügung anzuordnen. Mit Beschluss vom 27.08.2012 hat
das Verwaltungsgericht diesen Antrag abgelehnt. Hiergegen wendet sich die
Antragstellerin mit der vorliegenden Beschwerde.
5 Die Antragstellerin hat auf Anfrage mitgeteilt, dass sie Vollstreckungsschutz nur ex nunc
begehrt.
II.
6 Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts hat Erfolg. Die von der Antragstellerin in der Beschwerdebegründung
fristgemäß (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat
grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO), geben dem Senat Anlass, den
angefochtenen Beschluss zu ändern und auf den Antrag der Antragstellerin die
aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom
11.04.2012 im tenorierten Umfang anzuordnen.
7 Der Senat kann dabei seiner Prüfung ausschließlich die Rechtslage ab Inkrafttreten des
Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags zum 01.07.2012 (Gesetz zu dem Ersten
Glücksspieländerungsstaatsvertrag (Erster Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrags
zum Glücksspielwesen in Deutschland) und zu dem Staatsvertrag über die Gründung der
GKL Gemeinsame Klassenlotterie der Länder vom 26.06.2012, GBl. 2012 S. 385 in
Verbindung mit der Bekanntmachung des Staatsministeriums über das Inkrafttreten des
Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags vom 10.07.2012, GBl. 2012 S. 515, im
Folgenden: GlüStV n.F.) zugrundelegen. Zwar kommt es für die Entscheidung im
Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO maßgeblich auf die Erfolgsaussichten der von der
Antragstellerin erhobenen Klage an, deren Gegenstand die einen Dauerverwaltungsakt
darstellende Verfügung des Antragsgegners vom 11.04.2012 im gesamten Zeitraum seit
ihrem Erlass ist, nachdem die Antragstellerin bislang ihren Klageantrag nicht zeitlich
begrenzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.01.2012 - 8 B 62/11 -, NVwZ 2012, 510).
Die angefochtene Verfügung trifft auch eine unbefristete Regelung, die selbst für den Fall
einer Änderung der Sach- und Rechtslage Fortgeltung beansprucht (vgl. BVerwG,
Beschlüsse vom 17.10.2012 - 8 B 61-63/12 -, juris). Ihre Rechtmäßigkeit bestimmt sich
dabei nach der Sach- und Rechtslage zum jeweiligen Zeitpunkt innerhalb des
Wirksamkeitszeitraums und kann daher zeitabschnittsweise geprüft und beurteilt werden
(BVerwG, a.a.O.). Die Antragstellerin macht aber Vollstreckungsschutz nach § 80 Abs. 5
VwGO im Beschwerdeverfahren ausdrücklich nur für die Zukunft geltend, so dass in
diesem Verfahren auch nur die Erfolgsaussichten der von der Antragstellerin erhobenen
Klage ex nunc und damit unter Zugrundelegung des Ersten
Glücksspieländerungsstaatsvertrags zu beurteilen sind. Es bedarf vor diesem Hintergrund
auch keiner Entscheidung, ob die Wirkungen des vorliegenden Beschlusses, der
grundsätzlich ex tunc wirken würde, in zeitlicher Hinsicht auch deshalb auf den Zeitpunkt
seiner Zustellung an den Antragsgegner zu beschränken sind, weil von der angefochtenen
Verfügung für die Vergangenheit keine der Antragstellerin nachteiligen Rechtswirkungen
mehr ausgehen, sich die Anfechtungsklage mithin insofern erledigt haben könnte und es
deshalb insoweit schon am Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtungsklage fehlen würde
oder ob solche Rechtswirkungen noch bestehen und diese auch die rückwirkende
Anordnung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigen würden, vorausgesetzt die - für den
Zeitraum vor dem 01.07.2012 am Maßstab des alten Glücksspielstaatsvertrages zu
messende - angefochtene Verfügung würde sich auch für diesen Zeitraum als rechtswidrig
erweisen (vgl. zum Ganzen Senatsbeschluss vom 19.11.2012 - 6 S 342/12 -, juris ).
8 Jedenfalls für den hier entscheidungserheblichen Zeitraum wird die Anfechtungsklage der
Antragstellerin voraussichtlich Erfolg haben.
9 Die angegriffene Verfügung erweist sich dabei - ohne zeitliche Einschränkung - bereits
insofern als ermessensfehlerhaft, als mit ihr Werbung für nicht von der Firma ...
angebotenes unerlaubtes Glücksspiel untersagt wurde bzw. deren Einstellung verlangt
wurde. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV a.F. kann der Antragsgegner die erforderlichen
Anordnungen zur Erfüllung der nach dem Glücksspielstaatsvertrag begründeten
Verpflichtungen erlassen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin bei
Erlass der angefochtenen Verfügung beabsichtigt hatte, Werbung für andere Anbieter zu
machen, hat der Antragsgegner nicht ermittelt. Sie sind auch nicht ersichtlich gewesen.
Damit hat der Antragsgegner aber insofern sein Entschließungsermessen entgegen dem
Zweck der gesetzlichen Ermächtigung (§ 114 Satz 1 VwGO) ausgeübt; denn es bestand
bereits kein Anlass für ein behördliches Einschreiten (vgl. Senat, a.a.O.).
10 Soweit sich die angefochtene Verfügung auf Werbemaßnahmen für die Firma ... bezieht,
erweist sie sich jedenfalls für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum als
ermessensfehlerhaft, weil die Ermessenserwägungen der veränderten Rechtslage auf
Grund des Inkrafttretens des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags nicht Rechnung
tragen. Die angefochtene Verfügung trifft, wie bereits ausgeführt, eine unbefristete
Regelung, die auch für den vorliegenden Fall einer Änderung der Rechtslage Fortgeltung
beansprucht. Ihre Rechtmäßigkeit bestimmt sich dabei nach der Rechtslage zum
jeweiligen Zeitpunkt innerhalb des Wirksamkeitszeitraums und kann daher
zeitabschnittsweise geprüft und beurteilt werden. Liegt wie hier eine
Ermessensentscheidung vor und ändert sich der rechtliche Rahmen für die untersagten
Tätigkeiten, muss die Untersagungsverfügung in ihren Erwägungen zum Ermessen, das
sich am gesetzlichen Zweck der Ermächtigung zu orientieren hat (§ 114 Satz 1 VwGO),
die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen, um (weiterhin)
rechtmäßig zu sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 8 C 2.10 -, NVwZ 2011, 1328).
Hieran fehlt es. Die Berücksichtigung der veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen
könnte - was vorliegend aber nicht erfolgt ist - im Rahmen der Ermessenserwägungen
dadurch geschehen, dass gesetzliche Änderungen einschlägiger materiell-rechtlicher
Vorschriften bereits im Entwurfsstadium als ermessensrelevante Gesichtspunkte
berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17.10.2012 - 8 B 61-63/12 -, a.a.O.).
Ob auch das (spätere) Nachschieben und Ersetzen von Ermessenserwägungen mit Blick
auf die geänderte Rechtslage verwaltungsverfahrensrechtlich möglich ist und im
Verwaltungsprozess berücksichtigt werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung (vgl.
dazu BVerwG, a.a.O.). Denn entsprechende, tragfähige Erwägungen hat der
Antragsgegner auch nachträglich nicht angestellt (s. dazu Senat, a.a.O.; vgl. auch Senat,
Beschluss vom 10.12.2012 - 3335/11 -, juris).
11 Die angefochtene Verfügung trägt darüber hinaus auch der Veränderung der Sachlage
nicht Rechnung. Denn die Antragstellerin unterhält unstreitig keine Vertragsbeziehungen
zur Firma ... mehr.
12 Ginge man demgegenüber davon aus, dass der Antragsgegner zulässigerweise einen von
ihm angenommenen konkreten Verstoß gegen glücksspielrechtliche Vorschriften zum
Anlass nehmen dürfte, entsprechendes Fehlverhalten allgemein - und damit insoweit nur
die Gesetzeslage wiederholend - zu untersagen, ergäbe sich kein anderes Ergebnis. Die
Verfügung würde dann zwar auch und in rechtmäßiger Weise die Werbung der
Antragstellerin für die Firma ... umfassen. Der Antragsgegner hätte aber auch dann weder
der veränderten Rechtslage noch der veränderten Sachlage Rechnung getragen. Er hätte
insbesondere das Angebot der Firma ... nicht am Maßstab des Ersten
Glücksspieländerungsvertrags geprüft.
13 Soweit der Antragsgegner unter Berufung auf § 3 Abs. 4 Satz 2 LGlüG
(Landesglücksspielgesetz vom 20.11.2012, GBl. , S. 604), wonach die zuständige
Behörde u.a. die Werbung für unerlaubtes Glücksspiel untersagen soll, geltend macht, ein
Ermessen verbleibe ihr damit nur in atypischen Fällen, vorliegend sei aber ein
Standardfall gegeben, weshalb die Behörde keinen Ermessensspielraum habe und der
angegriffenen Verfügung damit nicht entgegengehalten werden könne, sie leide an einem
Ermessensfehler, weil sie die veränderte Sach- und Rechtslage nicht berücksichtige, greift
dies nicht durch. § 3 Abs. 4 Satz 2 LGlüG entbindet die zuständige Behörde bei auf § 9
Abs. 1 Satz 2 und 3 GlüStV (der eine Ermessensentscheidung vorsieht) gestützten
Verfügungen nicht davon, eine Ermessensentscheidung zu treffen, sondern schränkt
lediglich ihr Entschließungsermessen ein. Die gerichtlich voll überprüfbare Einordnung als
Standardfall ist Teil der Ermessensausübung (vgl. zum Ganzen Kopp/Ramsauer, VwVfG,
12. Aufl. m, § 40 Rn. 41 ff.). Ist wie hier die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung
zeitabschnittsweise zu beurteilen und ändert sich die Sach- und Rechtslage, stellt sich
auch die Frage nach der Atypik neu.
14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
15 Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
16 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).