Urteil des VG Stuttgart vom 09.04.2014

VG Stuttgart: aufschiebende wirkung, asylbewerber, änderung der tatsächlichen verhältnisse, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, erlass, ablauf der frist, genehmigung, befreiung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 9.4.2014, 8 S 1528/13
Leitsätze
1. Der Regelungsumfang einer Baugenehmigung hinsichtlich der mit ihr zugelassenen Art der
Nutzung einschließlich ihrer Variationsbreite bzw. ihrer Zweckbestimmung richtet sich nach der
Bezeichnung des Vorhabens in der Genehmigung sowie den weiteren Regelungen im
Genehmigungsbescheid, den Bauvorlagen und sonstigen in Bezug genommenen Unterlagen.
2. § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist eine eigenständige verfahrensrechtliche Grundlage zum Schutz
und zur realen Durchsetzung der aufschiebenden Wirkung. Sie tritt gleichberechtigt neben die
rechtsgebietsspezifischen behördlichen Anordnungsbefugnisse.
3. Für den Erlass einer Sicherungsmaßnahme nach § 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO kommt es
in der Regel allein auf die Frage an, ob dem Rechtsbehelf des Antragstellers aufschiebende
Wirkung zukommt. Eine Interessenabwägung ist regelmäßig nicht geboten.
4. Bei der Auswahl einstweiliger Sicherungsmaßnahmen nach § 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO
und ihrem konkreten Inhalt steht dem Verwaltungsgericht eine Gestaltungsbefugnis zu. In deren
Ausübung kann es zur Wahrung gegenläufiger öffentlicher Interessen geboten sein, einstweilige
Sicherungsmaßnahmen nicht unmittelbar mit Erlass des gerichtlichen Beschlusses wirksam
werden zu lassen, insbesondere um Rechte Dritter zu wahren, die am Verfahren auf Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes nicht beteiligt sind.
Tenor
Die Beschwerden der Antragsgegnerin und des Beigeladenen zu 1 gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 2. Juli 2013 - 11 K 1561/13 - werden mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass die Nutzung mit Wirkung zum 1. Juni 2014 zu untersagen ist.
Die Antragsgegnerin und der Beigeladene zu 1 tragen jeweils die Hälfte der Gerichtskosten und
der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Beschwerdeverfahren. Im Übrigen tragen die
Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten im Beschwerdeverfahren jeweils selbst.
Der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen wird unter Änderung der
Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen auf jeweils 3.750,-- EUR
festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässigen Beschwerden (§§ 146 f. VwGO) sind nicht begründet. Die im
Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs.
4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben zu einer Änderung des Beschlusses des
Verwaltungsgerichts keinen Anlass (II.) Zur Wahrung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit ist es allerdings geboten, die Antragsgegnerin zum - umgehenden -
Erlass einer erst ab dem 01.06.2014 wirksamen Nutzungsuntersagung zu verpflichten (III.).
I.
2 Der Senat kann trotz des Antrags der Antragsgegnerin vom 08.04.2014, zur gütlichen
Beilegung des Rechtsstreits einen Erörterungstermin vor dem Berichterstatter
durchzuführen (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO), und ihrer Anregung, die Beteiligten
auch gegen den Willen der Antragsteller an den Güterichter zu verweisen (§ 173 Satz 1
VwGO i.V.m. § 278 Abs. 5 ZPO), über die Beschwerde entscheiden, insbesondere ohne
zuvor und gesondert über diese Anträge und Anregungen zu entscheiden. Der Senat hält
einen Verweis der Beteiligten an den Güterichter für eine Güteverhandlung sowie weitere
Güteversuche darüber hinaus für nicht angebracht.
3 1. Der Antrag auf Durchführung eines Erörterungstermins ist rechtlich gesehen eine bloße
Anregung an das Gericht, über die nicht förmlich entschieden werden muss (vgl. BFH,
Beschluss vom 30.10.1997 - X B 12/97 - BFH/NV 1998, 599). Ebenso sind Anträge auf
einen Verweis an den Güterichter zur Durchführung einer Güteverhandlung allein solche
Anregungen (vgl. Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auf. 2013, § 278 Rn. 17),
über die nicht förmlich zu entscheiden ist.
4 2. Auch wenn der Verweis der Beteiligten an den Güterichter zur Durchführung einer
Güteverhandlung rechtlich wohl nicht das Einverständnis aller Beteiligter erfordern dürfte
(Sächsisches OVG, Beschluss vom 28.01.2014 - 1 A 257/10 - juris Rn. 1), erscheint ein
solcher Verweis hier ebenso wenig sinnvoll wie die Durchführung eines
Erörterungstermins vor dem Berichterstatter. Denn die Antragsteller haben ausdrücklich
erklärt, an der vorgeschlagenen Mediation kein Interesse mehr zu haben. Angesichts der
insgesamt langen Dauer des Beschwerdeverfahrens (zu den Gründen unten unter III.)
geriete ein Verweis an den Güterichter gegen den Willen der Antragsteller mit der aus Art.
19 Abs. 4 GG erwachsenden Verpflichtung des Senats, effektiven Rechtsschutz in
angemessener Zeit zu gewähren (BVerfG, Beschluss vom 23.05.2012 - 2 BvR 610/12 -
BVerfGK 19, 407 (412)), in Konflikt.
II.
5 Die mit den Beschwerden vorgebrachten Rügen gebieten keine Änderung des
angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
6 1. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist mit dem Bauantrag des Beigeladenen zu 1
vom 11.06.2012 nicht allein die Aufstockung einer Wohnheimkapazität von 51 auf 68
Plätze zur Genehmigung gestellt und am 21.09.2012 von der Antragsgegnerin genehmigt
worden. Vielmehr umfassen Bauantrag und Baugenehmigung die Änderung der Nutzung
des ganzen Gebäudes als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber. Daher erfasst die
vom Senat mit Beschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/13 - angeordnete aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs und zwischenzeitlich der ihm nachgefolgten Klage diesen
gesamten Genehmigungsumfang.
7 a) Das Beschwerdevorbringen des Beigeladenen zu 1, das Baugenehmigungsverfahren
sei wegen der zusätzlich erhöhten Nutzung von 51 auf 68 Unterbringungsplätze
durchgeführt worden, liegt, wenn man es mit der Antragsgegnerin dahingehend verstehen
will, dass die Baugenehmigung vom 21.09.2012 ausschließlich wegen der geplanten
Erhöhung der Unterbringungskapazität bei gleichbleibender Nutzung als Wohnheim
beantragt worden sei (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 31.01.2014) und sie sich also
nur auf 17 weitere Wohnheimplätze beziehe, offensichtlich neben der Sache. Denn der
Beigeladene zu 1, dem als Bauherrn die inhaltliche Umschreibung und Umgrenzung des
Vorhabens obliegt, dessen Durchführung begehrt wird (BVerwG, Urteil vom 04.07.1980 - 4
C 99.77 - NJW 1981, 776 (zu § 29 BauGB); Senatsbeschluss vom 11.05.2011 - 8 S 93/11 -
NVwZ-RR 2011, 754 (756) (zu § 49 LBO); Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12.
Aufl. 2014, § 29 Rn. 6), hat mit seinem Bauantrag von 11.06.2012 ausdrücklich die
„Umnutzung bestehendes Wohn- und Bürogebäude mit Lagerräumen und
Gemeinschaftsunterkünfte zur Unterbringung von Personen nach dem
Flüchtlingsaufnahmegesetz (Asylbewerber)“, also nicht etwa allein die Erhöhung der
Anzahl von Wohnheimplätzen beantragt. Dem entsprechend wurde ihm durch die
Antragsgegnerin - sprachlich aber nicht inhaltlich abweichend - eine Nutzungsänderung
„Wohnheim mit Werkstatt und Schulungsräumen in Gemeinschaftsunterkunft für
Asylbewerber sowie Büros mit Lagerräumen“ genehmigt. Dass der Beigeladene zu 1 die
beabsichtigte vollständig neue Nutzung seines Gebäudes zur Genehmigung gestellt hat,
ergibt sich auch aus seinem Schriftsatz an die Antragsgegnerin im Widerspruchsverfahren
vom 15.07.2013. Darin hat er eine Befreiung „ausdrücklich beantragt und zwar für die 68
Unterkünfte, hilfsweise für die 51 bereits bestehenden Unterkünfte“. Daher irrt der
Beigeladene zu 1, wenn er behauptet, der Senatsbeschluss vom 14.03.2013 besage
nichts zur zulässigen Nutzung mit 51 untergebrachten Asylsuchenden.
8 bb) Die entsprechende Rüge der Antragsgegnerin aus ihrem Schriftsatz vom 31.01.2014
ist überdies deshalb nicht berücksichtigungsfähig, weil sie nach Ablauf der Frist zur
Beschwerdebegründung von einem Monat nach Bekanntgabe der angegriffenen
Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) erhoben worden ist, ohne dass zuvor
vorgebracht worden wäre, dass die Baugenehmigung vom 21.09.2012 sich nur auf eine
Kapazitätserhöhung bezogen hätte. Die Begründungsfrist war bereits mit Ablauf des
08.08.2013 abgelaufen, nachdem der erstinstanzliche Beschluss am 08.07.2013 zugestellt
worden war.
9 2. Entgegen der Auffassung der Beschwerden hat das Verwaltungsgericht zutreffend
entschieden, dass die dem Beigeladenen zu 1 erteilten Baugenehmigungen vom
06.11.1975 und 18.05.1992 dem Anspruch der Antragsteller auf die beantragten
Sicherungsmaßnahmen nach § 80a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO deshalb nicht
entgegenstehen, weil sie die genehmigte und aufgenommene Nutzung als
Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber nicht abdecken. Diese Nutzung ist also nicht -
bezogen auf 51 Plätze - doppelt genehmigt. Denn die neue, aufgenommene Nutzung
verlässt die Variationsbreite der ursprünglich genehmigten Nutzung und stellt sich damit
als genehmigungspflichtige Nutzungsänderung im Sinne sowohl des Bauordnungsrechts
(§ 49, 2 Abs. 12, 50 Abs. 2 LBO) als auch des Bauplanungsrechts (§ 29 Abs. 1 BauGB)
dar. Die Baugenehmigungen vom 06.11.1975 und 18.05.1992 legalisieren die Nutzung
des Gebäudes des Beigeladenen zu 1 als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber
daher nicht, und zwar auch nicht teilweise.
10 a) Eine Nutzungsänderung im bauordnungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn der Anlage -
wenigstens teilweise - eine neue, d. h. andere Zweckbestimmung gegeben wird (Sauter,
LBO, Stand: März 2010, § 2 Rn. 129). Der bauplanungsrechtliche Begriff der
Nutzungsänderung hingegen erweist sich als enger, weil er bodenrechtlichen Bezug hat
(VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.09.2012 - 3 S 2236/11 - NVwZ-RR 2012,
919 (920 f.)). Eine Nutzungsänderung im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB liegt mithin vor,
wenn die Variationsbreite der genehmigten Nutzung verlassen wird und dadurch
bodenrechtliche Belange neu berührt werden können (BVerwG, Urteile vom 18.05.1990 -
4 C 49.89 - NVwZ 1991, 264 und vom 18.11.2010 - 4 C 10.09 - NVwZ 2011, 269 ff.;
Beschlüsse vom 14.04.2000 - 4 B 28.00 - juris Rn. 6 und vom 07.11.2002 - 4 B 64.02 -
BRS 66 Nr. 70; Senatsbeschluss vom 25.10.2012 - 8 S 869/12 - ZfBR 2013, 60). Die
Variationsbreite einer genehmigten Nutzung wird überschritten, wenn das bisher
charakteristische Nutzungsspektrum erweitert wird (BVerwG, Urteil vom 27.08.1998 - 4 C
5.98 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 190 S. 64). Bodenrechtliche Belange können
berührt sein, wenn der neuen Nutzung unter städtebaulichen Gesichtspunkten eine andere
Qualität zukommt (BVerwG, Beschluss vom 14.04.2000, a.a.O.), für die neue Nutzung
weitergehende bodenrechtliche Vorschriften gelten als für die alte oder wenn sich die
Zulässigkeit der neuen Nutzung zwar nach derselben bodenrechtlichen Vorschrift
bestimmt, nach dieser Vorschrift aber anders zu beurteilen sein kann als die frühere
Nutzung (BVerwG, Urteil vom 14.01.1993 - 4 C 19.90 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr.
155), oder wenn die geänderte Nutzung für die Nachbarschaft erhöhte Belastungen mit
sich bringt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.11.2002, a.a.O.). Keine Nutzungsänderung im
Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB ist die bloße Intensivierung der Nutzung durch Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse ohne Einfluss des Bauherrn (BVerwG, Urteil vom
29.10.1998 - 4 C 9.97 - NVwZ 1999, 417 und Beschluss vom 11.07.2001 - 4 B 36.01 -
BRS 64 Nr. 73).
11 Der Regelungsumfang einer Baugenehmigung hinsichtlich der mit ihr zugelassenen Art
der Nutzung einschließlich ihrer Variationsbreite bzw. ihrer Zweckbestimmung richtet sich
nach der Bezeichnung des Vorhabens in der Genehmigung sowie den weiteren
Regelungen im Genehmigungsbescheid, den Bauvorlagen und sonstigen in Bezug
genommenen Unterlagen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.10.2002 - 5 S
1706/01 - juris Rn. 65; Bayerischer VGH, Beschluss vom 09.09.2013 - 14 ZB 12.1899 -
BauR 2014, 233). Er kann damit wesentlich auch durch den Bauantrag mitbestimmt
werden, insbesondere wenn der Bauherr selbst nur einen engen Rahmen zulässiger
Nutzungen zur Genehmigung stellt und damit das Vorhaben eingrenzt.
12 b) An diesen Maßstäben gemessen erweist sich die Nutzung des Gebäudes des
Beigeladenen zu 1 als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber sowohl im
bauordnungsrechtlichen wie auch im bauplanungsrechtlichen Sinne als eine Änderung
der bislang genehmigten Nutzung als „Lehrlingswohnheim“ und ist diese deshalb auch
genehmigungsbedürftig.
13 aa) Die Variationsbreite der bisherigen, bestandskräftig genehmigten Nutzung wird mit der
Nutzung des Gebäudes als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber überschritten. Es
handelt sich um eine Nutzungsänderung im Sinne der Landesbauordnung, weil dem
Gebäude eine relevante neue Zweckbestimmung gegeben wird. Denn es wird nicht mehr
als das mit den Baugenehmigungen vom 06.11.1975 und 18.05.1992 genehmigte
„Lehrlingswohnheim“ genutzt. Der Bereich der vom Bauherrn mit seinen
Genehmigungsanträgen selbst vorgegebenen, bisherigen Zweckbestimmung wird
verlassen. Den Baugenehmigungen ist nicht zu entnehmen, dass die Eingrenzung
“internatsmäßiges Lehrlingswohnheim“ (Baugenehmigung vom 06.11.1975) bzw.
„Lehrlingswohnheim“ (Baugenehmigung vom 18.05.1992) lediglich die damals konkret
beabsichtigte Nutzung beschreiben, die zur Genehmigung gestellte Nutzungsart aber eine
darüber hinausgehende Variationsbreite sonstiger Nutzungen umfassen sollte.
14 bb) Es liegt auch eine Nutzungsänderung im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB vor. Denn die
bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der bisherigen Nutzung ist möglicherweise
abweichend von der nunmehr zur Genehmigung gestellten Nutzung zu beurteilen, weil sie
bodenrechtliche Belange neu berühren kann.
15 (1) Ausgehend von der dem Beigeladenen zu 1 am 06.11.1974 erteilten Baugenehmigung
ergibt sich die mögliche Berührung bodenrechtlicher Belange bereits daraus, dass das
Vorhaben „Einrichtung einer Berufsfördermaßnahme durch den Caritas-Verband für
Württemberg - Einbau eines internatsmäßigen Lehrlingsheims“ „unter Befreiung von § 30
BBauG i.V. mit § 8 BauNVO“ genehmigt worden ist. Denn eine - teilweise - neue
Zweckbestimmung des Vorhabens, wie sie hier getroffen worden ist (siehe I. 2. b) aa)), ist
immer geeignet, für die Ausübung des Befreiungsermessens aus § 31 Abs. 2 BauGB neue
wesentliche Umstände aufzuwerfen. Dabei ist es ohne Belang, ob für das neue Vorhaben
ein anderer Befreiungstatbestand (§ 31 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB) eingreift. Denn die von
der Behörde geforderte Ermessensentscheidung unterscheidet sich deutlich von dem zu
prüfenden Tatbestand (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.04.2008 - 4 B 16.08 - BRS 73
(208) Nr. 69 Rn. 7). Ebenso ist es unerheblich, ob die Rechtmäßigkeit einer Befreiung, die
der Senat hinsichtlich der geplanten Nutzungsänderung sehr kritisch sieht
(Senatsbeschluss vom 17.12.2013 - 8 S 2350/13), tatsächlich anders zu beantworten ist
als bei der 1975 erteilten Befreiung. Denn eine Nutzungsänderung im Sinne des § 29 Abs.
1 BauGB liegt bereits dann vor, wenn die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit
möglicherweise abweichend zu beurteilen ist.
16 (2) Aber auch unbeschadet der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit einer Befreiung von
den Festsetzungen des Bebauungsplans zur zulässigen Nutzungsart unterscheidet sich
die jetzt zur Genehmigung gestellte Nutzung als Gemeinschaftsunterkunft für
Asylbewerber bauplanungsrechtlich erheblich von der bislang genehmigten Nutzung als
„Lehrlingswohnheim“.
17 Für die Beurteilung, ob eine Anlage für soziale Zwecke im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2
BauNVO 1968 - um eine solche handelt es sich bei der 1975 genehmigten Einrichtung
einer Berufsförderungsmaßnahme durch den Caritas-Verband mit dem Einbau eines
internatsmäßigen Lehrlingsheims mit Werkstattgebäude - mit der allgemeinen
Zweckbestimmung und der konkreten Eigenart des Gewerbegebiets vereinbar ist, kommt
es darauf an, ob die Anlage eine Funktion im Zusammenhang mit oder für eine zulässige
Hauptnutzungsart erfüllt (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB,
Stand: Januar 2013, § 8 BauNVO Rn. 44). Dies ist bei einem Lehrlingswohnheim mit
angeschlossener Werkstätte im Gewerbegebiet zu bejahen. Der erstrebte Zweck des
Wohnens am Ort der Ausbildungswerkstätte führt zu einer engen funktionalen
Verklammerung der wohnähnlichen Nutzung mit der typischen, allgemein im
Gewerbegebiet zulässigen gewerblichen Hauptnutzung (vgl. § 8 Abs. 2 BauNVO).
Hingegen fehlt eine solche Ausrichtung bei einer Gemeinschaftsunterkunft für
Asylbewerber - deren Einordnung als Anlage für soziale Zwecke einmal unterstellt (vgl.
dazu BVerwG, Beschluss vom 04.06.1997 - 4 C 2.96 - NVwZ 1998, 173 und
Senatsbeschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 - VBlBW 2013, 384) - offensichtlich.
Daraus ergibt sich, dass die ursprünglichen Baugenehmigungen die Nutzung des
Gebäudes als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber nicht legalisieren, sondern
vielmehr mit der veränderten Nutzung bodenrechtliche Belange neu berührt sein können,
so dass sich die Frage der Genehmigungsfähigkeit unter bodenrechtlichen Aspekten neu
stellt.
18 (3) Soweit der Beigeladene zu 1 geltend macht, dass die „Lehrlinge aus schwierigen
familiären Verhältnissen stammten“, diese daher am Wochenende von der Möglichkeit,
ihre Familien zu besuchen, nur eingeschränkt Gebrauch gemacht hätten und damit
während der gesamten Ausbildungszeit grundsätzlich rund um die Uhr in dem Wohnheim
untergebracht gewesen seien, vermag dies an der obigen Einschätzung nichts zu ändern.
Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass für die meisten der einer
Gemeinschaftsunterkunft zugewiesenen Asylbewerber die Unterkunft faktisch für den
gesamten Tag zum Lebensmittelpunkt wird, während bei der bislang genehmigten
Nutzung werktäglich ein Bewohnen der Zimmer durch die Auszubildenden während der
Arbeits- und Schulzeiten faktisch nachgerade ausgeschlossen gewesen ist. Unerheblich
ist dabei, ob die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit tatsächlich abweichend zu beurteilen
ist oder ob die ursprüngliche Genehmigung - die unter Befreiung von § 8 BauNVO erteilt
worden ist - rechtmäßig ergangen ist. Denn für das Vorliegen einer Nutzungsänderung im
bauplanungsrechtlichen Sinne kommt es nur auf den Umstand an, dass die
bodenrechtlichen Fragen neu aufgeworfen sind. Die vom Beigeladenen zu 1 diskutierte
Frage des Aufenthalts an den Wochenenden ist daher unerheblich. Ebenfalls unerheblich
sind insoweit die im Zuge der Nutzungsänderung vorgenommenen baulichen
Veränderungen und deren Genehmigungsbedürftigkeit.
19 (4) Das dem Vortrag des Beigeladenen zu 1 entsprechende Beschwerdevorbringen der
Antragsgegnerin ist aus den gleichen Gründen ebenfalls erfolglos. Soweit sie darüber
hinaus rügt, dass sich die neue, umstrittene Nutzung innerhalb der Variationsbreite der
genehmigten Wohnheimnutzung bewege, weil der Zweck, nämlich die wohnähnliche
Nutzung, sowie der Umfang, nämlich entsprechend einer Mitteilung des Beigeladenen zu
2 51 Personen, vollständig gewahrt bleibe, gebietet auch dies keine andere rechtliche
Beurteilung. Denn für das Vorliegen einer Nutzungsänderung - sowohl im
bauplanungsrechtlichen wie auch bauordnungsrechtlichen Sinne - kommt es nicht
entscheidend darauf an, ob die bisherige und die beabsichtigte Nutzung unterschiedlichen
Nutzungskategorien aus den Katalogen der Baunutzungsverordnung unterfallen
(Lechner/Busse, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand: Februar 2012, Art. 57
Rn. 413).
20 (5) Auch soweit die Antragsgegnerin geltend macht, die etwaige unterschiedliche
funktionale Ausrichtung des Lehrlingswohnheims einerseits und des
Asylbewerberwohnheims andererseits rechtfertige schon deshalb keine unterschiedliche
Behandlung, weil eine Anlage für soziale Zwecke, in der auch gewohnt werde, nur dann
nicht im Widerspruch zur allgemeinen Zweckbestimmung des Gewerbegebiets stehe,
wenn es sich um keine auf Dauer angelegte Unterbringung handele, so dass das
Lehrlingswohnheim und das Asylbewerberwohnheim jedenfalls rechtlich gleich zu
behandeln seien, vermag dies ihrer Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn
selbst wenn die genehmigte Nutzung des Gebäudes des Beigeladenen zu 1 als
„Lehrlingswohnheim“ materiell rechtswidrig (gewesen) sein sollte, weil jegliches
Wohnheim in Gewerbegebieten unzulässig sein sollte (vgl. BVerwG. Urteil vom
25.11.1983 - 4 C 21.83 - BVerwGE 68, 213), könnte der funktionale Zusammenhang der
Nutzung des Wohnheims mit der in unmittelbarer Nähe untergebrachten
Ausbildungswerkstatt unter Umständen eine andere Bewertung der Zulässigkeit einer
Befreiung nahelegen, was die (Nicht-)Berührung der Grundzüge der Planung (§ 31 Abs. 2
BauGB) angeht. Denn jedenfalls die ausdrücklich gewollte räumliche Verbindung von
Wohnen und theoretischem sowie praktischem Unterricht, wie sie sich aus Seite 8 der
Baugenehmigung vom 06.11.1975 ergibt, könnte dazu führen, dass diese Nutzungsform in
Gestalt einer Anlage für soziale Zwecke allein in einem Gewerbegebiet realisiert werden
könnte.
21 3. Entgegen der Auffassung der Beschwerden hat das Verwaltungsgericht zutreffend
entschieden, dass die Missachtung der aufschiebenden Wirkung ohne weiteres eine
Sicherungsmaßnahme rechtfertigt, ohne dass es hierfür auf eine Interessenabwägung
ankommt.
22 a) Soweit die Beschwerden geltend machen, dass die Voraussetzungen des § 65 Satz 2
LBO für eine Nutzungsuntersagung schon tatbestandlich nicht vorlägen, aber jedenfalls
keine Ermessensreduzierung zugunsten der Antragsteller eingetreten sei, kann sie damit
den erstinstanzlichen Beschluss nicht erfolgreich in Zweifel ziehen. Denn das
Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass der Erlass einer
Sicherungsmaßnahme im Sinne des § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht davon abhängt, ob
die Voraussetzungen des § 65 Satz 2 LBO erfüllt sind. Denn § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist
eine eigenständige verfahrensrechtliche Grundlage zum Schutz und zur realen
Durchsetzung der aufschiebenden Wirkung (Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl.
2010, § 80a Rn. 21; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, §
80a Rn. 40; Gersdorf, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 01.10.2013, § 80a Rn. 27;
Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 80a Rn. 10; Kopp/Schenke, VwGO, 19.
Aufl. 2013, § 80a Rn. 14). Diese Regelungsmöglichkeit tritt gleichberechtigt neben die
rechtsgebietsspezifischen behördlichen Anordnungsbefugnisse (BVerwG, Urteil vom
28.01.1992 - 7 C 22.91 - BVerwGE 89, 357 (362); vgl. auch BVerwG, Beschluss vom
09.02.2012 - 9 VR 2.12 - NVwZ 2012, 570 Rn. 6).
23 b) Die Rügen der Beschwerden, das Verwaltungsgericht habe unzutreffend die
Erfolgsaussichten der Klagen der Antragsteller bei seiner Entscheidung über den Antrag
nach § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht in den Blick genommen, vermögen ebenfalls nicht zu
verfangen. Denn diese sind im Verfahren zur Sicherung der Rechte der Antragsteller aus
der von ihnen gerichtlich erstrittenen aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen
die dem Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung ohne Belang.
24 aa) § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO vermittelt einen von der materiell-rechtlichen Rechtslage
unabhängigen verfahrensrechtlichen Schutz. Es steht hier die Durchsetzung der
gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs, also die
Sicherstellung der Effektivität des gewährten Rechtsschutzes, nicht aber die Realisierung
eines materiellen verwaltungsrechtlichen Anspruchs inmitten. Einstweilige
Sicherungsmaßnahmen gegenüber der Missachtung der aufschiebenden Wirkung dienen
der Wahrung des mit Widerspruch bzw. Anfechtungsklage verfolgten Abwehrrechts z. B.
gegen die erteilte Genehmigung, nicht jedoch der Durchsetzung eines materiell-
rechtlichen Anspruch auf behördliches Einschreiten (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier,
VwGO, Stand: August 2012, § 80a Rn. 40). Der gegenteiligen Auffassung, die
Sicherungsmaßnahmen nach § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO nur bei hinreichenden
Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache für gerechtfertigt sieht (VGH
Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 03.08.1995 - 3 S 1078/95 - ESVGH 46, 29 und vom
22.10.2007 - 6 S 2237/07 - nicht veröffentlicht; OVG Berlin, Beschluss vom 26.02.1993 - 2
S 1/93 - NVwZ-RR 1993, 458; Thüringer OVG, Beschluss vom 28.07.1993 - 1 EO 1/93 -
LKV 1994, 110 (113)), vermag sich der Senat jedenfalls für den Fall nicht anzuschließen,
dass bereits eine gerichtliche Entscheidung über die Anordnung oder Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs ergangen ist. Sie übersieht, dass hier die
Rechte des Dritten zu schützen sind, die bei Nichtbeachtung der aufschiebenden Wirkung
seines Rechtsbehelfs bedroht sind (so auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
11.01.2000 - 10 B 2060/99 - NVwZ-RR 2001, 297), und dass die Missachtung der
aufschiebenden Wirkung per se ein rechtswidriges Verhalten darstellt (Puttler, in:
Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 80a Rn. 36). Allein dies rechtfertigt eine auf die
Effektuierung der aufschiebenden Wirkung gerichtete gerichtliche Anordnung (OVG
Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.08.2013 - 8 B 829/13 - DÖV 2013, 952; vgl. auch
Hessischer VGH, Beschluss vom 03.12.2002 - 8 TG 2177/02 - NVwZ-RR 2003, 345
(346)). Maßnahmen, die gegen eine umfassende gerichtliche Aussetzung der sofortigen
Vollziehbarkeit (hier nach § 212a Abs. 1 BauGB) verstoßen, sind zur Sicherung der
Rechte des Rechtsbehelfsführers auf dessen Antrag hin grundsätzlich zu untersagen,
ohne dass es darauf ankommen kann, ob ein gegenläufiges öffentliches Interesse besteht
(vgl. Christ, jurisPR-BVerwG, 11/2012 Anm. 5 unter C.). Da die Gerichte bei der
Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung eines Nachbarwiderspruch gegen eine
Baugenehmigung anzuordnen ist, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen
haben, bei der sowohl die öffentlichen als auch die betroffenen privaten Interessen zu
berücksichtigen sind und bei der die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs eine
wesentliche Rolle spielen, ist es nicht gerechtfertigt, diese Interessenabwägung erneut
vorzunehmen, wenn wegen der Nichtbeachtung der aufschiebenden Wirkung der Erlass
einer einstweiligen Sicherungsmaßnahme anzuordnen ist. Die Änderung von Umständen,
die eine abweichende Interessenabwägung zur aufschiebenden Wirkung des
Rechtsbehelfs rechtfertigen könnten, ist nach den Vorgaben des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
geltend zu machen.
25 bb) Daher kommt es für den Erlass einer Sicherungsmaßnahme nach § 80a Abs. 3, Abs. 1
Nr. 2 VwGO in der Regel allein auf die Frage an, ob dem Rechtsbehelf der Antragsteller
aufschiebende Wirkung zukommt. Dies ist nach deren Anordnung durch den Senat mit
Beschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 - VBlBW 2013, 384 und der Ablehnung eines u.a
mit der im Widerspruchsverfahren erteilten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB
begründeten Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 (Senatsbeschluss vom
17.12.2013 - 8 S 2350/13) der Fall. Auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache kommt es
nach den obigen Ausführungen nicht an. Die mit den Beschwerden geltend gemachte
Unterbringungssituation für Asylbewerber im Gebiet des Beigeladenen zu 2 rechtfertigt
keine davon ausnahmsweise abweichende Auslegung und kann allenfalls für die
Ausgestaltung der Sicherungsmaßnahme erheblich sein (vgl. III.).
III.
26 Da der Senat die Vollziehung des angegriffenen Beschlusses vom 02.07.2013 während
des Beschwerdeverfahrens ausgesetzt hat (Senatsbeschluss vom 18.09.2013), das
Beschwerdeverfahren vom 18.09.2013 bis zum 19.12.2013 im Hinblick auf das von der
Antragsgegnerin betriebene Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ausgesetzt
gewesen ist (Senatsbeschluss vom 18.09.2013), sodann auf Anregung des Senats bis
zum 26.02.2014 zwischen den Beteiligten die Möglichkeit einer gütlichen Einigung, etwa
unter Verweisung der Beteiligten an den Güterichter (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 278 Abs.
5 Satz 1 ZPO) erörtert worden ist und deshalb seit Ergehen des angegriffenen
Beschlusses über neun Monate vergangen sind, ist die den Verwaltungsgerichten durch
§§ 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO eingeräumte Gestaltungsbefugnis hinsichtlich der
Auswahl von Art und Inhalt der Sicherungsmaßnahme durch den Senat zur Sicherstellung
ihrer Verhältnismäßigkeit erneut auszuüben.
27 1. Bei der Auswahl einstweiliger Sicherungsmaßnahmen nach § 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2
VwGO und ihrem konkreten Inhalt steht dem Verwaltungsgericht eine Gestaltungsbefugnis
zu (zu § 123 Abs. 3 VwGO, § 938 ZPO: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom
22.01.1992 - 6 S 2781/91 - FEVS 43, 410 (414); vgl. auch Schoch, in:
Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 80a Rn. 41a und 55 sowie Puttler,
in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123 Rn. 109). Bei ihrer Ausübung sind das
Interesse desjenigen, dem die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs
zugutekommt, seine prozessuale Rechtsposition durchzusetzen, etwa davon
abweichende öffentliche Interessen sowie das private Interesse des durch den - in seiner
Vollziehung suspendierten - Verwaltungsakt Begünstigten, entgegen den
prozessrechtlichen Vorgaben von dem Verwaltungsakt Gebrauch zu machen, in den Blick
zu nehmen.
28 a) Einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten, dessen Rechtsbehelf
entweder aufgrund gesetzlicher (§ 80 Abs. 1 VwGO), behördlicher (§ 80a Abs. 1 Nr. 2
VwGO) oder gerichtlicher Anordnung (§ 80a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO)
aufschiebende Wirkung hat, dienen der faktischen Durchsetzung der aufschiebenden
Wirkung in der Lebenswirklichkeit gegenüber dem durch den Verwaltungsakt
Begünstigten (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 80a Rn.
38). Das Verfahren zielt auf die Schaffung eines vollstreckungsfähigen Titels nach § 168
Abs. 1 Nr. 1 VwGO (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.07.1996 - F 2 S 202/96 -
juris; Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Juni 2011, § 168 Rn. 14;
Kraft, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 168 Rn. 2). Unbeschadet der Möglichkeit, im
Vollstreckungsverfahren geltend zu machen, es sei unzumutbar, der gerichtlichen
Entscheidung zu folgen, ist grundsätzlich auch bei einer Entscheidung über den Erlass
von Sicherungsmaßnahmen eine mögliche Unzumutbarkeit einer solchen Maßnahme
gegenüber der Behörde und eine mögliche Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme
gegenüber dem von dem Verwaltungsakt Begünstigten oder weiteren, nicht am Verfahren
beteiligten Grundrechtsberechtigten zu prüfen. Solche Umstände können dem Erlass von
Sicherungsmaßnahmen allerdings nur in atypischen Ausnahmefällen entgegenstehen.
Denn in aller Regel ist es nicht unzumutbar, die geltende Rechtslage - also hier die
aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs - zu akzeptieren. Vielmehr ist dies für die an
einem Verfahren nach § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO beteiligte Behörde die aus ihrer Rechts-
und Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) resultierende Pflicht. Auch dem
gesetzesunterworfenen begünstigten Dritten wird die Akzeptanz der gerichtlichen
Entscheidung zugemutet. Die Ausnutzung des ihn begünstigenden Verwaltungsakts vor
dessen Bestandskraft erfolgt nämlich in jeder Hinsicht auf sein eigenes Risiko. Hingegen
kann es zur Wahrung gegenläufiger öffentlicher Interessen geboten sein, einstweilige
Sicherungsmaßnahmen nicht unmittelbar mit Erlass des gerichtlichen Beschlusses
wirksam werden zu lassen, insbesondere um Rechte Dritter zu wahren, die am Verfahren
auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht beteiligt sind.
29 b) Die von der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen zu 1 mit ihren Beschwerden
geltend gemachte „Unterbringungsnot“ für Asylbewerber im Rems-Murr-Kreis kann -
jedenfalls derzeit - keinen atypischen Ausnahmefall begründen, der bereits dem Erlass der
begehrten einstweiligen Maßnahme zur Sicherung der aufschiebenden Wirkung des
Rechtsbehelfs der Antragsteller entgegenstehen oder die Einräumung einer langen Frist
zum Erlass einer Nutzungsuntersagungsverfügung rechtfertigen könnte. Daher braucht
nicht entschieden zu werden, ob der Beigeladene zu 1 sich auf diese von ihm geltend
gemachten öffentlichen Interessen überhaupt berufen kann. Sein wirtschaftliches Interesse
an der weiteren Vermietbarkeit seines Gebäudes bis zu einem möglichen Wiedereintritt
der Vollziehbarkeit der angegriffenen Baugenehmigung (vgl. § 80b VwGO) ist ersichtlich
nicht geeignet, dem Erlass einstweiliger Sicherungsmaßnahmen entgegenzustehen.
30 aa) Den Beschwerden kann nicht entnommen werden, dass die Möglichkeiten der
Unterbringung in Behelfsunterkünften auf Grundstücken im Eigentum des Beigeladenen
zu 2 oder kreisangehöriger Gemeinden hinreichend geprüft worden ist. So enthält die vom
Beigeladenen zu 2 vorgelegte und von der Antragsgegnerin in Bezug genommene
Übersicht „Unterkünfte für Asylbewerber“ einen Verweis auf einen ablehnenden
Gemeinderatsbeschluss der Gemeinde Plüderhausen hinsichtlich einer
Containerunterkunft für 50 - 60 Personen. Damit ist das Fehlen von
Unterbringungsmöglichkeiten nicht hinreichend dargetan. Der Beigeladene zu 2 hat als
Träger der unteren Aufnahmebehörde (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 des Gesetzes über die Aufnahme
von Flüchtlingen (Flüchtlingsaufnahmegesetz - FlüAG) vom 19.12.2013 (GBl. S. 493); §§
15 Abs. 1 Nr. 1, 19 Abs. 1 Nr. 1 lit d) LVG) gegen die kreisangehörigen Gemeinden
Anspruch auf Mitwirkung bei der Beschaffung geeigneter Grundstücke und Gebäude, wie
dies jetzt auch ausdrücklich § 8 Abs. 3 Satz 4 FlüAG mit Wirkung vom 01.01.2014
bestimmt (Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung der Flüchtlingsaufnahme, über die
Erstattung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und zur Änderung
sonstiger Vorschriften vom 19.12.2013 (GBl. S. 493)). Ausgehend davon müsste dargetan
werden, weshalb der Anspruch auf Mitwirkung insoweit erfüllt sein soll oder seine
Durchsetzung nicht erfolgversprechend erscheint. Weiter ist die allgemeine Aussage
„keine Einigung mit Eigentümer wegen überzogener Preisvorstellungen“ hinsichtlich eines
Hotels im Stadtgebiet der Antragsgegnerin ebenfalls ungeeignet, um eine hinreichende
Prüfung der Unterbringungsmöglichkeiten darzutun. Denn ein solcher pauschaler Hinweis
kann es nicht rechtfertigen, die Effektivität des vorläufigen Rechtsschutzes zu beseitigen,
den die Antragsteller mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs
erreicht haben. Eine sparsame Haushaltsführung kann nicht zu Lasten der Antragsteller
dergestalt gehen, dass die Antragsgegnerin und der Beigeladene zu 1
Gerichtsentscheidungen, die den Antragstellern vorläufigen Rechtsschutz gewähren,
unbeachtet lassen.
31 bb) Diese Aussagen gelten jedenfalls angesichts des jedenfalls nunmehr als beharrlich zu
kennzeichnenden, rechtswidrigen Verhaltens des Beigeladenen zu 1, der die
Entscheidung des Senats zur Anordnung der aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
und der Klage in der Zeit vom 02.04.2013 (Datum der Zustellung des Senatsbeschlusses
vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12) bis zum 23.10.2013 (Datum der Zustellung des
verwaltungsgerichtlichen Beschlusses nach § 80 Abs. 7 VwGO - 11 K 2941/13) und dann
wieder vom 19.12.2013 (Datum der Zustellung des Senatsbeschlusses vom 17.12.2013 -
8 S 2350/13) bis zum heutigen Tage und damit insgesamt mehr als neun Monate ignoriert.
Angesichts dieses erheblichen Zeitablaufs wäre es dem Beigeladenen zu 2 und der
Antragsgegnerin möglich gewesen, andere Lösungen für die Unterbringung der
Asylbewerber zu finden, die den vorläufigen Rechtsschutz der Antragsteller achten.
Insbesondere wäre es erforderlich gewesen, nicht allein an die höhere Aufnahmebehörde
heranzutreten, sondern auch an das Integrationsministerium als oberste
Aufnahmebehörde unter Schilderung des vollständigen Sachverhalts heranzutreten, um
nach weiteren Unterbringungsmöglichkeiten für die in dem Gebäude des Beigeladenen zu
1 wohnenden Personen zu suchen und nötigenfalls eine Verteilung - auch - auf andere
Land- und Stadtkreise zu erreichen. Nur dann, wenn eine menschenwürdige
Unterbringung für die Bewohner des Gebäudes des Beigeladenen zu 1 in Baden-
Württemberg nicht erreichbar sein sollte, könnte vom Erlass einer Sicherungsmaßnahme
abgesehen werden. Dies setzte voraus, dass keiner der Bewohner der Unterkunft nach
dem 02.04.2013 - mit Ausnahme der Zeit vom 23.10.2013 bis zum 19.12.2013 -
zugewiesen worden ist.
32 2. Allerdings ist es zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegenüber den
Bewohnern des Gebäudes des Beigeladenen zu 1 erforderlich, dem Beigeladenen zu 2
durch ein zeitlich begrenztes Hinausschieben der zu verfügenden Nutzungsuntersagung
noch eine Möglichkeit zu eröffnen, als Träger der unteren Aufnahmebehörde im
Zusammenwirken mit der kreisangehörigen Antragsgegnerin und gegebenenfalls mit der
höheren und der obersten Aufnahmebehörde anderweitige Unterbringungsmöglichkeiten
für die Bewohner der hier betroffenen Unterkunft zu finden oder zu schaffen. Eine
Übergangsfrist bis Ende Mai 2014 ist hier angemessen, um die Rechte der Asylbewerber,
um deren Schutz es bei dieser Maßgabe allein geht, zu wahren. Dies ändert nichts an der
Tatsache, dass die Beteiligten auch weiterhin gehalten sind, die gerichtlich angeordnete
aufschiebende Wirkung zu achten und die fortwährende Nutzung des Gebäudes als
Asylbewerberunterkunft auch bis zum 31.05.2014 allein wegen der Missachtung der
aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller rechtswidrig bleibt.
IV.
33 1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
34 2. Die Streitwertfestsetzung und -abänderung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr.
2, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG. Der Streitwert für ein Verfahren gerichtet auf den
Erlass von einstweiligen Sicherungsmaßnahmen zur faktischen Durchsetzung der
aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen folgt dem Streitwert des Verfahrens auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, so dass hier ein Streitwert von 3.750,-- EUR
festzusetzen ist.
35 Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.