Urteil des VG Stuttgart vom 24.07.2013

VG Stuttgart: afghanistan, emrk, gefahr, bundesamt, abschiebung, gewalt, familie, unmenschliche behandlung, egmr, gefährdung

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 24.7.2013, A 11 S 697/13
Leitsätze
Eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG stellt einen anderweitigen Schutz im
Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung dar, der
gemäß § 73 Abs. 3 zum Widerruf einer entsprechenden Feststellung führt.
Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht
mehr vorliegen, eröffnet nach Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4
AufenthG nicht die Möglichkeit des Widerrufs dieses Aufenthaltstitels. § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5
AufenthG erfasst ausschließlich die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.
§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass dem Betroffenen im Falle der
Abschiebung im Zielgebiet eine erhebliche individuelle Gefahr der Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK kommt infolge im Zielgebiet herrschender allgemeiner /
willkürlicher Gewalt (auch im Falle eines bewaffneten Konflikts), wenn individuelle
gefahrerhöhende Umstände fehlen, nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Situation dann
ausnahmsweise in Betracht, wenn diese durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet
ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet
einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.
Schlechte humanitäre Verhältnisse können dann eine "Behandlung" im Sinne des Art. 3 EMRK
sein, wenn diese ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien
eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die
dem Staat zurechenbar sind, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten
kann oder will, beruhen. Ganz außerordentliche individuelle Umstände müssen dagegen
hinzutreten, um schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet, wenn diese nicht
überwiegend auf Handlungen der genannten Akteure zurückzuführen sind, als "Behandlung" im
Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. Februar
2013 - A 6 K 2928/12 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen die Aufhebung ihres Bescheids, mit
dem sie die zugunsten des Klägers getroffene Feststellung des Vorliegens eines
Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG widerrufen hat.
2 Der Kläger wurde am ...1975 in Pa... geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und
tadschikischer Volkszugehöriger. Er reiste nach seinen Angaben am 09.09.2000 mit dem
Flugzeug nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, wobei er unter anderem
angab, er habe zuletzt in Kabul gelebt, sei verheiratet und habe einen 2 ½-jährigen Sohn.
Ehefrau und Sohn habe er seit seiner Inhaftierung im Jahre 1999 nicht mehr gesehen. Sie
hielten sich, ebenso wie seine Eltern, vermutlich in Kabul auf. Das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
lehnte mit Bescheid vom 16.06.2003 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab
und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Die daraufhin erhobene Klage
wies das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 09.11.2004 - A 6 K 1264/03 - ab.
3 Der Kläger stellte im August 2006 einen Folgeantrag und machte geltend, es gebe ein
neues Beweismittel, das nunmehr eine akute Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60
neues Beweismittel, das nunmehr eine akute Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60
Abs. 7 AufenthG begründe. Der Kläger erhob am 21.12.2006 Untätigkeitsklage, mit
welcher er die Verpflichtung der Beklagten begehrte, festzustellen, dass
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen. Mit Bescheid vom
18.01.2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Durchführung eines
weiteren Asylverfahrens (Nr. 1 der Verfügung) und den Antrag auf Änderung des
Bescheids vom 16.06.2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 des
Ausländergesetzes (Nr. 2 der Verfügung) ab. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hob durch
Urteil vom 23.01.2007 - A 6 K 1908/06 - Nr. 2 dieses Bescheids auf und verpflichtete die
Beklagte zu der Feststellung, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. In den Gründen wurde hierzu im
Wesentlichen ausgeführt, der Kläger gehöre der Gruppe an, die bei einer Rückkehr nach
Afghanistan das Existenzminimum nicht finden könne und für die daher akute Gefahr für
Leib und Leben bestehe. Bei ihm bestehe die Besonderheit, dass er in Afghanistan nach
seinen glaubhaften Angaben niemanden mehr habe. Er habe auch keine ausreichenden
finanziellen Mittel zur Verfügung. Die Existenz in seinem Heimatland sei landesweit nicht
sichergestellt. Bei einer Abschiebung nach Kabul wäre er einer lebensbedrohenden
Situation ausgesetzt. Ihm sei daher in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren.
4 Den Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen diese Entscheidung lehnte
der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch Beschluss vom 15.02.2007 ab.
5 Daraufhin stellte das Bundesamt durch Bescheid vom 21.02.2007 fest, dass das
Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliege; im
Übrigen lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vor. Zur
Begründung verwies das Bundesamt auf seine gerichtliche Verpflichtung, das
Abschiebungsverbot festzustellen.
6 Am 19.04.2007 wurde dem Kläger von der Ausländerbehörde (Stadt Stuttgart) eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG befristet bis zum 18.04.2009 erteilt.
7 Am 03.08.2007 heiratete der Kläger in Kabul Frau H. G.
8 Mit Schreiben vom 18.11.2008 teilte die Ausländerbehörde dem Bundesamt mit, dass der
Kläger anlässlich seiner Eheschließung habe in sein Heimatland reisen können. Es werde
daher um Prüfung gebeten, ob ein Widerrufsverfahren eingeleitet werden könne.
9 Am 15.07.2009 wurde die Aufenthaltserlaubnis des Klägers nach § 25 Abs. 3 AufenthG bis
zum 14.07.2011 verlängert.
10 Das Bundesamt informierte den Kläger mit Schreiben vom 29.01.2010 über die Prüfung
des Widerrufs und stellte ihm hierzu Fragen bezüglich seiner Eheschließung sowie des
Aufenthalts und der Sicherstellung des Lebensunterhalts seiner Ehefrau. Mit Fax vom
11.02.2010 ließ der Kläger vortragen, er habe seine Ehefrau am 03.08.2007 in Kabul
geheiratet. Diese stamme aus Pa... Ein schneller Nachzug der Ehefrau sei mangels
deutscher Sprachkenntnisse bisher nicht möglich gewesen. Er sei, wenn er sich recht
erinnere, zwischen dem 15.07. und 15.08.2007 während der Eheschließung in
Afghanistan gewesen. Seine Ehefrau sei derzeit immer noch in Afghanistan; er schicke ihr
von Deutschland aus seit 2007 Geld, damit sie ein Auskommen habe. Sie habe dort sonst
niemanden.
11 Nachdem die Ausländerbehörde telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie im Falle eines
unanfechtbaren Widerrufs die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen prüfen
werde, leitete das Bundesamt am 12.05.2010 ein Widerrufsverfahren ein und hörte den
Kläger hierzu durch Schreiben vom 24.06.2010 an.
12 Am 28.06.2010 gab der Kläger u.a. an, seine Ehefrau sei auf die regelmäßigen
finanziellen Überweisungen aus Deutschland angewiesen. Er habe in Afghanistan
niemanden, der ihn unterstützen könne. Weiterhin wurden auf die schwierige
Sicherheitslage in Afghanistan und insbesondere Kampfhandlungen in Kabul
hingewiesen und hierzu Zeitungsberichte vorgelegt. Am 30.06.2010 wurde zudem geltend
gemacht, dass er nun im Falle der Rückkehr auch für seine Ehefrau aufkommen müsse,
deren Familie dies von ihm erwarte und von der sie keine Hilfe erhalten würden.
13 Am 01.12.2010 wurde dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4
AufenthG erteilt.
14 Nach Angaben des Klägers reiste seine Ehefrau im Jahre 2011 ins Bundesgebiet ein. Hier
wurden am 25.03.2011 bzw. 18.03.2012 eine Tochter und ein Sohn geboren.
15 Die Ehefrau erhielt ab 02.02.2012 eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 30
AufenthG.
16 Mit Bescheid vom 06.08.2012 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die
mit Bescheid vom 21.02.2007 getroffene Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Im Übrigen stellte es fest, dass Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 2 bis 7 Satz 2 und Abs. 5 AufenthG nicht vorlägen. Zur Begründung führte
es aus, der Kläger sei seit 01.12.2010 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26
Abs. 4 AufenthG. Rechtsgrundlage für den Widerruf sei § 73 Abs. 3 AsylVfG. Die
Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG lägen nicht mehr vor. Die Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung
sehenden Auges in den Tod geschickt würde, sei inzwischen nicht mehr gegeben. Er
verfüge über eine Niederlassungserlaubnis. Schon deshalb bedürfe er nicht mehr des
Schutzes eines Abschiebungsverbotes. Auch sei davon auszugehen, dass sich die
Versorgungslage für Männer im arbeitsfähigen Alter verbessert habe, weil sich am
Arbeitsmarkt positive Tendenzen entwickelt hätten. Auf das Urteil des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27.04.2012 - A 11 S 3079/11 - werde
verwiesen. Die Änderung in den Verhältnissen des Klägers sei darin zu sehen, dass er
seit Jahren berufstätig und in der Bundesrepublik Deutschland nicht von öffentlichen
Mitteln abhängig sei. Er sei zudem in der Lage, seine Ehefrau finanziell zu unterstützen.
Auch sei er in der Lage, daneben noch Urlaubsreisen zu unternehmen, wie sich aus der
Stellungnahme seines Bevollmächtigten vom 28.06.2010 ergebe. Daher könne unterstellt
werden, dass er auf Grund des langen Aufenthalts in Deutschland inzwischen über einen
finanziellen Rückhalt verfüge, der bei einer Rückkehr nach Afghanistan seinen
Lebensunterhalt für die notwendige Übergangszeit, bis er dort auch wirtschaftlich Fuß
gefasst habe, sichern würde. Europarechtliche Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis
7 Satz 2 AufenthG lägen nicht vor.
17 Am 04.09.2012 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und
geltend gemacht, der Widerruf sei verfristet. Hilfsweise werde die Verwirkung des
Widerrufsrechts eingewandt. Zwischen der Bestandskraft des positiven Bescheides und
der Einleitung des Widerrufsverfahrens lägen mehr als drei Jahre, während sich aus § 73
Abs. 4 AsylVfG ergebe, dass nicht nur im Falle keiner Äußerung, sondern erst recht im
Falle einer Äußerung nach Aktenlage zu entscheiden sei. Die Beklagte sei dieser
Verpflichtung nicht nachgekommen, so dass sie auf das Anhörungsverfahren nicht
zurückgreifen könne und der Bescheid schon mangels erneuter Anhörung wegen
Verletzung des § 73 Abs. 4 AsylVfG rechtswidrig sei. Zur weiteren Begründung wurde
ergänzt, dass der Kläger kein alleinstehender junger Mann mehr sei, sondern verheiratet
und Vater von zwei, am 25.03.2011 bzw. 18.03.2012 geborenen, Kleinkindern. Bei einer
Rückkehr nach Afghanistan hätte er mit seiner Familie keine Existenzmöglichkeit.
18 Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
19 Das Verwaltungsgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 05.02.2013
angehört. Dort hat er angegeben, er sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Er habe
früher vollschichtig gearbeitet und habe für sich aufkommen können. Seiner Frau habe er
Geld geschickt. Zurzeit arbeite er nur noch zwei Stunden täglich, weil er einen
Deutschkurs besuche. Er wolle sich in Deutschland besser integrieren. Er erhalte
Leistungen vom Jobcenter. Seine Ehefrau sei seit 2011 in Deutschland. Sie hätten zwei
Kinder. Er sei im Wesentlichen gesund. Er sei nach Afghanistan zurück gereist, weil sein
Vater schwer krank gewesen sei. Das habe er hier erfahren. Sein Vater habe Krebs
gehabt, er sei inzwischen gestorben. Als er, der Kläger, in Afghanistan gewesen sei, habe
sein Vater ihm empfohlen, er solle die Frau heiraten. Sein Vater habe die Frau
ausgesucht. Beim ersten Mal habe er seinen Vater besucht und geheiratet. 2011 sei er
zum zweiten Mal in Afghanistan gewesen. Da habe er seine Frau abgeholt. Insgesamt sei
er dreimal in Afghanistan gewesen. 2011 sei sein Vater gestorben. Seine ersten beiden
Aufenthalte hätten etwa einen Monat gedauert, der dritte Aufenthalt nur zwei Wochen. Er
sei in Kabul gewesen, wo auch sein Vater sich aufgehalten habe. Seine Frau habe bei
seinem Vater gelebt, bis er sie abgeholt habe. In Afghanistan würde er allein dastehen. Er
kenne dort niemanden.
20 Mit Urteil vom 05.02.2013 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 06.08.2012 aufgehoben und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen
beim Kläger immer noch vor. Bei dem Kläger - einem Ehemann mit Frau und zwei kleinen
Kindern - lägen individuelle Faktoren vor, die ausnahmsweise mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage begründeten. Hierbei sei von einer
gemeinsamen Rückkehr des Klägers mit den Familienangehörigen auszugehen, da er in
Deutschland mit der Familie zusammenlebe und die Familienangehörigen auch nicht als
politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genössen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.09.1999 - 9
C 12/99 - juris). Wenn es schon für alleinstehende, gesunde junge Männer äußerst
schwierig sei, in Kabul zu existieren, dann sei es für eine Familie mit zwei kleinen Kindern
nahezu unmöglich; darauf habe das Gericht nach Auswertung der Erkenntnisquellen
bereits in früheren Urteilen hingewiesen. Aus den aktuellen Erkenntnisquellen ergebe sich
nichts Anderes. So schreibe die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrem Update vom
03.09.2012 auf Seite 19 ff., Afghanistan gehöre noch immer zu den ärmsten Ländern der
Welt. Die Arbeitslosenrate betrage geschätzte 36 bis 40 Prozent. Die
Wohnraumknappheit, vor allem auch in Kabul, gehöre zu den gravierendsten sozialen
Problemen in Afghanistan. Rund 70 % der Bevölkerung seien von Lebensmittelknappheit
betroffen, und in weiten Teilen des Landes bestünde keine ausreichende medizinische
Versorgung. Die Familien- und Gemeindestruktur bilde in Afghanistan auch heute noch
das wichtigste Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben. Ohne dieses Netz sei
ein Überleben kaum möglich. Allein in Kabul würden über 30.000 Personen in etwa 40
informellen Siedlungen leben. Sie seien nicht nur praktisch schutzlos
Menschenrechtsverletzungen und erneuter Vertreibung ausgesetzt, sondern hätten oft
kaum Zugang zu Trinkwasser, litten an Lebensmittelknappheit oder -unsicherheit,
Arbeitslosigkeit und verfügten kaum über sanitäre Einrichtungen und Elektrizität.
21 Das Gericht habe keine Zweifel an der Richtigkeit dieser sehr eingehenden
gutachterlichen Stellungnahme und sehe daher beim Kläger, der kein Netzwerk in
Afghanistan habe, hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass er mit seiner Familie im Falle
der Abschiebung nach Afghanistan schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen zu
erwarten habe. Die Möglichkeit, wenigstens ein kümmerliches Einkommen für seine
Familie durch Gelegenheitsarbeiten zu erzielen, bestehe realistischerweise nicht.
Nennenswerte Ersparnisse habe er in Deutschland nicht bilden können, wie er glaubhaft
angegeben habe. Dafür spreche auch, dass er zurzeit lediglich zwei Stunden täglich
arbeite und Sozialhilfeleistungen beziehe. Hinzukomme fehlender Wohnraum. Zwar habe
die Ehefrau des Klägers nach dessen Angaben beim Vater des Klägers in Kabul gelebt,
bevor der Kläger sie abgeholt habe. Da der Vater aber gestorben sei, bestehe diese
Möglichkeit nicht mehr. Indiz dafür, dass er in Kabul überleben können würde, seien auch
nicht seine drei Besuche in Afghanistan in den letzten Jahren. Es sei zwar befremdlich,
dass er so oft in sein Heimatland gereist sei, obwohl er Abschiebungsschutz genieße. Er
habe sich aber jeweils nur besuchsweise und nur für kurze Zeit dort aufgehalten. Dies sei
etwas anderes als die Rückkehr auf Dauer. Schließlich bestehe immer noch ein Bedürfnis
für das Weiterbestehen des Abschiebungsverbots, obwohl der Kläger im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis sei. Dieser Aufenthaltstitel würde nämlich unter den
Voraussetzungen des § 52 AufenthG widerrufen werden, falls das Abschiebungsverbot
nicht mehr bestehen würde. Daher habe das durch Bescheid vom 21.02.2007 festgestellte
Abschiebungsverbot nicht widerrufen werden dürfen (Nr. 1 des Bescheides vom
06.08.2012). Mithin habe es auch an einem Anlass gefehlt, das Nichtvorliegen weiterer
Abschiebungsverbote festzustellen (Nr. 2 des Bescheides). Dies führe zur Aufhebung des
gesamten Bescheides.
22 Die Beklagte hat am 08.03.2013 die Zulassung der Berufung gegen dieses ihr am
12.02.2013 zugestellte Urteil beantragt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen,
es liege der Zulassungsgrund der Divergenz vor.
23 Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 04.04.2013 zugelassen und ausgeführt,
dass das angegriffene Urteil vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.07.2001 -
1 C 5.01 - abweiche und auch darauf beruhe.
24 Am 18.04.2013 hat die Beklagte den Berufungsantrag gestellt und ihre zugelassene
Berufung begründet. Sie hat geltend gemacht, das Verwaltungsgericht, das ein nationales
Abschiebungsverbot aus einer allgemeinen Gefahrenlage i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG hergeleitet habe, hätte nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung schon
aufgrund der Schutzwirkung des nach wie vor nicht widerrufenen Aufenthaltstitels nicht
von einer die Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG
rechtfertigenden Schutzlücke ausgehen und dementsprechend aus der allgemeinen
Gefahrenlage keinen Anspruch auf ein Abschiebungsverbot auf Grundlage von § 60 Abs.
7 Satz 1 AufenthG zugunsten des Klägers herleiten dürfen. Sonstige tragfähige Gründe für
ein Vorliegen der Anspruchsgrundlage nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG
seien nicht erkennbar. Das Verwaltungsgericht habe zunächst angenommen, dass beim
Kläger als Ehemann mit Frau und zwei kleinen Kindern besondere individuelle
Verhältnisse vorlägen, die eine extreme Gefahrenlage ausnahmsweise begründeten. Es
sei dann aber auch davon ausgegangen, dass der Kläger, obwohl er im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis sei, auch immer noch des Weiterbestehens des
Abschiebungsverbots bedürfe, weil dieser Aufenthaltstitel unter den Voraussetzungen des
§ 52 AufenthG widerrufen werde, falls das Abschiebungsverbot nicht mehr bestünde.
Mithin fehle es auch am Anlass für die unter Ziffer 2 durch die Beklagte getroffene
Feststellung. Mit diesen Ausführungen lege das Verwaltungsgericht Stuttgart i.S.d. § 78
Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG im Widerspruch zur gefestigten höchstrichterlichen Spruchpraxis
entscheidungstragend den Rechtssatz zugrunde, eine die Überwindung der Sperrwirkung
des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG rechtfertigende Schutzlücke bestehe auch dann, wenn
der Ausländer im Besitz eines Aufenthaltstitels sei. Denn nach gefestigter
höchstrichterlicher Rechtsprechung fehle es an einer solchen Schutzlücke bereits dann,
wenn der Ausländer über einen anderweitigen, asylverfahrensunabhängigen Status
verfüge, der in seiner Schutzwirkung dem gleichkomme, der mit einem Erlass i.S.d. § 60a
Abs. 1 AufenthG verbunden wäre. Bereits eine erteilte Duldung erfülle diese
Voraussetzungen, so dass schon dann der Anspruch auf Abschiebungsschutz in
verfassungskonformer Anwendung demgegenüber nachrangig und damit abzulehnen sei
(vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 5.01). Dies gelte umso mehr, wenn der
Ausländer nicht nur im Besitz einer bloßen Duldung, sondern - vorliegend - eines
unbefristeten Aufenthaltstitels in Form der Niederlassungserlaubnis sei. Dies gelte
ersichtlich auch dann, wenn diese Niederlassungserlaubnis im maßgeblichen Zeitpunkt
nun gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG widerruflich geworden sein möge. Das
Bundesverwaltungsgericht habe in seiner diesbezüglichen Spruchpraxis weder
ausdrücklich noch anderweitig erkennbar einen unanfechtbaren oder anderweitig
bestandsgesichert zuerkannten Aufenthaltstitel gefordert, sondern stets auf dessen
(faktische) Schutzwirkung abgestellt. Selbst für den Fall eines - vorliegend im Übrigen
nicht festgestellten - Widerrufs durch die Ausländerbehörde und der erst nach
Unanfechtbarkeit des Aufhebungsbescheids der Beklagten eröffneten Möglichkeit zur
Einleitung eines Widerrufsverfahrens durch die Ausländerbehörde würde die
Schutzwirkung der erteilten Niederlassungserlaubnis bis zu deren unanfechtbarer
Aufhebung andauern.
25 Ergänzend hat die Beklagte ihre Berufung damit begründet, dass sich seit dem
maßgeblichen Zeitpunkt für das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 23.01.2007 (A 6 K
1908/06) sowohl die allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan wie die des Klägers in einer
Weise verändert hätten, dass auch in tatsächlicher Hinsicht vom Wegfall der relevanten
Gründe für die damalige gerichtliche Verpflichtungsentscheidung auszugehen sei. So
stelle sich nicht nur die Gesamtversorgungslage im Land sichtlich günstiger dar (vgl. z.B.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 28.10.2009, vom 27.07.2010, vom 09.02.2011, vom
10.01.2012). Auch der Senat sei in seiner Spruchpraxis zum Ergebnis gelangt, dass nun
eine Verbesserung der allgemeinen Versorgungslage - jedenfalls für das Gebiet Kabul -
festzustellen sei (vgl. z.B. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.03.2012 - A 11 S 2769/11 -).
Insbesondere die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme habe sich aber allem Anschein nach
grundlegend verändert. Die Quellen berichteten zur Wirtschaftslage bzw. den
ökonomischen Rahmenbedingungen nicht bloß über positive Tendenzen oder davon,
dass mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen 6 und 8 Prozent zu
rechnen sei. Vielmehr zeige sich seit einiger Zeit das Phänomen, dass zunehmend
Arbeiter aus Bangladesch, Iran und Pakistan nach Afghanistan kämen, weil dort höhere
Gehälter gezahlt würden (vgl. dazu z.B. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.06.2013).
Bei diesen werde es sich in aller Regel um Personen handeln, für die in Afghanistan -
jedenfalls zunächst - nicht einmal ein familiär oder tribal aufnahmebereites Umfeld
vorhanden sei. Auch wenn die in allen entsprechenden Berichten als enorm hoch
beschriebene Arbeitslosigkeit und die weiteren Erschwernisfaktoren für eine
Arbeitsaufnahme in Rechnung zu stellen blieben wie zudem der Umstand, dass es nach
den Mitteilungen etwa des Auswärtigen Amtes (a.a.O.) an einer politischen Strategie zur
Schaffung von Arbeitsplätzen fehle, die z.B. auch das Phänomen dieser Arbeitsmigration
aus anderen Staaten berücksichtige, könne jedoch nach den so berichteten tatsächlichen
Gegebenheiten inzwischen nicht mehr regelmäßig als ausgeschlossen gelten, dass ein
Rückkehrer Arbeit finde, wenn in zunehmendem Ausmaß sogar aus anderen Ländern
Arbeitswillige mit dem anscheinend erfolgreichen Bestreben um Beschäftigung
zuwanderten. Es sei nicht zu verkennen, dass sich die Situation für einen Rückkehrer in
vielerlei Hinsicht keineswegs einfach zeige, etwa auch die Versorgung mit Wohnraum zu
angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor als schwierig bezeichnet werde.
Insoweit blieben allerdings nicht allein die staatlichen Bemühungen wie die des
Ministeriums für Flüchtlinge und Rückkehrer um Ansiedlung Zurückkehrender in
Neubausiedlungen zu bedenken. Vielmehr gehe es in rechtlicher Hinsicht insoweit um
den festzustellenden Grad der alsbaldigen extremen Gefährdung nach Rückkehr. Das
Fehlen einer Unterkunft werde in einer Gesamtbetrachtung nicht unbeachtet bleiben
dürfen, habe aber nicht zwangsläufig den alsbald nach Rückkehr zu erwartenden Tod
oder eine dem nahe kommende schwerste Gesundheitsbeeinträchtigung zur Folge.
Ungeachtet dessen hätten sich vorliegend die persönlichen Umstände des Klägers zum
einen durch seine Heirat verändert. Ihm stehe damit ein aufnahmebereites familiäres
Umfeld offen, die allgemeinen Schwierigkeiten der Versorgung mit Wohnraum seien für
ihn nicht mehr erkennbar gegeben. Zum anderen komme vorliegend hinzu, dass es dem
Kläger ersichtlich gelungen sei, in einem Umfang finanzielle Möglichkeiten zu
erschließen, da er ausweislich etwa der Mitteilungen seines Bevollmächtigten vom
11.02.2010 seit Jahren in der Lage gewesen sei, seiner in Afghanistan lebenden Ehefrau
mit kontinuierlichen Geldüberweisungen den Lebensunterhalt zu finanzieren. Nach dieser
persönlichen Entwicklung erweise er sich somit nicht mehr als der Gruppe von
Rückkehrern zurechenbar, die das VG Stuttgart noch mit seinem Urteil vom 23.01.2007
(a.a.O.) im Blick gehabt habe.
26 Für die Beurteilung, ob bei Rückkehr eine extreme Gefahrenlage bestehe, die eine
26 Für die Beurteilung, ob bei Rückkehr eine extreme Gefahrenlage bestehe, die eine
Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG rechtfertige, könne es
dabei allein darauf ankommen, wie sich in tatsächlicher Hinsicht die Situation des jeweils
Einzelnen für seine Person darstelle. Dabei seien aus sittlichen und vergleichbaren,
jedoch nicht unausweichlichen Gründen bestehende Beschränkungen der eigenen
Leistungsfähigkeit zur Abwendung einer etwaigen Extremgefahr, wie etwa die Erfüllung
von Unterhaltspflichten Dritten gegenüber, nicht einzubeziehen. Unabhängig hiervon sei
nicht ersichtlich, weshalb der Kläger nicht in der Lage sein sollte, das Nötige zur
Vermeidung einer nach Rückkehr alsbaldig extremen Gefährdung für sich (und seine
Ehefrau) sicherzustellen. Originäre Gründe für das nationale Abschiebungsverbot nach
den Anspruchsgrundlagen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG seien nach wie
vor nicht erkennbar.
27 Die Beklagte beantragt,
28 das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 05.02.2013 - A 6 K 2928/12 - zu ändern
und die Klage abzuweisen.
29 Der Kläger beantragt,
30 die Berufung zurückzuweisen.
31 Der Kläger vertritt die Auffassung, die Darlegungen der Beklagten seien in sich
widersprüchlich. Danach könnte das Bundesamt, welches entweder verpflichtet worden
sei, ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, oder aber dieses
Abschiebeverbot von sich aus feststelle, nur einige Monate abwarten, bis diese Person im
Besitz einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG wäre, um
sofort daraufhin den Bescheid zu widerrufen, da nun keine Schutzlücke mehr bestehen
würde. Daraufhin müsste wieder ein Wiederaufnahmeantrag gestellt werden, wobei dies
ein Prozedere darstelle, welches für diesen Rechtsstaat unwürdig sei, so dass im
vorliegenden Fall davon ausgegangen werden müsse, dass in diesen Fällen ein Widerruf
verwirkt bzw. sittenwidrig sei. Andernfalls würde auch ein entsprechendes
Verpflichtungsurteil eines Gerichts der Beklagten gegenüber "ad absurdum" geführt
werden.
32 Im Übrigen gehe es hier allenfalls bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG um die Frage des
gleichwertigen Abschiebeschutzes, wobei aber hier auch über das Abschiebungsverbot
des § 60 Abs. 5 AufenthG zu entscheiden sei. Eine individuelle Gefahr für Leib und Leben
bzw. die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auch durch nicht-
staatliche Akteure liege insoweit vor. Der Kläger sei verheiratet und habe zwei
Kleinkinder. Da diese besonders schutzbedürftige Familie keine Existenzmöglichkeit in
Kabul habe, sei sie Gefahren ausgesetzt, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden
Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen seien, so dass bezüglich der
gesamten Familie und auch des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG
vorlägen. Diese Behandlung beziehe sich natürlich auch auf die gesamten Übergriffe aller
in Afghanistan Kämpfenden gegenüber der Zivilbevölkerung. Im Übrigen sei davon
auszugehen, dass - sollte ein anderes Abschiebungsverbot vorliegen - der Widerruf nicht
berechtigt sei und damit der gesamte Bescheid aufzuheben sei, ohne dass es einer
besonderen Verpflichtung oder gar eines Verpflichtungsantrages bedürfe.
33 Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 24.07.2013 angehört. Er erklärte
u.a., er arbeite als Bestuhler in der L... in S... und habe noch einen Nebenjob als
Gebäudereiniger. In Afghanistan habe er bis zur 9. Klasse die allgemeine Schule besucht
und danach den technischen Zweig für eine Schlosserausbildung. Die Schule habe er
ohne Abschluss verlassen und von Gelegenheitsarbeiten z.B. Taxifahren gelebt. Er habe
drei Jahre in Kabul Militärdienst bei der Jamiat-i Islāmi geleistet, bis die Taliban
gekommen seien. Dann seien sie geflüchtet. Auf Vorhalt, dass er beim Bundesamt
angegeben habe, dass er an der juristischen Fakultät studiert habe, erklärte der Kläger, es
habe sich um ein Abendstudium an der Universität von Kabul gehandelt, das er wegen
des Krieges nicht habe abschließen können. Auf weiteren Vorhalt, dass er beim
Bundesamt angegeben habe, er habe keinen Militärdienst geleistet, gab er an, bei seiner
Tätigkeit für die Jamiat-i Islāmi habe es sich um einen Quasi-Militärdienst gehandelt. Auf
Frage, was aus seiner ersten Frau und seinem damals 2 1/2 Jahre alten Sohn geworden
sei, die er nach seinen Angaben in Afghanistan zurückgelassen hätte, antwortete der
Kläger, seine Frau sei im Jahr 2003 oder 2004 gestorben. Sie hätten sich ohnehin
während des Krieges aus den Augen verloren und keine Verbindung mehr gehabt. Auf
Nachfrage erklärte er weiter, der Sohn sei mit den Großeltern, den Eltern der Frau, aus
Kabul weggezogen. Auf die Frage, ob er vor seiner Ausreise noch mit seiner Frau
zusammengelebt habe, gab er an, er sei noch zusammen mit seiner Frau in den Norden
gegangen. Nachdem er von den Taliban festgenommen worden sei, habe er keinen
Kontakt mehr zu seiner Frau gehabt. Von ihrem Tod habe er von der Verwandtschaft bzw.
Bekanntschaft gehört. Auf Nachfrage, ob diese seine Anschrift bzw. Telefonnummer in
Deutschland gehabt hätte, erklärte er, er habe es von denen erfahren, die später selbst
nach Deutschland gekommen seien. Seine Eltern hätten Afghanistan verlassen gehabt.
Sie seien inzwischen beide verstorben. Der Vater habe zuletzt in Kabul gewohnt. Zuvor
seien die Eltern in den Norden gegangen gewesen. Nach dem Tod der Mutter sei der
Vater nach Kabul zurückgekehrt. Er sei 2011 gestorben. Auf die Frage, wie er seine jetzige
Ehefrau kennengelernt habe, gab der Kläger an, er sei 2007 nach Afghanistan gefahren.
Sein Vater habe für ihn die Frau gefunden. Er habe in Afghanistan gleich geheiratet. Vater
und Mutter der Frau lebten in Kabul. Der Vater sei Angestellter der städtischen
Transportgesellschaft. Er sei 56 oder 57 Jahre alt. Seine Ehefrau sei 2011 nach
Deutschland gekommen. Sie sei damals schwanger gewesen. Er sei zuvor im Jahre 2010
nochmals in Afghanistan gewesen. Bevor sie nachgekommen sei, habe er ihr monatlich
etwa 200 EUR geschickt, was nur für ihren Unterhalt gereicht habe. Sie habe bei seinem
Vater gewohnt, der ein kleines Ladengeschäft betrieben habe. Dieser habe auch seine
Medikamente aus eigenen Mitteln finanziert.
34 Der Bevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung hilfsweise beantragt,
zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung oder Rückkehr
nach Afghanistan sowie seine Ehefrau und seine beiden Kleinkinder, die ihren Aufenthalt
vom Kläger ableiten, in eine Lage kommen, die einer unmenschlichen und erniedrigenden
Behandlung durch die dortigen afghanischen Behörden gleichkommt, indem sie in
Flüchtlingslagern untergebracht würden, in denen absolut katastrophale Verhältnisse
herrschen, in denen absolut menschenunwürdige Verhältnisse in jeglicher Beziehung
vorherrschen, sei es die Gesundheitsversorgung, sei es die Hygiene, seien es die
sanitären Einrichtungen, sei es die Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten oder sei es
die Ernährung, sodass dies einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im
Sinne des Art. 3 EMRK gleichkommt und damit die unmenschliche und erniedrigende
Behandlung mit einer Gefahr für Leib und Leben einhergeht, dies auch eindeutig gegen
die Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
verstößt, ein Gutachten von Herrn Dr. Danesch einzuholen.
35 Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus der Gerichtsakte
sowie den Verfahrensakten des Bundesamts und des Ausländeramts. Dem Senat liegen
des Weiteren die Akte des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Verfahren A 6 K 2928/12 vor.
Die beigezogenen Akten und die Erkenntnisquellen, die in der den Beteiligten
übersandten Liste aufgeführt sind, waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
36 Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die Begründung des
Zulassungsantrags ergänzend begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -NVwZ 2006, S.
1420 m.w.N.) der Beklagten hat Erfolg.
37 Die Berufung der Beklagten wendet sich gegen die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 06.08.2012 durch das
Urteil des Verwaltungsgerichts. Das mit dem Anfechtungsantrag im Klageverfahren erfolgreich verfolgte Begehren des Klägers
war auf die Aufhebung des auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufs in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids gerichtet (A.).
Das Bundesamt hat in dem angegriffenen Bescheid vom 06.08.2012 eine weitere Entscheidung in Ziffer 2 der Verfügung
getroffen und darin das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG verneint. Auch insoweit wurde
der Bescheid des Bundesamts mit dem von der Beklagten angegriffenen Urteil aufgehoben (B.).
38 Die Berufung ist insgesamt begründet.
A.
39 Dem Anfechtungsbegehren gegen den Widerruf (Ziffer 1 des Bescheids) hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht stattgegeben
und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.08.2012 insoweit aufgehoben. Denn der Widerruf ist
rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
I.
40 Die Entscheidung ist nicht wegen Verstößen gegen Verfahrensrecht aufzuheben.
41 Zunächst bedurfte es trotz der Dauer des Widerrufsverfahrens vor der abschließenden Entscheidung keiner erneuten
Anhörung. Mit der ersten Anhörung war der Kläger über den beabsichtigten Widerruf unterrichtet worden. Es ist weder aus den
Akten zu entnehmen noch vorgetragen, dass das Bundesamt zu irgendeinem Zeitpunkt vor Erlass des streitgegenständlichen
Bescheids seine Absicht geändert und dem Kläger zu erkennen gegeben hätte, dass es das Verfahren einstellen werde. Damit
wäre es aber Sache des Klägers gewesen, sich Gehör zu verschaffen und aus seiner Sicht relevante Änderungen seiner
Verhältnisse in dem laufenden Verfahren, von dem er Kenntnis hatte, ohne erneute Aufforderung vorzutragen. Dies wird durch §
71 VwGO bestätigt, der auch bei Durchführung eines Widerspruchsverfahrens eine weitere Pflicht zur Anhörung vor Erlass des
Widerspruchsbescheids nur für den Fall einer Verschlechterung vorschreibt.
42 Schließlich scheidet bei gebundenen Verwaltungsakten, wie dem Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG, auch regelmäßig die
rechtliche Relevanz eines Verfahrensfehlers für die inhaltliche Sachentscheidung aus (vgl. § 46 VwVfG; BVerwG, Beschluss
vom 19.05.1999 - 8 B 61.99 - NVwZ 1999, S. 1218 ff. - zur Festsetzung eines Ablösebetrages gemäß §§ 18 ff. VermG - m.w.N.).
43 Es liegt auch die vom Kläger geltend gemachte „Verfristung“ nicht vor. Denn für die vorliegende Widerrufsentscheidung greift
eine Ausschlussfrist nicht ein. Unabhängig von der Frage, ob es auf einen Widerruf der Feststellung eines
Abschiebungsverbots nach § 73 Abs. 3 AsylVfG anwendbar ist, dient das Gebot des unverzüglichen Widerrufs gemäß § 73
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG jedenfalls ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte
des betroffenen Ausländers verletzt (st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteile vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 - und vom 18.08.2006 - 1 C
15.06 - juris). Entsprechendes gilt für die vom Kläger genannte Vorschrift des § 73 Abs. 4 Satz 3 AsylVfG, die eine
Entscheidung nach Aktenlage vorsieht, wenn sich der Ausländer nicht innerhalb der Monatsfrist schriftlich äußert. Die
Regelung geht zurück auf das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrensgesetzes vom 26.06.1992 und sollte das
Widerrufsverfahren vereinfachen. Es sollte künftig auf eine persönliche Anhörung verzichtet werden können und dem
Ausländer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben werden (vgl. BT-Drucks. 12/2062 S. 39). Diese Bestimmung
gibt für die nach Aktenlage zu treffende Entscheidung zudem keine Frist vor und ist hier auch deswegen nicht anwendbar, weil
sich der Kläger innerhalb der Monatsfrist geäußert hat und sich die Beklagte dementsprechend mit seinem Vortrag
auseinandersetzen musste und auseinandergesetzt hat. Soweit der Kläger meint, in solchen Fällen müsse erst Recht nach
Aktenlage entschieden werden, lässt sich dies nicht nachvollziehen.
44 Auf Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG findet auch die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4
VwVfG keine Anwendung, da § 73 Abs. 3 AsylVfG den Widerruf spezialgesetzlich ohne zeitliche Begrenzung als zwingende
Rechtsfolge im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen vorschreibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 24.10 -
NVwZ 2012, S. 451 ff.). Es gibt keinen allgemeinen Rechtsgedanken, der auf eine absolute zeitliche Grenze hinausläuft, nach
deren Erreichen ein rechtswidriger Bescheid nicht mehr zurückgenommen bzw. widerrufen werden darf. Weiterhin kann nicht
über eine analoge Anwendung dem § 48 Abs. 4 VwVfG doch die zuvor abgesprochene Geltung verschafft werden. Die
Behörde ist - gerade weil sie keinen Ermessensspielraum hat - allerdings gehalten, so schnell wie möglich tätig zu werden;
daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass sie nicht mehr gesetzmäßig handeln darf, wenn sie diesen optimalen
Zeitpunkt verpasst hat (BVerwG, Beschluss vom 04.08.1993 - 3 B 7.93 - NVwZ-RR 1994, S. 388 m.w.N.; zur Verwirkung vgl.
unten).
II.
45 Der Widerruf ist auch materiell rechtmäßig.
46 Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen,
ohne jede Beschränkung zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (vgl. Renner, AuslR, 9. Aufl., § 73
AsylVfG Rn. 20). Sind die Voraussetzungen für das konkret festgestellte - wie hier - nationale Abschiebungsverbot entfallen, ist
allerdings auch zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht (vgl. BVerwG, Urteile vom
29.09.2011 - 10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 Rn. 16 f. und vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris).
47 Für die Frage, ob eine Veränderung eingetreten ist, aufgrund derer die Voraussetzungen für den festgestellten
Abschiebungsschutz nicht mehr gegeben sind, ist, wenn die Feststellung - wie hier - in Erfüllung eines rechtskräftigen
Verpflichtungsurteils ergangen ist, der Vergleich mit der Situation im Zeitpunkt des Ergehens des rechtskräftig gewordenen
Verpflichtungsurteils maßgeblich (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.09.2000 - 9 C 12.00 - InfAuslR 2001, S. 53 f.). Soweit eine
Veränderung dieser Verhältnisse vorliegt, steht auch die Rechtskraft des Verpflichtungsurteils dem Widerruf nicht entgegen
(BVerwG, Urteil vom 22.11.2011 - 10 C 29.10 - AuAS 2012, S. 42 ff.).
48 Der dem Kläger gewährte nationale Abschiebungsschutz war nach diesen Grundsätzen zu widerrufen, weil die
Voraussetzungen für die Feststellung des Abschiebungsverbots aufgrund einer Änderung der Sachlage nach dem 23.01.2007
im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) entfallen waren (1.) und auch
keine anderen nationalen Abschiebungsverbote (§ 60 Abs. 5 AufenthG und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in unmittelbarer
Anwendung) vorliegen (2. und 3.).
49 1. Für die Frage, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des ursprünglich gewährten Abschiebungsschutzes aufgrund
einer hier allein Betracht kommenden Änderung der Sachlage entfallen sind, kommt es darauf an, ob die
Erteilungsvoraussetzungen aufgrund dieser Änderung im nun maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr erfüllt sind, d.h. das konkrete
Abschiebungsverbot im für den Widerruf maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht festzustellen ist.
Dies ergibt sich aus der grundsätzlichen Symmetrie der Erteilungsvoraussetzungen eines begünstigenden Verwaltungsakts
und deren Entfallen als eine Voraussetzung des Widerrufs (vgl. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 VwVfG, die den Widerruf
zulassen, wenn die Behörde aufgrund einer Änderung der Sach- oder Rechtslage „berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht
zu erlassen“; zur der grundsätzlichen Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und den Widerruf hinsichtlich der
Flüchtlingseigenschaft - vgl. BVerwG, Urteil vom 22.11.2011 - 10 C 29.10 - AuAS 2012, S. 42 ff. m.w.N. - nun auch hinsichtlich
des Prognosemaßstabs - vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - juris; zum Widerruf der Asylanerkennung wegen
Änderung der Rechtslage vgl. BVerwG, Urteil vom 07.07.2011 - 10 C 26.10 - ZAR 2012, S. 76 ff.; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C
10.11 - ZAR 2012, S. 391 f.; vgl. im Einzelnen zur Auslegung von § 73 Abs. 3 AsylVfG unten).
50 a) Der widerrufene Bescheid vom 21.02.2007 war in Ausführung des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 23.01.2007
ergangen, mit dem die Beklagte aufgrund verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG
verpflichtet worden war, ein entsprechendes Abschiebungsverbot aufgrund allgemeiner Gefahren festzustellen. Unabhängig
davon, ob damals die Voraussetzungen zur Feststellung dieses Abschiebungsverbots vorlagen, ist danach durch die Erteilung
einer Niederlassungserlaubnis eine wesentliche Änderung der Sachlage eingetreten, die dazu führt, dass diese
Voraussetzungen jedenfalls jetzt aufgrund dieser Änderung nicht mehr vorliegen.
51 aa) Eine konkret-individuelle Gefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - die vorrangig zu prüfen und festzustellen
gewesen wäre - lag der Feststellung nicht zugrunde. Ob es sich bei der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60
Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung um ein eigenständiges Abschiebungsverbot handelt oder
insoweit nur die Voraussetzungen für die Feststellung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verfassungskonform modifiziert
werden, kann offenbleiben, da nun von der Unteilbarkeit des nationalen Abschiebungsschutzes insgesamt auszugehen ist und
daher für den Widerruf eines nationalen Abschiebungsschutzes immer zugleich die Prüfung des Vorliegens aller übrigen
Tatbestände zu erfolgen hat (vgl. unten 2. und 3.).
52 bb) Damit setzt der Widerruf zunächst voraus, dass die Feststellungsvoraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung
von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht mehr vorliegen.
53 Die Feststellung eines solchen Abschiebungsschutzes in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3
AufenthG (früher § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) erfordert stets sowohl das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage als auch das
Nichtbestehen von anderweitigem gleichwertigen Abschiebungsschutz (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 -
InfAuslR 2002, S. 48 ff. zur verfassungskonformen Anwendung von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990). Denn die Sperrwirkung des
§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG dürfen das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte nur durchbrechen, wenn der Ausländer im
Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er „gleichsam sehenden
Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ würde (st. Rspr. des BVerwG, s. Urteile vom 29.09.2011 -
10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff., vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 und vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 - BVerwGE
102, 249 zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG), um eine mit Verfassungsrecht unvereinbare Abschiebung zu
verhindern. Dieses ist aber nur dann geboten, wenn der einzelne Asylbewerber sonst gänzlich schutzlos bliebe, d.h. wenn
seine Abschiebung in den gefährlichen Zielstaat ohne Eingreifen des Bundesamts oder der Verwaltungsgerichte tatsächlich
vollzogen würde. Mit Rücksicht auf das gesetzliche Schutzkonzept ist eine Durchbrechung aber auch dann zulässig, wenn der
Abschiebung zwar anderweitige Hindernisse entgegenstehen, diese aber keinen gleichwertigen Schutz bieten (BVerwG, Urteil
vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 - InfAuslR 2002, S. 48 ff. zur verfassungskonformen Anwendung von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
1990).
54 Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 12.07.2001 (1 C 2.01 - a.a.O.) zur damaligen Rechtslage dargelegt,
dass der anderweitige Schutz nur gleichwertig ist, wenn er dem entspricht, den der Ausländer bei Vorliegen eines Erlasses
nach § 54 AuslG hätte oder den er bei Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erreichen könnte. Es hat in der zitierten
Entscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 - a.a.O.) zur damaligen Rechtslage weiter ausgeführt, dass
gleichwertiger Schutz auch dann besteht, wenn der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits im Besitz einer
Aufenthaltsgenehmigung als eines weiterreichenden Titels zum legalen Aufenthalt ist.
55 Diese Grundsätze für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung gelten in gleicher
Weise für den seit 2005 geltenden § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 AufenthG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.08.2006 - 1 B
60.06 (1 C 21.06) - juris). Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass es für den vergleichbar wirksamen
Schutz weiterhin nur auf die Schutzwirkung der Duldung bzw. eines Erlasses (jetzt nach § 60a Abs. 1 und 2 AufenthG) im
Hinblick auf eine drohende Abschiebung ankomme. Die durch das Aufenthaltsgesetz eingeführte bessere aufenthaltsrechtliche
Stellung des Betroffenen bei Bestehen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG,
die im Regelfall zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG führe und ggf. später eine noch
weitergehende Verfestigung des Aufenthalts zur Folge haben könne, gehöre nicht zu dem verfassungsrechtlich mit Rücksicht
auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG gebotenen Schutz vor Abschiebung in eine unmittelbar drohende extreme
Gefahrensituation (BVerwG, Beschluss vom 23.08.2006 - 1 B 60.06 (1 C 21.06) - und Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -
juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht eine die verfassungskonforme Auslegung
rechtfertigende Schutzlücke z.B. bereits dann nicht, wenn das in § 58 Abs. 1a AufenthG enthaltene Vollstreckungshindernis
eingreift (BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris) oder der Schutzsuchende die Feststellung eines
unionsrechtlichen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann (BVerwG, Urteil vom
29.06.2010 - 10 C 10.09 - InfAuslR 2010, S. 458 ff. und vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris, auch wenn ein nachträglich
entstandener Anspruch nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG den Widerruf nicht rechtfertigen soll, vgl. dazu BVerwG, Urteil vom
29.09.2011 - 10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff. sowie unten).
56 Auf die zusätzlichen Vorteile aus der weitreichenden Bindungswirkung der Bundesamtsentscheidung kommt es für die Frage
der Gleichwertigkeit nicht an; diese Regelungen dienen nicht dem Interesse des Asylbewerbers, sondern ausschließlich der
Bewältigung der Zuständigkeitsaufteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörden (BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C
2.01 - InfAuslR 2002, S. 48 ff., S. 48 ff. und vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris).
57 b) Die dargestellten Voraussetzungen für die ursprüngliche Feststellung liegen hier aufgrund einer maßgeblichen Änderung der
Sachlage nicht mehr vor. Offen bleiben kann insoweit, ob für den Kläger im Falle seiner Rückkehr mit seiner Familie
gegenwärtig in Afghanistan landesweit eine extrem zugespitzte allgemeine Gefahr besteht (vgl. hierzu unten A. II. 2. b). Denn
eine einschränkende Auslegung des § 73 Abs. 3 AsylVfG dahingehend, dass grundsätzlich oder beschränkt auf den Widerruf
eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung immer - auch - eine
beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Zielstaat für den Widerruf erforderlich ist, scheidet aus (aa).
Dementsprechend liegen die Widerrufsvoraussetzungen schon deshalb vor, weil der Kläger in Form der
Niederlassungserlaubnis nun - auch unter Berücksichtigung der abgeschwächten Bedeutung der Subsidiarität des
Abschiebungsverbots im Rahmen des Widerrufsverfahrens - im Besitz eines anderweitigen gleichwertigen Schutzes ist (bb).
58 aa) Für eine einschränkende Auslegung des § 73 Abs. 3 AsylVfG dahingehend, dass für den Widerruf grundsätzlich eine
beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Zielstaat erforderlich und ausreichend (vgl. aber BVerwG, Urteil
vom 29.09.2011 - 10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff.) ist, lässt sich dem Wortlaut nichts entnehmen. Auch aus der
Entstehungsgeschichte ergeben sich für eine solche Auslegung keine Anhaltspunkte. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz
zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126) in das Asylverfahrensgesetz eingefügt. Gleichzeitig
wurde in Absatz 1, der im Übrigen § 16 Abs. 1 des damals geltenden AsylVfG entsprach, - wohl im Anschluss an das Urteil des
Bundesverwaltungsgericht vom 25.06.1991 (9 C 48.91 - NVwZ 1992, S. 269 ff.) - klargestellt, dass die Widerrufstatbestände
auch Anwendung finden, wenn einem Ausländer nach § 26 AsylVfG (Familienasyl) die Rechtsstellung eines Asylberechtigten
gewährt wurde (vgl. BT-Drucks. 12/2062, S. 39). Nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG a.F. bzw. § 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG in der
heute geltenden Fassung war bzw. ist in diesen Fällen die Anerkennung als Asylberechtigter ferner zu widerrufen, wenn die
Anerkennung des Asylberechtigten, von dem die Anerkennung abgeleitet worden ist, erlischt, widerrufen oder
zurückgenommen wird und der Ausländer aus anderen Gründen nicht als Asylbewerber anerkannt werden könnte. Diese
Ergänzung macht deutlich, dass auch ein Widerruf nach dem Asylverfahrensgesetz nicht schon grundsätzlich - unabhängig von
den jeweiligen Erteilungsvoraussetzungen - immer (allein oder kumulativ) Änderungen der Verhältnisse im Zielstaat fordert.
59 § 73 Abs. 3 AsylVfG kann auch nicht aus systematischen Gründen eine solche Einschränkung auf zielstaatsbezogene
Änderungen entnommen werden. Vielmehr spricht für die grundsätzliche Möglichkeit des Widerrufs der dort genannten
Abschiebungsverbote auch wegen einer Verfestigung des Aufenthalts im Aufnahmestaat, dass es für die Feststellungen nach §
60 Abs. 2 bis 7 AufenthG für Fälle, in denen der Schutzsuchende z.B. aufgrund der Erlangung einer anderen
Staatsangehörigkeit anderweitigen Schutz erhält, an einer § 72 AsylVfG ähnlichen Erlöschensregelung fehlt (auch eine
analoge Anwendung ist nicht zulässig, vgl. Hailbronner, AuslR, § 72 AsylVfG Rn. 5; Renner, AuslR, 9. Aufl., § 73 AsylVfG Rn.
20, § 72 AsylVfG Rn. 2), die dem Flüchtling, die Rechtsstellung entzieht, wenn er ihrer u.a. aus Gründen anderweitigen
Schutzes nicht mehr bedarf (vgl. § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG; BT-Drucks. 9/875, S. 18 zu § 10 AsylVfG a.F.). Entsprechendes gilt
für das Erlöschen gemäß Art. 16 Richtlinie 2004/83/EG (nunmehr 2011/95/EU, im Folgenden: QRL) im Hinblick auf
unionsrechtlich begründeten subsidiären Abschiebungsschutz. Insoweit wird ein bereits bestehender Schutz - ebenfalls anders
als bei der Flüchtlingseigenschaft (Art. 12 Abs. 1, zur Aberkennung wegen Ausschlussgründen vgl. Art. 14 Abs. 3 lit. a QRL,
zum Erlöschen vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. c QRL) - nicht im Rahmen des Ausschlusses bzw. als spezieller Erlöschensgrund
berücksichtigt, weshalb davon auszugehen ist, dass das Fehlen eines nationalen oder internationalen Schutzes im Sinne des
Art. 12 QRL bereits Voraussetzung für die Anerkennung als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 18 QRL hat,
ist, mit der Folge, dass eine entsprechende nachträgliche Schutzgewährung zum Erlöschen (Art. 16 Abs. 1 QRL) und damit zur
Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung des subsidiären Schutzstatus nach Art. 19 Abs. 1 QRL führt.
Auch der Fall des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, die die Anwendung asyl- bzw. ausländerrechtlichen
Bestimmungen ausschließt, macht deutlich, dass grundsätzlich nicht nur zielstaatsbezogene Änderungen, sondern auch die
Verfestigung des Aufenthalts im Aufnahmestaat für den Wegfall des Schutzstatus im Wege des Widerrufs, durch Erlöschen
bzw. durch Erledigung (zur Erledigung der Asylanerkennung vgl. Hailbronner, a.a.O., § 72 AsylVfG Rn. 19) führen kann.
60 Schließlich ist auch nach Sinn und Zweck der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG keine - der dargelegten Symmetrie
der Erteilungs- und Widerrufsvoraussetzungen widersprechende - einschränkende Auslegung dahingehend geboten, dass ein
in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG festgestelltes Abschiebungsverbot nur widerrufen
werden kann, wenn die der Feststellung zugrunde liegende Gefahr nicht mehr besteht. Vielmehr ist es verfassungsrechtlich
unbedenklich, die Feststellung eines solchen Abschiebungsverbot auch dann zu widerrufen, wenn inzwischen der gebotene
Abschiebungsschutz anderweitig, in einer dem aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgenden Mindestschutz gleichwertigen Form,
z.B. durch die Einbeziehung in eine spätere ausländerpolitische Entscheidung, gewährleistet ist.
61 Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht insoweit entschieden, dass die sich daraus, dass ein Abschiebungsverbot in
verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nur festgestellt werden darf, wenn für den
Schutzsuchenden ansonsten eine Schutzlücke bestünde, ergebende Subsidiarität dieses Abschiebungsverbots im Falle des
Widerrufs nicht das gleiche Gewicht habe. Die Voraussetzungen für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots einerseits
und den Widerruf andererseits seien deshalb insoweit nicht vollends deckungsgleich (BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 - 10 C
24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff.). So reiche für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3
AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein der Umstand nicht aus, dass für den Betroffenen deswegen keine
verfassungswidrige Schutzlücke mehr besteht, weil er nunmehr unionsrechtlichen Abschiebungsschutz z.B. gemäß § 60 Abs. 7
Satz 2 AufenthG beanspruchen kann oder die Abschiebung nachträglich durch Ländererlass gemäß § 60a AufenthG
vorübergehend ausgesetzt wird (BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff.).
62 Hiervon ausgehend würden allerdings vor allgemeinen Gefahren Schutzsuchende, denen ausnahmsweise in Durchbrechung
der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung zu einem Zeitpunkt, in dem eine Schutzlücke bestand,
Abschiebungsschutz gewährt wurde, auf Dauer gegenüber denjenigen besser gestellt, die in der gesetzlich vorgesehenen
Weise Schutz auf der Grundlage einer Anordnung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG erhalten. Ihnen könnte der unter
Durchbrechung der Sperrwirkung gewährte Schutz nicht mehr entzogen werden, um sie in eine spätere ausländerpolitische
Entscheidung einzubeziehen. Ob dies im Hinblick auf Sinn und Zweck der Regelung und der Wertung der §§ 72, 73 und § 73a
AsylVfG gerechtfertigt ist, kann im vorliegenden Fall offen bleiben.
63 bb) Der Kläger ist in Form der Niederlassungserlaubnis nun - auch unter Berücksichtigung der abgeschwächten Bedeutung der
Subsidiarität des Abschiebungsverbots im Rahmen des Widerrufsverfahrens - im Besitz eines anderweitigen gleichwertigen
Schutzes.
64 Bei der Frage, wann bzw. welcher nachträglich gewährte Schutz den Widerruf rechtfertigt, ist neben der - ggf. modifizierten (vgl.
BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 24.10 - NVwZ 2012, S. 451 ff.) - Gleichwertigkeit insbesondere maßgeblich, ob es sich
um anderweitigen Schutz handelt. Insbesondere akzessorische Duldungen und Aufenthaltstitel bieten keinen anderweitigen
Schutz und lassen dementsprechend die Erteilungsvoraussetzungen nicht entfallen. Ein Widerruf aufgrund nachträglich erteilter
Duldungen oder Aufenthaltstitel kommt deshalb nur in Betracht, wenn diese, wie regelmäßig bereits im Zeitpunkt der
Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer
Anwendung erteilte Duldungen und Aufenthaltstitel, auf einem von der - fortgeltenden - Feststellung des Bestehens eines
Abschiebungsverbots unabhängigen Anspruch beruhen. Duldungen und Aufenthaltstitel, die aufgrund der die
Ausländerbehörde nach § 42 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG bindenden Entscheidung des Bundesamts zu erteilen waren, dienen
dagegen unmittelbar der aufgrund des festgestellten Abschiebungsverbots gebotenen Schutzgewährung. Für die aufgrund
eines festgestellten Abschiebungsverbots erteilte Duldung ergibt sich dies daraus, dass sie gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1
AufenthG nur solange zu erteilen ist, wie dieses rechtliche Abschiebungshindernis besteht. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25
Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann im Falle des Widerrufs der Feststellung des Abschiebungsverbots selbst widerrufen (§ 52 Abs. 1
Nr. 5 lit. a AufenthG) oder befristet werden und darf nicht mehr verlängert (§ 26 Abs. 2 AufenthG) werden.
65 Ein anderweitiger Schutz kann aber aufgrund eines nur noch mittelbar aus der ursprünglichen Feststellung des
Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung abgeleiteten Aufenthaltstitels
dann bestehen, wenn sich das Aufenthaltsrecht in einer zweckun-abhängigen Weise verselbständigt und verfestigt hat. Einen
solchen Aufenthaltsstatus vermittelt eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Diese knüpft mit der
erforderlichen Dauer des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes nur noch mittelbar
an das Bestehen des Abschiebungsverbots an, während die übrigen Erteilungsvoraussetzungen den allgemeinen
Erteilungsvoraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis entsprechen und keinen Bezug mehr zu einem fortbestehenden
Abschiebungsschutz haben.
66 Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht oder nicht mehr vorliegen, eröffnet
nach Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG auch nicht die Möglichkeit des Widerrufs dieses
Aufenthaltstitels. § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG erfasst ausschließlich die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1
AufenthG. Die Regelung war in § 52 Satz 1 AufenthG ergänzt worden, um bei einem Wegfall des Abschiebungsschutzes nach
§ 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG den Aufenthaltstitel entziehen zu können (vgl. BT-Drucks. 16/5065, S. 181; vgl. auch unten).
Sie bezieht sich auf den Wegfall der Regelerteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG und fordert im
Hinblick auf § 25 Abs. 3 AufenthG zunächst eine ausdrückliche nachträgliche Feststellung, dass die Voraussetzungen des Satz
1 nicht - mehr - vorliegen bzw. eine Feststellung des Bundesamts aufgehoben oder unwirksam wird oder dass
Ausschlussgründe im Sinne des Satzes 2 a bis d erfüllt wurden. Sie ist damit speziell auf § 25 Abs. 3 AufenthG abgestimmt (vgl.
Hailbronner, AuslR, § 52 Rn. 36 ff.; Möller, in HK-AuslR § 52 Rn. 21 ff.) und lässt sich nicht auf andere - nach Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG - erteilte Aufenthaltstitel anwenden. Dies gilt insbesondere für die
Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG, deren Erteilung das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen keiner der in § 52
Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG genannten Tatbestände voraussetzt. Auch für die analoge Anwendung von § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr.
4 AufenthG, der den Widerruf der bei Bestehen und Fortbestehen der Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling
zwingend zu erteilenden Aufenthaltstitel bei Wegfall dieser Voraussetzung regelt und schon vor Ergänzung der Nr. 5 nicht auf
den Wegfall von Abschiebungsverboten anwendbar war (vgl. Stiegeler, Widerruf - und dann?, Asylmagazin 9/2006, S. 3 [8];
Schäfer, in GK-AufenthG, Stand: Febr. 2007, § 52 AufenthG Rn. 83; vgl. Hailbronner a.a.O., Rn. 36), ist - nun erst recht - kein
Raum.
67 Hat die Behörde ihr Ermessen zugunsten eines Schutzsuchenden ausgeübt und ihm eine Niederlassungserlaubnis gemäß §
26 Abs. 4 AufenthG erteilt, eröffnet der Widerruf dieser Feststellung damit nicht das Ermessen für den Widerruf dieses
Aufenthaltstitels. Deshalb kann es auch nicht zu der vom Kläger befürchteten rechtstaatlich in der Tat bedenklichen
Konsequenz einer sich perpetuierenden Abfolge des Widerrufs der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach Erteilung
eines Aufenthaltstitels, des Widerrufs des Aufenthaltstitels, des Wiederaufgreifens des Verfahrens beim Bundesamt mit erneuter
Feststellung des Abschiebungsverbots, die dann erneut widerrufen werden müsste, sobald der hieraus folgende Aufenthaltstitel
erteilt wäre, kommen.
68 Jedenfalls ein solcher selbständiger und unbefristeter Aufenthaltstitel stellt einen anderweitigen Schutz dar, der die
Aufrechterhaltung der Feststellung des Abschiebungsverbots nicht mehr erforderlich macht. Nur wenn dieser Aufenthaltstitel -
nach den allgemeinen Vorschriften des § 52 AufenthG - jemals widerrufen oder der Ausländer ausgewiesen werden sollte, wird
nach Bestandskraft der den rechtmäßigen Aufenthalt beendenden Maßnahme auf Antrag das Vorliegen von
Abschiebungsverboten auf der Grundlage der dann maßgeblichen Sach- und Rechtslage erneut zu prüfen sein.
69 2. Nach Auffassung des Senats liegt derzeit auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II, S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
70 a) Nach dem Urteil in der Sache NA./Vereinigtes Königreich (EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - juris) ist, da weder die
Konvention noch die Protokolle dazu ein Asylrecht garantieren, die einzige, auf der Grundlage der Konvention bei Asylfällen zu
prüfende Frage, ob der Betroffene im Fall seiner Abschiebung im Zielgebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK
widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Art. 3 EMRK ist auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen,
da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Unionsrecht umsetzende Regelung des § 60 Abs. 2
AufenthG nicht als insoweit vorrangige (vgl. zu § 60 Abs. 5: Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 60 AufenthG Rn. 45 ff., m.w.N.) und
in Bezug auf Abschiebungsverbote aus Art. 3 EMRK speziellere Schutznorm die Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m.
Art. 3 EMRK verdrängt (BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - und vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris).
71 § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass dem Betroffenen im Falle der Abschiebung im Zielgebiet eine
erhebliche individuelle Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (aa). Dabei kommt eine Verletzung von Art. 3 EMRK infolge dort herrschender Gewalt
(auch im Falle eines bewaffneten Konflikts), wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, nur bei Vorliegen einer
außergewöhnlichen Situation dann ausnahmsweise in Betracht, wenn diese durch einen so hohen Gefahrengrad
gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer gegen
Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre (bb). Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können dann eine
„Behandlung“ im Sinne des Art. 3 EMRK sein, wenn diese ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen
von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat
zurechenbar sind, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will, beruhen. Ganz
außerordentliche individuelle Umstände müssen dagegen hinzutreten, um schlechte humanitäre Bedingungen, wenn diese
nicht zumindest überwiegend auf Handlungen der genannten Akteure zurückzuführen sind, als unmenschliche Behandlung im
Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können (cc).
72 aa) Der Europäische Gerichtshofs sieht eine Behandlung als „unmenschlich” an, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung
über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid
verursacht hat. „Erniedrigend” ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre
Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt und
geeignet ist, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Ob Zweck der Behandlung war, das Opfer zu
erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn das nicht gewollt war, schließt das die Feststellung
einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zwingend aus (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland,
30696/06 - NVwZ 2011, S. 413).
73 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs muss die Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere
erreichen, um von Art. 3 EMRK erfasst zu werden. Das Mindestmaß ist relativ; ob es gegeben ist, hängt von den gesamten
Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen
sowie in einigen Fällen von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (vgl. EGMR, Urteile vom 28.02.2008 -
37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, S. 1330 und vom 21.01.2011 - a.a.O. m.w.N.).
74 Weil das Recht absolut garantiert wird, kann Art. 3 EMRK auch anwendbar sein, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen
von Personen ausgeht, die nicht Vertreter des Staates sind. Es muss aber bewiesen werden, dass die Gefahr wirklich besteht
und die Behörden des Bestimmungslandes die Gefahr nicht durch angemessenen Schutz beseitigen können (EGMR, Urteil
vom 28.06.2011 - 8319/07, Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich - NVwZ 2012, S. 681 m.N.).
75 Bei der Entscheidung darüber, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr von Misshandlungen besteht, müssen die
absehbaren Folgen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Bestimmungsland und der besonderen Umstände des
Betroffenen geprüft werden. Eine Abschiebung kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der Konvention dabei nur
begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich
Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer nach dem obigen Maßstab Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu
werden ("real risk"; vgl. EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, S. 1330); das entspricht dem
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris unter Bezugnahme auf
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 lit. b QRL).
76 bb) Eine allgemeine Situation der Gewalt im Zielstaat ist nur in „äußerst extremen Fällen“ intensiv genug, um die konkrete
Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung zu begründen (EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07,
NA./Vereinigtes Königreich). Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Entscheidung vom 28.06.2011
(a.a.O.) erklärt, dass er nicht davon überzeugt sei, dass Art. 3 EMRK nicht Garantien biete, die u.a. mit dem Schutz nach Art. 15
lit. c QRL vergleichbar seien. Insbesondere könne die Schwelle in beiden Vorschriften durch besondere Umstände wegen einer
Situation allgemeiner Gewalt erreicht werden, die so intensiv sei, dass eine in die fragliche Region abgeschobene Person
schon wegen ihrer dortigen Anwesenheit in Gefahr wäre, solche Gewalt zu erleiden.
77 Eine Individualisierung der Gefahr im Sinne einer „Behandlung“ kann damit bei allgemeiner Gewalt (u.a. aufgrund eines
bewaffneten Konflikts), wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei Vorliegen einer
außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede
Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt
wäre (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 18 ff., Senatsurteil vom 11.07.2012 - A 11 S 841/12 - juris jeweils
zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 lit. c QRL). Hierfür sind Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt bzw. zu
der so genannten Gefahrendichte erforderlich, d.h. eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl
der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen
Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die
Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Hierzu gehört
auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die
Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen
abhängen kann. Im Übrigen können die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts
entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 18 ff.,
Senatsurteil vom 11.07.2012 - A 11 S 841/12 - juris jeweils zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG).
78 Nach dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris zu § 60 Abs.
7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 lit. c QRL) ist bei einem Risiko, im Falle der Rückkehr aufgrund (von einem bewaffneten Konflikt
ausgehender) willkürlicher Gewalt erheblichen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, das sich aus einem Verhältnis der
Zahl der zivilen Opfer zur maßgeblichen Gesamtzahl (Einwohnerzahl oder Mitgliederzahl der gefährdeten Gruppe, der er
angehört) von 1:800 bezogen auf den Zeitraum eines Jahres ergibt, eine entsprechende Intensität für die Annahme einer
individuellen Gefährdung nicht erreicht. Vielmehr ist nach dieser Rechtsprechung eine solche Situation so weit von der
Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl
der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung nicht die Annahme
rechtfertigen könnte, dass jedem Einzelnen eine erhebliche konkret Gefahr droht (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -
juris).
79 cc) Schlechte humanitäre Verhältnisse als solche können nur unter besonderen Voraussetzungen ausnahmsweise als eine
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in
seinem Urteil vom 28.06.2011 (Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich - a.a.O.) hierzu dargelegt, unter welchen Voraussetzungen
es hinsichtlich der erforderlichen Intensität der Gefahren aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse bei den Maßstäben des
Urteils N./Vereinigtes Königreich (Urteil vom 27.05.2008 - a.a.O.) bleibt und wann die Grundsätze des Urteils M.S.S./Belgien
und Griechenland (Urteil vom 21.01.2011 -a.a.O.) Anwendung finden. Danach könne, wenn die schlechten humanitären
Bedingungen im Zielstaat (dort: in Somalia) nur oder zumindest überwiegend auf die Armut zurückzuführen sind oder auf die
fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen, wie einer Dürre, das im Fall N./Vereinigtes Königreich
verwendete Kriterium angemessen sein. Gehe aber die humanitäre Krise überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der
Konfliktparteien zurück, sei das im Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland (a.a.O.) verwendete Kriterium besser geeignet
(EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich - a.a.O.).
80 (1) Wenn die schlechten humanitären Bedingungen ganz oder überwiegend auf staatliches Handeln bzw. im Falle des
bewaffneten Konflikts auf Handlungen der Konfliktparteien oder auf Handlungen anderer Akteure zurückzuführen sind, die dem
Staat mangels ausreichenden Schutzes zurechenbar sind, sind danach für die Beurteilung der Intensität der „Behandlung“ bei
einem Schutzsuchenden, der völlig abhängig von staatlicher Unterstützung ist, die Fähigkeit, im Zielgebiet seine elementaren
Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu decken, seine Verletzlichkeit durch Misshandlungen und die Aussicht auf
Verbesserung innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens maßgeblich (EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - und vom 28.06.2011
- a.a.O.). Insoweit kann sich eine Verletzung von Art. 3 EMRK aus den humanitären Bedingungen vor allem für (Binnen-
)Flüchtlinge ergeben, die in ihr Herkunftsgebiet nicht zurückkehren können, deshalb in einem fremden Land oder Landesteil
Sicherheit suchen und vollständig auf Schutz und Hilfe angewiesen sind. Eine erniedrigende Behandlung hat der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte in einer solchen Situation für einen Asylbewerber in Griechenland angenommen, der sich dort
monatelang ohne Aussicht auf Verbesserung der Lage, ohne Obdach, ohne sich ernähren oder waschen zu können,
aufgehalten hatte, wobei die Furcht, angegriffen oder bestohlen zu werden, hinzukam (Urteil vom 21.01.2011 - M.S.S./ Belgien
und Griechenland - a.a.O.). Ebenso hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine innerstaatliche Fluchtalternative
als nicht zumutbar angesehen, weil die Bedingungen in den in Betracht kommenden Flüchtlingslagern für Binnenvertriebene
als Misshandlung anzusehen waren. Flüchtlinge hatten dort nur äußerst begrenzten Zugang zu Nahrung und Wasser und
Obdach und sanitären Einrichtungen, waren Gewaltverbrechen, Ausbeutung, Missbrauch und Zwangsrekrutierung ausgeliefert
und hatten sehr wenig Aussicht auf Verbesserung ihrer Situation innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens, insbesondere
vor Beendigung des Konflikts (Urteil vom 28.06.2011 - a.a.O.).
81 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer nachfolgenden Entscheidung, in der es um eine Abschiebung
nach Afghanistan ging (Urteil vom 13.10.2011 - 10611/09, Husseini/Schweden - NJOZ 2012, 952 Rn. 84; vgl. auch EGMR (V.
Sektion), Urteil vom 20.10.2011 − 55463/09, Samina/Schweden - zur Abschiebung einer Christin nach Pakistan), weiterhin
deutlich gemacht, dass sozialwirtschaftliche und humanitäre Überlegungen bei der Beurteilung einer zwangsweisen Rückkehr
abgewiesener Asylbewerber in einen bestimmten Teil ihres Ursprungslands für die Frage nicht notwendig bedeutsam und
sicherlich nicht entscheidend seien, ob der Betroffene tatsächlich der Gefahr einer Misshandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in
diesem Gebiet ausgesetzt wäre, wobei er keineswegs die akute Wichtigkeit solcher Überlegungen schmälern wolle. Unter
Berücksichtigung der hohen Schwelle von Art. 3 EMRK, insbesondere wenn der Fall nicht die unmittelbare Verantwortung des
Staates für eine mögliche Schädigung betreffe, weise der Fall nicht die nach der Rechtsprechung erforderlichen ganz
außerordentlichen Umstände auf (unter Hinweis auf EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/964, D/Vereinigtes
Königreich - NVwZ 1998, S. 161 ff. und vom 27.05.2008 - 26565/05, N./Vereinigtes Königreich - NVwZ 2008, S. 1334 ff.).
82 (2) Nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen können danach schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsgebiet oder im
Zielgebiet, wenn diese weder dem Staat noch (im Falle eines bewaffneten Konflikts) den Konfliktparteien zurechnen sind (vgl.
EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - a.a.O., Rn. 49 und vom 27.05.2008 - a.a.O., Rn. 31), im Hinblick auf Art. 3 EMRK als eine
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
insofern ein Abschiebungsverbot aus Art. 3 EMRK zugunsten eines im fortgeschrittenen, tödlichen und unheilbaren Stadium an
Aids Erkrankten angenommen, weil die Abschiebung seinen Tod beschleunigen würde, er keine angemessene Behandlung
erreichen könne und kein Beweis für irgendeine mögliche moralische oder soziale Unterstützung im Herkunfts- und Zielgebiet
zu erbringen sei (EGMR, Urteil vom 02.05.1997 - a.a.O., Rn. 52 f.). Der Umstand, dass im Fall der Abschiebung in sein
Herkunftsgebiet die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt wird, reicht aber
allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (EGMR, Urteil vom 27.05.2008 - a.a.O., Rn. 42).
83 (3) Diese Differenzierung der Prüfungsmaßstäbe hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung im
Einzelnen nachvollzogen. Es hat weiterhin die Voraussetzungen des Maßstabs der Entscheidung M.S.S./Belgien und
Griechenland (Urteil vom 21.01.2011 - a.a.O.) jedenfalls dann nicht als erfüllt angesehen, wenn eine extreme Gefahrenlage im
Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zu verneinen war (vgl. Urteil vom
31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 28 und 36).
84 b) Im Falle des Klägers kann nicht festgestellt werden, dass für ihn bei einer Rückkehr nach Kabul mit seiner Familie, für deren
Wohl und Wehe - in Anbetracht der dortigen gesellschaftlichen Bedingungen - in erster Linie der Kläger zu sorgen haben
würde, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Bestrafung bestünde. In Betracht kommt hier allein die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden
Behandlung aufgrund allgemeiner Gewalt (aa) oder schlechter humanitärer Bedingungen (bb).
85 aa) Eine Gefährdung für Leib und Leben des Klägers aufgrund allgemeiner Gewalt im Falle seiner Abschiebung nach
Afghanistan rechtfertigt nicht die Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (zur Annäherung
des Maßstabs des Art. 15 lit. c QRL und des Art. 3 EMRK vgl. EGMR, Urteil vom 28.06.2011 a.a.O.). Zwar geht von dem - auch
in Kabul - herrschenden Konflikt zwischen regierungsfeindlichen und regierungsfreundlichen Akteuren auch
allgemeine/willkürliche Gewalt aus. Von dieser - hier unabhängig vom Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des Art.
15 lit. c QRL zu prüfenden - allgemeinen/willkürlichen Gewalt geht derzeit - jedenfalls in Kabul - keine so große Gefährdung für
die Zivilbevölkerung aus, dass die in Art. 15 lit. c QRL und Art. 3 EMRK vorausgesetzte Intensität gegeben wäre und die
Situation einer unmenschlichen Behandlung damit gleichkäme.
86 (1) Zunächst spricht nach der Systematik des Art. 15 QRL und der des diese übernehmenden § 60 AufenthG viel dafür, dass die
Gewährung des - einheitlichen subsidiären unionsrechtlichen - Abschiebungsschutzes, soweit die allgemeine/willkürliche
Gewalt von einem bewaffneten Konflikt im Sinne des Art. 15 lit. c QRL ausgeht, auch im Hinblick auf Art. 3 EMRK nur anhand
der Regelungen des Art. 15 lit. c QRL bzw. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu prüfen ist, die sonst gegenüber Art. 15 lit. b QRL
bzw. § 60 Abs. 2 AufenthG leerliefen. Geht man aber davon aus, dass die Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG auch
hinsichtlich einer von einem bewaffneten Konflikt im Sinnes des Art. 15 lit. c QRL ausgehenden Verletzung von Art. 3 EMRK
weder durch § 60 Abs. 2 AufenthG noch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verdrängt wird, ist eine entsprechende Prüfung hier
vorzunehmen, ohne dass es darauf ankommt, ob die zu beurteilende allgemeine/willkürliche Gewalt auf einem Konflikt im
Sinne des Art. 15 lit. c QRL AufenthG beruht.
87 (2) Der Senat kann in Anwendung der vom Bundesverwaltungsgericht (zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) entwickelten Maßstäbe
nicht erkennen, dass im Falle des Klägers derzeit die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach §
60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt vorliegen. Er ist vielmehr auf der Grundlage der insoweit
weitgehend übereinstimmenden aktuellen Erkenntnisquellen davon überzeugt, dass in Kabul, dem Herkunfts- und Zielort des
Klägers und seiner Ehefrau, keine allgemeine Gewalt von solcher Intensität herrscht, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs.
5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt wären (vgl. auch HessVGH, Urteil vom 16.06.2011 - 8 A 2011/10.A - juris zu § 60 Abs. 7
Satz 2 AufenthG). Der Senat hat bereits entschieden (Senatsurteil vom 11.07.2012 - A 11 S 841/12 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG), dass in Kabul jedenfalls kein bewaffneter Konflikt herrscht, von dem für Rückkehrer eine erhebliche individuelle
Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt droht. Die Sicherheitslage in Kabul werde, abgesehen von einigen
spektakulären Anschlägen, die sich jedoch, wie zuletzt die Anschlagsserie im April 2012 wieder gezeigt habe, im Wesentlichen
gegen „prominente Ziele“ wie den Präsidentenpalast, militärische Einrichtungen oder Botschaften gerichtet hätten, relativ
einheitlich als stabil und weiterhin deutlich ruhiger als noch etwa vor zwei Jahren bewertet. Vor der Anschlagsserie im April
2012 habe es offenbar sogar eine praktisch anschlagsfreie Zeit von fast 18 Monaten gegeben (AA, Lagebericht vom
10.01.2012, S. 12; Kermani, Die Zeit vom 05.01.2012, S. 11 f.; Asylmagazin 12/2011, 418; SZ vom 16.04.2012).
88 Der Senat kommt zum gegenwärtigen Zeitpunkt und für die Situation des Klägers im Falle seiner Rückkehr mit seiner Familie
zu derselben Einschätzung (vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 11.01.2013 - 13 A 1430/12.A -, vom 07.02.2013 - 13 A
2871/12.A - und vom 13.02.2013 - 13 A 1524/12.A - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG).
89 Insgesamt wurden in Afghanistan im Jahr 2012 7.559 Zivilisten landesweit getötet oder verletzt. Durch regierungsfeindliche
Akteure wurden 6.131 Zivilisten (81,1 % aller zivilen Opfer, davon 14 % = 932 aufgrund von Bodenkämpfen) und durch
regierungsfreundliche Akteure 587 Zivilisten (7,8 % aller zivilen Opfer, davon 27 % = 158 aufgrund von Bodenkämpfen) getötet
oder verletzt. Weitere 841 zivile Opfer konnten den jeweiligen Akteuren nicht zugeschrieben werden. Sie sind auf Bodenkämpfe
(528), grenzüberschreitenden Beschuss oder explosive Kampfmittelrückstände zurückzuführen (vgl. UNAMA, Afghanistan
Annual Report on Protection of Civilians in Armend Conflict, 2012, S. 1, 2, 3, 4, 9, 14, 16, 18, 19, 29, 30, 35).
90 Die größte Einzelgefahr für Zivilisten stellt der Einsatz von selbstgefertigten Sprengkörpern bzw. -fallen dar, auf den 2.531 zivile
Opfer (868 Tote und 1.663 Verletzte bei 782 getrennten Vorfällen) und damit 33,5 % der zivilen Opfer insgesamt zurückzuführen
sind (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 3, 4, 9, 14, 16, 18, 29), wobei der Gefährdungsgrad in den Regionen des Landes unterschiedlich
ist. Im Norden, Osten und Nordosten wurden durch solche Anschläge 2011 und 2012 deutlich weniger Zivilisten verletzt oder
getötet als im Südosten oder Süden. Verhältnismäßig gering ist die Gefährdung vor allem in der Zentralregion, in der Kabul mit
vorsichtig geschätzt mindestens 3 Millionen Einwohnern liegt (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 18). In dieser gesamten Region wurden
durch Sprengstoffanschläge im Jahr 2012 179 Zivilisten getötet oder verletzt (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 18).
91 1.618 Zivilpersonen waren Opfer (438 Tote und 1.180 Verletzte) von Bodenkämpfen zwischen regierungsfeindlichen Akteuren
und regierungsfreundlichen Akteuren. Die Boden-Kämpfe verursachen trotz eines deutlichen Rückgangs an zivilen Opfern
noch 21 % aller zivilen Opfer, und damit die höchste Zahl von zivilen Opfern nach den Sprengkörpern (UNAMA, a.a.O., 2012, S.
9, 16, 30, 35). Die regionale Verteilung der Opfer unter der Zivilbevölkerung im Rahmen von Boden-Einsätzen zeigt, dass sich
die Zahl der zivilen Opfer solcher Kampfhandlungen im Zentrum, zentralen Hochland, Nordosten, Norden und in den
westlichen Regionen erhöht hat. Im Verlauf des Jahres 2012 nahmen dort die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen
Akteuren und regierungsfreundlichen Akteuren nach Einleitung der Übergabe der Zuständigkeit für die Sicherheit im Mai 2012
zu, als die Taliban versuchten, ihren Einfluss zu erweitern und ihre Kontrolle über die wichtigsten Routen auszubauen. Der
größte Anstieg erfolgte in der Provinz Faryab, von 19 Vorfällen im Jahr 2011 (41 zivile Opfer) auf 49 Vorfälle im Jahr 2012 (103
zivile Opfer). Faryab gehört nun in Bezug auf bewaffnete Auseinandersetzungen zu den vier unsichersten Provinzen in
Afghanistan (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 9). Dagegen hat sich im Süden, Südosten und Osten die Anzahl der zivilen Opfer
aufgrund von Bodenkämpfen verringert (vgl. zur gleichzeitigen Zunahme gezielter Tötungen und Verletzungen auch unten).
92 Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe der Regierungsgegner forderten 1.507 zivile Opfer (328 Tote und 1.179 Verletzte),
das sind 19,9 % aller zivilen Opfer im Jahr 2012 in Afghanistan (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 16, 20, 21). Selbstmordanschläge
reichen von Anschlägen Einzelner, die entweder Westen tragen oder Fahrzeuge führen, die mit Sprengstoff bestückt sind, bis
zu Anschlägen von mehreren Selbstmordattentätern, die komplexe Angriffe zusammen mit einer großen Anzahl von Kämpfern
durchführen. Regierungsgegner fahren fort, verschiedene Arten von Selbstmord-Anschlägen an öffentlichen Orten einzusetzen.
Zivilisten werden weiterhin an überfüllten Orten wie Märkten, Orten, an denen sich Stammesälteste versammeln, und in der
Nähe von zivilen Regierungsbüros Ziel dieser Anschläge (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 21).
93 Weiterhin gehen landesweit 1.077 zivile Opfer (698 Tote und 379 Verletzte) und damit 14,2 % aller zivilen Opfer auf gezielte
Tötungen bzw. Tötungsversuche regierungsfeindlicher Organisationen zurück. Viele dieser Vorfälle betrafen Zivilisten, die als
Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden, darunter Regierungsbeamte, religiöse Führer, Stammesälteste, off-duty
Polizisten und Personen, die den Friedensprozess unterstützen (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 4, 22, 23). Diese Situation wird auch
im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 04.06.2013 (S. 14) bestätigt. Danach verübt die Insurgenz neben
medienwirksamen Anschlägen auf militärische wie zivile internationale Akteure vermehrt Anschläge gegen die afghanischen
nationalen Sicherheitskräfte. Aufgrund ihrer besonderen Machtstellung gehören auch Provinz- und Distrikt-Gouverneure zu den
herausgehobenen Personen, auf die immer wieder Anschläge verübt würden. Auch gegen Mitarbeiter des afghanischen
öffentlichen Dienstes wie Angehörige von Ministerien oder nachgeordneten Behörden richteten sich aufgrund ihrer Tätigkeit für
den afghanischen Staat Anschläge.
94 Während die Zahl der zivilen Toten und Verletzten aufgrund von Kämpfen im Süden, Südosten und Osten im Jahr 2012 um 39
Prozent fiel, erhöhte sich die Zahl der gezielten Tötungen von Zivilisten durch regierungsfeindliche Akteure, die vor allem in
diesen Regionen verstärkt auftreten, deutlich. Gezielte Tötungen führten zum Tod oder zur Verletzung von 971 Zivilisten in
diesen Bereichen, was eine Steigerung um 33 Prozent gegenüber 2011 bedeutet (UNAMA, a.a.O., 2012, S. 41, 42).
95 Eine nähere Auswertung gegliedert nach Provinzen lässt sich den Informationen der UNAMA nicht entnehmen.
96 Nach den Angaben des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) im Quarterly Data Report Q 4 2012 bestand in Kabul im vierten
Quartal 2012 eine geringere Gefährdung durch Anschläge oppositioneller Kräfte als im vierten Quartal 2011. Zwar ist nach dem
ANSO Quarterly Data Report Q 1 2013 für Kabul im ersten Quartal 2013 mit 12 Anschlägen eine Verschlechterung gegenüber
dem Vorjahresquartal zu verzeichnen, das allerdings mit nur zwei Zwischenfällen besonders ruhig gewesen war. Beim
Vergleich dieser Quartale zeigt sich, dass die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorkommnisse in allen Regionen zugenommen
hat, aber in der Zentral-Region weiterhin deutlich geringer ist, als in den besonders gefährlichen Regionen im Süden, Südosten
und Osten. Die absolute Zahl der sicherheitsrelevanten Vorkommnisse in Kabul ist zudem weiterhin geringer als in den übrigen
Provinzen der Zentralregion. Ausgehend von den Briefing Notes des Bundesamts wurden bei Anschlägen 10 Zivilisten verletzt
und getötet (Briefing Notes vom 04.03.2013: Anschlag am 27.02.2013 ein Zivilist verletzt; vom 11.03.2013: Anschlag vom
09.03.2013 neun Menschen getötet).
97 Demgegenüber hat im zweiten Quartal dieses Jahres die Zahl der zivilen Opfer in Kabul mit mindestens 28 Toten und
zahlreichen Verletzten deutlich zugenommen (Briefing Notes vom 21.05.2013: Anschlag vom 16.05.2013 mindestens sechs
Zivilisten getötet, Dutzende verletzt; vom 27.05.2013: Anschlag vom 25.05.2013 zwei Zivilisten getötet; vom 17.06.2013:
Anschlag vom 11.06.2013 mindestens 17 Menschen getötet und Dutzende verletzt; vom 24.06.2013: Anschlag vom 18.06.2013:
drei Tote und mehr als zwanzig Verletzte).
98 Nachdem die regierungsfeindlichen Gruppen Ende April ihre jährliche Frühjahrsoffensive begonnen haben, lässt sich auch
2013 die Zunahme der Anschläge im 2. Quartal (vgl. oben für 2012) mit dieser witterungsbedingten Dynamik der Kämpfe
erklären. Allerdings lässt sich beim Vergleich mit dem Vorjahresquartal eine Zunahme ziviler Opfer bei der diesjährigen
Offensive feststellen. Nach Angaben der UN wurden in der letzten Mai- und ersten Juni-Woche 125 afghanische Zivilisten
getötet und 287 verletzt, was einen Anstieg um 24 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Jahres 2012 bedeute (Briefing
Notes 10. Juni 2013). Insgesamt kamen im Juni 2013 180 Zivilisten ums Leben (dpa-Meldung 01.07.2013 16:25).
99 Im 3. Quartal 2013 wurden bisher in Kabul bei einem Anschlag auf ein Versorgungsunternehmen der ISAF-Truppe zwei
afghanische Zivilisten getötet und mehrere Menschen verletzt (FAZ vom 02.07.2013). Nach einer dpa-Meldung vom
06.07.2013, 13.34 h, sind bei einer Serie von Bombenanschlägen in Afghanistan mindestens 16 einheimische Soldaten getötet
worden. Drei weitere seien verletzt worden. Die Anschläge ereigneten sich binnen 24 Stunden in den Provinzen Helmand,
Kandahar, Paktika, Kunar, Kabul, Logar, Sabul und Baghlan. Von zivilen Opfern wurde im Zusammenhang mit dieser
Anschlagsserie nicht berichtet. Die weitere Entwicklung im laufenden Quartal oder gar der zweiten Jahreshälfte ist derzeit in
keiner Richtung abschätzbar.
100 Nach dem oben dargelegten Erkenntnisstand über zivile Opfer im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen
regierungsfeindlichen und regierungsfreundlichen Kräften bezogen auf Kabul mit mindestens 3 Millionen Einwohnern ist
weiterhin keine solche Dichte von damit im Zusammenhang stehenden Vorfällen mit zivilen Opfern feststellbar, dass diese die
Bewertung der dortigen Situation als bewaffneten Konflikt i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit erheblichen Auswirkungen auf
die Zivilbevölkerung zuließe. Unabhängig davon geht, wenn man einen bewaffneten Konflikt im Sinne dieser Vorschrift
annimmt, jedenfalls kein so hoher Grad willkürlicher Gewalt aus, dass jeder in die Region Zurückkehrende allein durch seine
Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein.
101 Betrachtet man die durchschnittliche Gefährdung landesweit ergibt sich bei ca. 7.559 toten und verletzten Zivilisten im Jahr
(ausgehend von 2012) bezogen auf eine Gesamtbevölkerung von mindestens 25 Millionen kein so hoher Gefährdungsgrad,
dass praktisch jede Zivilperson dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Legt man die landesweite Zahl
der zivilen Opfer (7.559) von 2012 zugrunde, berücksichtigt man im Hinblick auf die Gesamtentwicklung und die
Schwierigkeiten der Ermittlung genauer Zahlen bei einer gebotenen vorsichtigen Schätzung eine Steigerung von 25 % (1.890)
und rundet die so ermittelte Zahl (9.449) auf volle Tausend auf (10.000), liegen bei einem Verhältnis der zivilen Opfer pro Jahr
zur Gesamtbevölkerung von 1 : 2.500 die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor (vgl.
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris). Wie oben dargelegt ist in Kabul, insbesondere aufgrund der deutlich
unterdurchschnittlichen Gefährdung durch Sprengkörper, die die Hauptursache für zivile Opfer und zur größten Gefahr für die
afghanischen Streitkräfte geworden sind, und auch durch gezielte Tötungen, insgesamt noch eine deutlich geringere
Gefährdung der Zivilbevölkerung anzunehmen.
102 Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit seiner Familie aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnender
gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen seien könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Eine bereits vor
Ausreise im Jahr 2000 eingetretene konkret individuelle Gefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lag der -
widerrufenen - Feststellung im Bescheid vom 21.02.2007 nicht zugrunde. Das Vorfluchtschicksal des Klägers lässt im Übrigen
auch nicht erkennen, dass er bereits Schaden erlitten hatte oder von einem Schaden an Leib, Leben oder Freiheit unmittelbar
bedroht war. Zudem bestünde jedenfalls kein sachlicher Zusammenhang mit den nunmehr in Afghanistan bestehenden
Verhältnissen und drohenden Gefahren.
103 Nach seinen Angaben hat sich der Kläger, nach dem strategischen Rückzug von Massud aus Kabul in der Zeit von 1996 bis
1999 in Charika, 50 km nordöstlich von Kabul aufgehalten, wo er als Gemeinagent Massuds eingesetzt gewesen sei. Er sei
dann von den Taliban, die am 27.09.1996 nach Kabul einmarschiert waren und das Islamische Emirat Afghanistan errichtet
hatten, inhaftiert worden und habe fliehen können. Seitdem hat sich, wie oben dargelegt, die Situation allerdings grundlegend
geändert. Die Herrschaft der Taliban ist beendet worden. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese, die gegenwärtig
weiterhin die regierungsfreundlichen Kräfte bekämpfen (vgl. unten), um erneut an die Macht zu kommen, an ihm als früheren
Anhänger von Massud, der in Afghanistan nach seinem Tod im September 2001 als Nationalheld verehrt wird, nun im Falle
seiner Rückkehr nach inzwischen mehr als zwölf Jahren ein besonderes Interesse haben könnten. Dies macht er auch selbst
nicht geltend.
104 Hinzukommt, dass der Kläger im Jahre 2007 seinen Vater in Kabul besucht und dort die von diesem für ihn ausgesuchte Frau
geheiratet hat, die bei seinem Vater wohnte und der er anschließend Geld geschickt hat. Jedenfalls im Jahre 2010 hat er seine
jetzige Ehefrau in Kabul noch einmal besucht und sie dann 2011 ins Bundesgebiet nachgeholt. Davon, dass Angehörige der
Taliban in Kabul 2007, 2010 oder 2011 nach ihm gesucht hätten, hat der Kläger nicht berichtet.
105 bb) Auch aus den humanitären Bedingungen in Kabul ergibt sich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthaltsG
i.V.m. Art. 3 EMRK zugunsten des Klägers.
106 (1) Im Hinblick auf die humanitäre Lage in Kabul geht der Senat davon aus, dass diese nur dann eine Misshandlung des
Klägers im Falle der Rückkehr bedingen könnte, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzuträten (vgl. EGMR,
Urteile vom 02.05.1997 - D/Vereinigtes Königreich - a.a.O. und vom 27.05.2008 - N./Vereinigtes Königreich - a.a.O.), die jedoch
nicht gegeben sind, da sich die Situation des Klägers im Falle seiner Rückkehr mit seiner Familie trotz der nicht zu leugnenden
Gefährdung, nicht von der anderer Familienväter mit kleinen Kindern in Kabul abgrenzen lässt, die nach ihrer Rückkehr
aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und insbesondere der hohen Arbeitslosigkeit um ihr und das
Überleben ihrer Frau und Kinder kämpfen. Erheblich erschwerende individuelle Umstände (insbesondere eine
lebensbedrohende Erkrankung), die hier einen ganz außergewöhnlichen Einzelfall im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begründen könnten, sind nicht gegeben.
107 (2) Die Maßstäbe des Urteils M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (a.a.O.) finden hier keine Anwendung.
108 Die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan ist nach Ansicht des Senats nicht unmittelbar dem afghanischen Staat
zuzurechnen. Der afghanische Staat ist vielmehr mit internationaler Hilfe um eine Verbesserung der Verhältnisse bemüht und
konnte diese in gewissem Umfang auch erreichen (vgl. dazu unten).
109 Selbst wenn man zugunsten des Klägers einen bewaffneten Konflikt oder mangelnde landesweite bzw. ausreichende Einfluss-
und Schutzmöglichkeiten des afghanischen Staates und der (noch) im Land anwesenden Schutztruppen (vgl. auch Art. 6 lit. c
QRL) unterstellte und davon ausgehend auf die gegenwärtigen Konfliktparteien oder auf regierungsfeindliche Gruppen als
maßgebliche Akteure abstellte, ergäbe sich hieraus nicht die Anwendung des Maßstabs aus dem Urteil M.S.S. gegen Belgien
und Griechenland. Denn die schlechten humanitären Bedingungen sind zwar teilweise (direkt und indirekt) auch, aber
sicherlich nicht überwiegend auf gegenwärtige Aktionen der Gegner der Regierung bzw. der derzeitigen Konfliktparteien
zurückzuführen, sondern wesentlich auf die dem jetzigen Konflikt vorangegangenen Ereignisse in der Zeit von 1979 bis 2001
(vgl. auch EGMR, Urteil vom 21.01.2011 a.a.O., Rn. 196).
110 In den Jahren 1979 bis 1989 war die Situation in Afghanistan geprägt vom Widerstand der Mudschahedin-Gruppen gegen die
sowjetische Besatzung. Den durch den Sowjetisch-Afghanischen Krieg bedingten Verwüstungen folgte 1992, nach dem
sowjetischen Abzug im Frühjahr 1989, der Zusammenbruch des afghanisch-kommunistischen Regimes und ein
innerafghanischer Krieg zwischen den verschiedenen Regionalmächten. 1994 gelang es Massud die Vorherrschaft in Kabul zu
erringen. Der Kampf zwischen den Mudschahedin-Gruppen führte zu einer weitgehenden Zerstörung Kabuls und zu einem
Anschwellen der Flüchtlingsströme nach Pakistan und Iran (AA, Lagebericht vom 09.05.2001, Stand April 2001). Ab 1995
versuchten die Taliban, die seit 1994 vor allem im Süden in Vormarsch waren, Kabul zu erobern, was ihnen nach dem Rückzug
von Massud in den Norden schließlich im September 1996 gelang. Anschließend versuchten diese, die Kontrolle über ganz
Afghanistan zu erhalten. Dabei verfolgten sie eine Politik der verbrannten Erde und vertrieben mit Gewalt die alteingesessene
Bevölkerung, verbrannten ihre Häuser und zerstörten die besonders fruchtbaren Anbaugebiete. Auch von systematischen
Bombardierungen der Zivilbevölkerung durch die Taliban als Strafmaßnahme im Rahmen der kriegerischen
Auseinandersetzung wurde berichtet. Im Frühjahr 2001 befand sich Afghanistan nach wie vor im Bürgerkrieg, wobei damals
eine Verfestigung der Taliban-Herrschaft in den meisten Landesteilen erkennbar war (AA, Lagebericht vom 09.05.2001, Stand
April 2001).
111 Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 09.05.2001 (Stand April 2001) beschreibt die damaligen Existenzbedingungen wie
folgt:
112 “Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Nach 20 Jahren Krieg ist die Infrastruktur des Landes weitgehend
zerstört. Hinzu kommen Naturkatastrophen. Große Teile Afghanistans leiden derzeit unter der schlimmsten Dürre seit 31
Jahren, nachdem schon seit einigen Jahren der Regenfall völlig unzureichend ist. Die Dürre führt zu Trinkwassermangel, dem
Ausbrechen von Krankheiten, Viehsterben und Missernten. Mit dem Höhepunkt ihrer Auswirkungen wird erst in diesem Jahr
gerechnet. Zusätzliche Ursache für die äußerst unzureichende Nahrungsmittelversorgung sind die andauernden
Kampfhandlungen und die Verminung weiter Gebiete, die dort eine reguläre Produktion von Grundnahrungsmitteln nicht
zulassen. Die industrielle Produktion ist praktisch zum Erliegen gekommen. In begrenztem Maß produktive Sektoren sind
Landwirtschaft und Handel. Die beiden ertragreichsten Bereiche wirtschaftlicher Tätigkeit sind Schmuggel und Drogenhandel.
Große Teil der Bevölkerung sind verarmt und leben am oder unter dem Existenzminimum. Ohne Nahrungsmittelhilfe oder
andere Formen der Unterstützung durch Hilfsorganisationen könnten die Ärmsten der Bevölkerung nicht überleben. Die
Arbeitslosigkeit ist extrem hoch. Familien ernähren sich - soweit sie nicht in der Landwirtschaft tätig sind - durch
Gelegenheitsjobs und den Verkauf persönlichen Besitzes. Bedienstete des öffentlichen Dienstes in Afghanistan verdienen
umgerechnet etwa 5 US$ pro Monat. In der Regel bleiben Gehaltszahlungen jedoch über Monate aus. Ohne
Nahrungsmittelhilfe und andere Formen der Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen könnten die Ärmsten der
Bevölkerung nicht überleben.
113 Die staatliche medizinische Versorgung der Bevölkerung ist schlecht. Es fehlt an Ärzten und ausgebildetem Pflegepersonal.
Die Krankenhäuser befinden sich überwiegend in einem sehr schlechten Zustand sowohl in bezug auf die Ausstattung als auch
auf die räumlichen Verhältnisse. Auf dem Land ist die medizinische Versorgung oft noch schlechter als in den Städten.
Patienten müssen lange, beschwerliche Transporte zu den nächstgelegenen Behandlungsmöglichkeiten in Kauf nehmen. Die
Bevölkerung ist im Bereich Gesundheit nachhaltig auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen.
114 Das Schul- und Ausbildungssystem liegt in ganz Afghanistan darnieder. Ein geregelter Unterricht findet nicht statt. Es fehlt an
Lehrmaterialien sowie an Lehrpersonal. Die vorhandenen Lehrkräfte werden nur unregelmäßig bezahlt. In den von den Taliban
beherrschten Gebieten konzentriert sich die Ausbildung in den Schulen weitgehend auf Religionsunterricht, andere Fächer
treten in den Hintergrund. Eine gezielte Berufsausbildung existiert nicht. Daneben erfolgt Unterricht in den Taliban-Gebieten
ganz überwiegend für die männliche Bevölkerung.“
115 Die humanitäre Lage in Afghanistan war aufgrund der seit 1979 herrschenden Kämpfe und der jahrelangen Dürre damit vor
Beginn des gegenwärtigen Konflikts schlechter als sie sich heute nach dem Sturz des Taliban-Regimes und weiteren 12
Jahren Auseinandersetzungen - nun zwischen internationalen und afghanischen Truppen einerseits und den Taliban, einem
Teil der Hizb-i Islāmī und der Al-Qaida andererseits - darstellt.
116 Das Auswärtige Amt ging davon aus, dass sich nach groben Schätzungen Anfang September 2001 ca. 3 Millionen afghanische
Flüchtlinge in Pakistan, ca. 2 Millionen afghanische Flüchtlinge in Iran und ca. 100.000 afghanische Flüchtlinge in den drei im
Norden angrenzenden zentralasiatischen Staaten aufhielten. Die Flüchtlingsströme gründeten sich maßgeblich auch auf der
damals seit drei Jahren anhaltenden Dürre und der daraus resultierenden, das ganze Land erfassenden Hungersnot und
wurden durch die politische Lage in Afghanistan verstärkt (AA, Ad-hoc-Bericht vom 18.10.2001). Nach Ablehnung der US-
Forderungen nach Auslieferung Osama Bin Ladens durch die Taliban haben die USA seit dem 07.10.2001 gezielte Luftschläge
gegen militärische und logistische Stützpunkte der Taliban und terroristische Netzwerke vorgenommen. Die
Bürgerkriegssituation in Afghanistan verschärfte sich. Nach erheblichen Gebietsgewinnen hatte die Nordallianz mehr als zwei
Drittel des afghanischen Staatsgebiets, nahezu die gesamte nördliche Hälfte - auch die Hauptstadt Kabul - sowie angrenzende
Gebiete eingenommen, während in südlichen Landesteilen teils lokale paschtunische Gruppen die Führung übernommen
haben. Die Situation der afghanischen Flüchtlinge blieb weiterhin schwierig. Auch wenn sich dadurch, dass die Taliban Kabul
und andere große Städte verlassen hatten, die Möglichkeiten für eine humanitäre Versorgung verbessert hatten, blieb die
Versorgungslage weiterhin angespannt. Die akkumulierte humanitäre Soforthilfe (Zusagen) der EU-Mitgliedsstaaten und der
EU-Kommission für Afghanistan in 2001 belief sich auf ca. 321,2 Mio Euro (AA, Ad-hoc-Bericht vom 16.11.2001).
117 Die mit der Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen vom 27.11. bis 05.12.2001 auf dem Petersberg bei Bonn über die
Zukunft Afghanistans nach dem Ende der Taliban-Herrschaft in Gang gesetzte Entwicklung hat zu einer einschneidenden
Änderung der politischen Verhältnisse geführt. Es bestand nun die Hoffnung, dass der Sturz des Taliban-Regimes Afghanistan
nach 22 Jahren Bürgerkrieg und kriegerischer Auseinandersetzungen die Chance auf einen Neuanfang mit einem vereinten
demokratischen afghanischen Staat bieten würde. Afghanistan sollte mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft politisch,
sicherheitspolitisch und wirtschaftlich rehabilitiert und wiederaufgebaut werden. Voraussetzung war die Gewährleistung von
Sicherheit für die afghanische Interims-Administration und die afghanische Bevölkerung. Die International Security Assistance
Force (ISAF) wurde entsandt, deren Aufgabe es war, die Sicherheit - zunächst in Kabul und Umgebung - zu gewährleisten (AA,
Ad-hoc-Bericht vom 04.06.2002). Seit 2004 hat Afghanistan eine Verfassung und ist eine Islamische Republik mit einem
präsidialen Regierungssystem.
118 Im aktuellsten Lagebericht beschreibt das Auswärtige Amt (vom 04.06.2013 Stand März 2013) die Situation nunmehr wie folgt:
119 “Trotz erheblicher und anhaltender Anstrengungen belegt Afghanistan laut dem Human Development Index von UNDP (2011)
unter 187 ausgewerteten Ländern den 172. Rang. Der Entwicklungsbedarf ist weiterhin beträchtlich: Rund 36% der
Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und die Analphabetenrate liegt bei 70%. Ca. 90% der Frauen und 70% der
Männer haben keinen Schulabschluss. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es an vielen Orten an
grundlegender Infrastruktur für Transport, Energie und Trinkwasser. Das rapide Bevölkerungswachstum stellt eine weitere
besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Aktuell wächst die Bevölkerung mit
rund 2,8% pro Jahr, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkommt. Die
Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß
an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, geraten dadurch zusätzlich unter Druck.“
120 Trotz der - entgegen der anfänglichen Hoffnungen - auch weiterhin schwierigen Lage haben inzwischen fast 85 % der
Bevölkerung Zugang zu medizinischer Versorgung
(http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/laender_regionen/asien/afghanistan/zusammenarbeit.html; die Zahl der
Gesundheitseinrichtungen hat sich seit 2002 vervierfacht vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht [Stand: März 2013], S. 18), wobei
die Erreichbarkeit in den Städten, insbesondere Kabul, wesentlich besser ist als auf dem Land. Die Kindersterblichkeit (unter
fünf Jahren) als Indikator für die medizinische und geburtshilfliche Versorgung von Müttern und Säuglingen ist zwar weiterhin
dramatisch hoch. Auch wenn die in verschiedenen Quellen genannten Zahlen nicht übereinstimmen, ergibt sich aus diesen
aber insoweit übereinstimmend, dass die Kindersterblichkeit (unter fünf Jahren) in den letzten Jahren verringert werden konnte
(vgl. BMZ, Afghanistan, Situation und Zusammenarbeit: 2001: 133 pro 1.000 Kinder, 2011: 101 pro 1.000 Kinder
http://www.bmz.de/ de/was_wir_machen/laender_regionen/asien/afghanistan/zusammenarbeit.html; UNICEF, Committing to
Child Survival: A Promise Renewed, Progress Report 2012:1990: 192 pro 1.000 Kinder, 2000: 136 pro 1.000 Kinder, 2011: 101
pro 1.000 Kinder, http://www.unicef.org/videoaudio/PDFs/APR_Progress_Report_2012 final.pdf; Islamic Republic of
Afghanistan Ministry of Public Health, National Child and Adolescent Health Policy, 2009 - 2013: 2000: 257 pro 1.000 Kinder,
2008: 191 pro 1.000 Kinder, http://www.basics.org/documents/Child-and-Adolescent-Health-Policy_Af-ghanistan.pdf). Auch hat
sich der Anteil der Kinder, insbesondere der Mädchen, die die Schule besuchen, deutlich erhöht
(http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/laender_regionen/asien/afghanistan/zusammenarbeit.html).
121 Wenn auch die humanitäre Situation - insbesondere auch der Kinder - weiterhin sehr schlecht ist, ist die Annahme, dass der
derzeitige status quo bezogen auf diese immer noch schlechten humanitären Bedingungen überwiegend auf die seit Ende
2001 bzw. 2004 erfolgten und gegenwärtigen Aktionen der regierungsfeindlichen Akteure zurückzuführen ist, nicht zu
rechtfertigen. Dies gilt unabhängig davon, dass ohne die genannten Anschläge und die u.a. durch Sprengfallen bedingten
permanenten Gefahren bereits eine wesentlich deutlichere Verbesserung der humanitären Verhältnisse in Afghanistan möglich
gewesen wäre (vgl. Daisuke Yoshimura, Sicherheitslage in Afghanistan und humanitäre Lage in Kabul, Asylmagazin 12/2011,
S. 406; vgl. dazu auch Save the Children, Afghanistan in Transition: Putting Children at the Heart of Develoment, 2011, S. 10 ff.;
http://www.savethechildren.de/fileadmin/Dokumente_Download/Downloadbereich/Save_the_Children_Afghanistan_report.pdf).
122 Auf dieser Grundlage steht für den Senat fest, dass die auch durch frühere Auseinandersetzungen mit bedingte, aber im
Übrigen vorgefundene chronische Unterentwicklung des Landes wesentliche Grundlage der weiterhin schlechten humanitären
Lage ist, die durch das rapide Bevölkerungswachstum und vor allem durch extreme Natureinflüsse (vgl. Auswärtiges Amt,
Lagebericht Stand März 2013, S. 17 f.) verschärft wurde und wird, weshalb weiterhin internationale Hilfen in erheblichem
Umfang erforderlich sind und trotz der weiterhin - regional in unterschiedlichem Maße - instabilen Lage auch (noch) gewährt
werden.
123 Dies gilt insbesondere auch für die gegenwärtige Lage in Kabul. Zwar ist ein sicher auch auf die herrschenden
Kampfhandlungen zurückzuführendes Problem in Kabul die aufgrund der Zerstörung von Häusern und dem Zustrom von
Binnenflüchtlingen bestehende Verknappung und Verteuerung von Wohnraum. Der Anteil der Bevölkerung Kabuls, der in
informellen Siedlungen wohnt, wird von der Stadtverwaltung auf 70 Prozent geschätzt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen,
dass es seit dem Rückzug der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre kaum Investitionen in öffentliche Wohnungen gab (Daisuke
Yoshimura, Sicherheitslage in Afghanistan und humanitäre Lage in Kabul, Asylmagazin 12/2011, S. 406 [408, 410]), Kabul
bereits 1992 weitgehend zerstört worden war (vgl. oben) und derartige Siedlungen - auch - in Kabul keine neue Erscheinung
sind. Die Bevölkerung dieser Siedlungen setzt sich zum Großteil aus Personen zusammen, die während der letzten 30 Jahre
aufgrund von Kampfhandlungen oder aber auch wirtschaftlicher Not nach Kabul migriert sind. Weiterhin gehören zu den seit
2002 hinzugekommenen Flüchtlingen, neben weiteren Binnenflüchtlingen, insbesondere auch Flüchtlinge, die aus Pakistan
und dem Iran zurückgekehrt sind (Daisuke Yoshimura, Sicherheitslage in Afghanistan und humanitäre Lage in Kabul,
Asylmagazin 12/2011, S. 406 [408, 410]) und dementsprechend gerade nicht vor gegenwärtigen Kampfhandlungen geflohen
sind. Der derzeitige Konflikt hat damit zwar zu weiterem Zustrom von Binnenflüchtlingen geführt, kann aber auch insoweit nicht
als wesentliche Ursache für die schlechten Lebensbedingungen in Kabul angesehen werden.
124 Der Senat geht weiterhin davon aus, dass die Taktiken der Regierungsgegner (insbesondere Selbstmordanschläge und
Sprengfallen), die entweder - auch - gegen die Zivilbevölkerung und deren Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen etc.) sowie
Hilfsorganisationen gerichtet sind oder zumindest ohne Rücksicht auf diese angewandt werden und weit über die unmittelbare
Bedrohung hinaus auf das Leben der afghanischen Kindern, Frauen und Männern Auswirkungen haben, den Zugang zu
Gesundheit und Bildung behindern, und ein Umfeld der Unsicherheit mit der ständigen Bedrohung durch den Tod,
Verstümmelung, schwere Körperverletzung und Zerstörung von Eigentum schaffen (UNAMA, 2012, S. 4).
125 Diese Bedingungen haben in Kabul aber nicht zur Vertreibung der dortigen Bevölkerung geführt und auch nicht - zusammen mit
Binnenfluchtbewegungen nach Kabul - zum Zusammenbruch einer zunächst vorhanden gewesenen sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Infrastruktur. Vielmehr sind seit 2002 durchgehend gerade auch in Kabul internationale staatliche und
nichtstaatliche Hilfsorganisationen in einem erheblichen Umfang tätig, um erstmals nach über zwanzig Jahren Gewalt und
Zerstörung aufgrund vorangegangener bewaffneter Konflikte und der Taliban-Herrschaft wirtschaftliche, soziale und politische
Strukturen wieder herzustellen bzw. neu zu errichten. Dem entspricht es, dass seit 2002 4,7 Millionen afghanische Flüchtlinge
in ihr Heimatland zurückgekommen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Stand: März 2013, S. 17), von denen der
Hauptanteil nach Kabul zurückgekehrt bzw. ursprünglich aus einem anderen Herkunftsgebiet stammend dort geblieben ist
(Daisuke Yoshimura, Sicherheitslage in Afghanistan und humanitäre Lage in Kabul, Asylmagazin 12/2011, S. 406 [408, 410]).
126 (3) Dem hilfsweise gestellten Beweisantrag des Klägers war nicht nachzugehen. Zum einen benennt er keine beweisbare
Tatsache, sondern zielt auf Wertungen wie „absolut katastrophale Verhältnisse“, „absolut menschenunwürdige Verhältnisse in
jeglicher Beziehung“, die „einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleichkommen“
und mit denen „die unmenschliche und erniedrigende Behandlung mit einer Gefahr für Leib und Leben einhergehen, was
eindeutig gegen die Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoße“, und ist
damit unzulässig.
127 Im Übrigen ist aber die allgemeine humanitäre Situation einschließlich der in den Flüchtlingslagern bzw. informellen
Siedlungen in Kabul weder dem afghanischen Staat unmittelbar zurechenbar noch, soweit er keinen ausreichend Schutz bieten
sollte, wesentlich auf die Aktionen der ihn bekämpfenden Akteure oder bei Annahme eines bewaffneten Konflikts auf
Handlungen der Konfliktparteien zurückzuführen. Sie ist neben Naturkatastrophen und Armut bedingt durch Vertreibung und
Zerstörung während Auseinandersetzungen, die stattgefunden haben, bevor die Entwicklung aus der der heutige afghanische
Staat als Akteur bzw. Zurechnungssubjekt (vgl. Art. 6 QRL) erst hervorgegangen ist, in Gang gesetzt war. Deshalb kann auch
dann, wenn der Kläger in Kabul mit seiner Familie lediglich in einer informellen Siedlung unterkommen könnte, nicht der
Maßstab der Entscheidung M.S.S. gegen Belgien und Griechenland zur Anwendung kommen und zur Bewertung der
schlechten humanitären Bedingungen als unmenschliche Behandlung führen.
128 (4) Selbst bei Anwendung dieses Maßstabs hätte der Kläger aber keinen Anspruch auf die Feststellung eines
Abschiebungsverbots § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, ohne dass dem Beweisantrag nachzugehen wäre. Zunächst ist
die Frage, ob der aus Kabul stammende Kläger mit seiner Familie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gezwungen sein würde,
dort in einem Flüchtlingslager zu leben, nicht, wie hier beantragt, allgemein ohne Bezug auf die konkreten Verhältnisse durch
ein Sachverständigengutachten zu klären. Denn, selbst wenn man den Beweisantrag so verstehen wollte, stellt sich im
vorliegenden Fall diese Frage nicht in dieser allgemeinen Weise.
129 Der Kläger hat mit seinen Eltern in Kabul gelebt, in Kabul die Schule besucht und eine Fachschulausbildung als Schlosser –
ohne Abschluss – absolviert, seine jetzige Ehefrau hat noch bis 2011 dort gewohnt. Wie dargelegt hat der Kläger in den letzten
Jahren in Kabul seinen - inzwischen verstorbenen - Vater, der ein Ladengeschäft betrieb, besucht und zuletzt im Jahre 2011
seine Frau von dort ins Bundesgebiet nachgeholt. Deren Eltern leben noch in Kabul und sein Schwiegervater steht in einem
Beschäftigungsverhältnis. Dementsprechend bieten seine persönlichen Verhältnisse keine Anhaltspunkte dafür, dass er in
Kabul mit seiner Familie gezwungen wäre, in einem der Flüchtlingslager, in denen weitgehend Binnenflüchtlinge
untergekommen sind, zu leben.
130 Unabhängig hiervon bieten diese Umstände genügend und ausreichende aktuelle Anknüpfungspunkte, die der Annahme
entgegenstehen, dass der Kläger keine notwendigen familiären und sozialen Verbindungen aufbauen könnte, sondern als
völlig Fremder mit seiner Familie länger als vertretbar vom Zugang zu den für das dortige Überleben notwendigsten Gütern
ausgeschlossen wäre. Damit wäre seine Situation, auch dann, wenn er mit seiner Familie zunächst nur in einem Lager oder
einer informellen Siedlung unterkommen könnte, nicht mit der von Binnenflüchtlingen aus anderen Landesteilen, die nicht in ihr
Herkunftsgebiet zurückkehren können und vollständig auf staatliche Unterstützung gewiesen sind, vergleichbar. Ob die
Verhältnisse in den Siedlungen bzw. Lagern in Kabul im Rahmen einer Fluchtalternative als zumutbar anzusehen wären, ist
hier nicht entscheidungserheblich.
131 Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind damit nicht erfüllt.
132 3. Für den Kläger, bei dem wie dargelegt keine Gefahr erhöhende Umstände vorliegen, besteht nach Überzeugung des Senats
auf der Grundlage seines Vorbringens bei einer Rückkehr mit seiner Familie in seinem Herkunftsland auch keine individuelle
erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung. Hierfür ist
nichts vorgetragen und nichts ersichtlich.
133 Damit lagen die Voraussetzungen für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens des nationalen Abschiebungsverbots nach
§ 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung vor.
III.
134 Das Widerrufsrecht war auch nicht verwirkt.
135 Die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens bedeutet, dass ein Recht nicht mehr
ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände
hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist
insbesondere dann der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen
durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete
ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt würde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen
in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein
unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr. des BVerwG, vgl. BVerwG, Urteil vom 27.01.2010 - BVerwG 7 A 8.09 - juris
m.w.N.).
136 Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zwar hat das Bundesamt erst mehr als zwei Jahre nach Einleitung des
Verfahrens und nach Anhörung des Klägers entschieden. Es hat aber mit der Einleitung und Anhörung zu erkennen gegeben,
dass es den Widerruf beabsichtigt, ohne zu einem späteren Zeitpunkt ausdrücklich oder durch ein entsprechendes, über die
Untätigkeit hinausgehendes Verhalten zu erkennen zu geben, dass es diese Absicht auf Dauer aufgegeben habe. Auch ein
Verhalten des Klägers aufgrund eines Vertrauens darin, dass kein Widerruf erfolgen wird, ist nicht erkennbar oder geltend
gemacht.
137 Der Widerruf war damit rechtmäßig und die Klage insoweit unbegründet.
B.
138 Die Berufung hat auch hinsichtlich der Aufhebung der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und Abs.
7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2 des Bescheids), Erfolg.
139 Die isolierte Aufhebung hat das Verwaltungsgericht damit begründet, dass das Bundesamt das durch Bescheid vom
21.02.2007 festgestellte Abschiebungsverbot nicht hätte widerrufen dürfen und es damit auch an einem Anlass gefehlt habe,
das Nichtvorliegen weiterer Abschiebungsverbote festzustellen, so dass diese ohne sachliche Prüfung aufzuheben waren.
Jedenfalls nachdem der Widerruf aber, wie dargelegt, rechtmäßig war, hätte eine isolierte Aufhebung der Ziffer 2 der
Entscheidung des Bundesamts nicht erfolgen dürfen, weil eine hierauf gerichtete Klage hinsichtlich der nationalen
Abschiebungsverbote mangels Rechtsschutzbedürfnis (I.) und hinsichtlich der unionsrechtlich begründeten
Abschiebungsverbote wegen des Vorrangs der Verpflichtungsklage (II.) unzulässig ist.
I.
140 Im Rahmen des Widerrufs eines nationalen Abschiebungsverbots hat das Bundesamt u.a. auch zu prüfen, ob nationale
Abschiebungsverbote aktuell vorliegen. Für die Feststellung des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens nationaler
Abschiebungsverbote im Übrigen (hier: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in unmittelbarer Anwendung und § 60 Abs. 5 AufenthG) ist
insoweit zwar kein Raum, weil aufgrund der Unteilbarkeit des nationalen Abschiebungsschutzes der Widerruf bereits
voraussetzt, dass auch im Übrigen kein nationales Abschiebungsverbot eingreift. Dies rechtfertigt allerdings nicht die isolierte
Aufhebung der insoweit neben dem Widerruf getroffenen Feststellungen, weil die zusätzliche, ausdrückliche Feststellung
gegenüber dem Widerruf keine eigenständige Beschwer enthält.
II.
141 Wie dargelegt, war entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts im vorliegenden Fall der Widerruf in Ziffer 1 des Bescheids
des Bundesamts rechtmäßig und nicht aufzuheben. Jedenfalls vor dem Hintergrund des - rechtmäßigen - Wiederaufgreifen des
Verfahrens hinsichtlich des nationalen Abschiebungsschutzes war das Bundesamt berechtigt, auch das Verfahren hinsichtlich
der Feststellungen zum Vorliegen von unionsrechtlich begründetem Abschiebungsschutz wiederaufzugreifen (1.), ohne dass es
hier auf die materielle Richtigkeit des hierzu ergangen Zweitbescheids ankommt (2.).
142 1. Das Bundesamt ist nach § 51 Abs. 5 in Verbindung mit § 48 Abs. 1 VwVfG berechtigt, das Verfahren zur Feststellung von
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG auf Antrag des Betroffenen oder, wie hier, anlässlich des
Widerrufs eines nationalen Abschiebungsverbots von Amts wegen auch dann wieder aufzugreifen, wenn die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen und nach aktueller Prüfung einen Zweitbescheid zu erlassen (vgl. BVerwG, Urteil
vom 22.10.2009 - 1 C 15.08 -, juris). Für dieses Vorgehen spricht im Falle eines rechtmäßigen Widerrufs eines nationalen
Abschiebungsverbots vor allem der Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz in Asylverfahren. Einen solchen
Zweitbescheid hat das Bundesamt hier zu den unionsrechtlich begründeten Abschiebungshindernissen erlassen und hierdurch
auch insoweit den Rechtsweg erneut eröffnet.
143 2. Ob die vom Bundesamt insoweit aktuell getroffenen - wiederholenden - Feststellungen materiell-rechtlich zutreffend sind, ist
hier nicht als Frage der Begründetheit der Berufung der Beklagten gegen die isolierte Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids
des Bundesamts zu prüfen. Unabhängig davon, ob die materielle Rechtswidrigkeit der in Ziffer 2 des Bescheids getroffenen
Feststellungen zu den unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverboten ihre isolierte Aufhebung rechtfertigen könnte oder
eine materiell begründete isolierte Anfechtungsklage bereits unzulässig wäre, hat der Kläger, der keinen Verpflichtungsantrag
gestellt hat, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt, dass er nicht nur keine positive Entscheidung über das
Vorliegen von unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverboten begehrt, sondern den Anfechtungsantrag nicht gegen die
erneut hierzu getroffenen Feststellungen gerichtet hat.
144 Die Berufung hat damit insgesamt Erfolg.
C.
145 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylVfG.
D.
146 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.