Urteil des VG Stuttgart vom 09.10.2012

VG Stuttgart: aufenthaltserlaubnis, verbot der echten rückwirkung, lebensgemeinschaft, schutz der ehe, besondere härte, echte rückwirkung, aufschiebende wirkung, rechtsschutz, vertrauensschutz

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 9.10.2012, 11 S
1843/12
Leitsätze
1. Ist die im Bundesgebiet rechtmäßig geführte eheliche Lebensgemeinschaft nach zweijähriger
Dauer noch vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
aufgehoben, der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eigenständige
Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten jedoch erst danach gestellt worden, ist für einen Anspruch
auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis die ab dem 01.07.2011 geltende Gesetzesfassung
maßgebend.
2. Auch wenn das Gericht eine komplexe Frage des materiellen Rechts im Verfahren nach § 80
Abs. 5 VwGO vorläufig zu Lasten des Antragstellers beantwortet, kann bei einer ober- bzw.
höchstrichterlich nicht abschließend geklärten Fragestellung nach den Umständen des
Einzelfalls seinem Interesse an einem vorläufigen Verbleiben im Bundesgebiet der Vorrang
eingeräumt werden.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart
vom 17. August 2012 - 11 K 2330/12 - wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige, insbesondere rechtzeitig erhobene (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§
146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17.08.2012, mit dem die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs des Antragstellers vom 09.07.2012 gegen den Bescheid der
Antragsgegnerin vom 18.06.2012 angeordnet worden ist, hat im Ergebnis keinen Erfolg.
I.
2 Mit dieser Verfügung hat die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgelehnt, weil es an
einem mindestens dreijährigen rechtmäßigen Bestehen einer ehelichen
Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet fehle, und ihm die Abschiebung in sein Heimatland
Kroatien angedroht. Der am 22.11.1987 geborene Antragsteller war nach seiner am
20.06.2008 in Kroatien erfolgten Heirat mit der am ...1971 geborenen deutschen
Staatsangehörigen C. F. mit einem Visum zum Ehegattennachzug am 03.09.2008 in das
Bundesgebiet eingereist und verfügte in der Folgezeit über eine zuletzt bis 02.03.2012
gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Am 17.02.2012
beantragte er unter Vorlage eines kroatischen Scheidungsurteils vom 16.08.2011 die
Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und trug vor, die eheliche Lebensgemeinschaft
sei im Februar 2011 einvernehmlich beendet und im Mai 2011 die Scheidung beantragt
worden.
3 Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5
VwGO entsprochen und ausgeführt, der Anspruch des Antragstellers richte sich nach § 31
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung, wonach es
ausreichend sei, dass die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren
rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden habe. Die Anwendung der zum 01.07.2011 in
Kraft getretenen Neufassung der Vorschrift, die nunmehr eine dreijährige Ehebestandszeit
fordere, auf den vorliegenden Fall dürfte dem verfassungsrechtlichen Verbot der echten
Rückwirkung von ungünstigen Gesetzesänderungen widersprechen. Der zeitliche
Anwendungsbereich der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
beginne jedenfalls vor dem Zeitpunkt, in dem die Gesetzesänderung wirksam geworden
sei. Die Ehebestandszeit des Antragstellers habe mit seiner Einreise in das Bundesgebiet
am 03.09.2008 begonnen. Damit habe er mit Ablauf von zwei Jahren seinen
eheunabhängigen Anspruch auf eine erste einjährige Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis Anfang September 2010 erworben. Diese Rechtsposition sei deutlich
vor dem Inkrafttreten der Rechtsänderung entstanden. Auf andere Umstände als den
Ablauf der Zweijahresfrist abzustellen, sei rechtsstaatlich nicht vertretbar. Ansonsten wäre
der Ausländer, der nach Ablauf der Zweijahresfrist an der Ehe festhalte, dessen Ehe aber
zwei Wochen vor Ablauf der Dreijahresfrist scheitere, schlechter gestellt als derjenige
Ausländer, der unmittelbar nach Ablauf der Zweijahresfrist die eheliche
Lebensgemeinschaft beende, um seinen Anspruch auf ein eheunabhängiges
Aufenthaltsrecht zu wahren; dies wäre mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.
II.
4 Der Senat kann zunächst nicht nachvollziehen, weshalb die Kammer ungeachtet der
rechtlich schwierigen Fragestellungen (siehe nachfolgend) die Voraussetzungen des § 6
Abs. 1 Satz 1 VwGO angenommen und am 16.08.2012 in Kenntnis aller für die
Entscheidung mit Beschluss vom 17.08.2012 relevanten Umstände das Verfahren dem
Einzelrichter übertragen hat. Es bedarf im vorliegenden Fall allerdings keiner näheren
Prüfung, welche Konsequenzen das Fehlen der Übertragungsvoraussetzungen nach sich
ziehen könnte (vgl. hierzu näher Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfaut/von Albedyll, VwGO, 5.
Aufl. 2011, § 6 Rn. 16, 25; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 6 Rn. 28 f.), denn die
Antragsgegnerin hat die Entscheidung durch den Einzelrichter nicht gerügt.
5 Soweit die Antragsgegnerin in der Sache die dem angefochtenen Beschluss zugrunde
liegende Rechtsauffassung angreift, § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei in der bis zum
30.06.2011 geltenden Fassung anzuwenden, wenn die Trennung der Eheleute nach
zweijähriger ehelicher Lebensgemeinschaft vor dem 01.07.2011 stattgefunden habe, ein
Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis jedoch erst danach gestellt worden sei,
dürften ihre Einwendungen, die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Prüfungsumfang des
Beschwerdegerichts begrenzen, zutreffend sein. Aufgrund der den Rechtsschutz nach §
80 Abs. 5 VwGO bestimmenden Interessenabwägung sieht der Senat jedoch davon ab,
die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis zu ändern.
6 Das Verwaltungsgericht dürfte zu Unrecht davon ausgegangen sein, dass in der
vorliegenden Konstellation der Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der
ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung das Verbot „echter Rückwirkung“ entgegenstehe.
Vielmehr dürfte das materielle Recht gebieten, die Neufassung der Bestimmung zugrunde
zu legen.
7 Die eigenständige Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten nach § 31 AufenthG und die
akzessorische Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
oder § 30 AufenthG sind unterschiedliche Arten einer Aufenthaltserlaubnis. Sie werden für
unterschiedliche Zwecke erteilt und ihnen liegen jeweils eigenständige
Regelungsgegenstände mit spezifischen Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen
zugrunde (vgl. zum Trennungsprinzip BVerwG, Urteil vom 09.06.2009 - 1 C 11.08 -
InfAuslR 2009, 440 ). Der Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 31
Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezieht sich auf den Aufenthalt nur in dem Jahr unmittelbar nach
Ablauf der Gültigkeit der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis (BVerwG, Urteil vom
22.06.2011 - 1 C 5.10 - InfAuslR 2011, 373 ). Dieser Anspruch entsteht allerdings
erst in dem Zeitpunkt, in welchem alle hierfür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.
8 Zu den vom Ausländer zu erfüllenden Bedingungen dürfte insbesondere auch die
ausdrückliche oder jedenfalls konkludente Beantragung des Aufenthaltstitels nach § 31
Abs. 1 Satz 1 AufenthG gehören. Dies dürfte sich aus § 81 Abs. 1 AufenthG ergeben.
Danach wird ein Aufenthaltstitel einem Ausländer nur auf seinen Antrag erteilt, soweit
nichts anderes bestimmt ist. Dass ein Titel von Amts wegen erteilt wird, ist lediglich in § 33
AufenthG vorgesehen, nicht aber in § 31 AufenthG. Aus § 81 Abs. 1 HS 1 AufenthG ist zu
schließen, dass der Aufenthaltstitel nur auf den entsprechenden Antrag des Ausländers
erteilt wird, der den konkreten Aufenthaltstitel für sich begehrt (vgl. GK-AufenthG, § 81 Rn.
8 ff.). Das Antragserfordernis dürfte damit nicht nur eine verfahrensrechtliche Bedeutung
haben, sondern auch einen materiell-rechtlichen Gehalt. Dem Antrag dürfte die Funktion
zukommen, die Voraussetzungen für den Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts zu
schaffen, der ohne den Willen des Ausländers nicht zu Stande kommen soll. Für die
Überlegung, dass der Antrag eine Tatbestandsvoraussetzung der Erteilung des
Aufenthaltstitels sein dürfte, dürfte auch die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts sprechen, nach der eine rückwirkende Legalisierung durch
Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zeitraum, der vor der Beantragung des Titels liegt,
ausgeschlossen ist (BVerwG, Urteil vom 22.06.2011 - 1 C 5.10 - InfAuslR 2011, 373
14>; vgl. auch Senatsurteil vom 08.11.2010 - 11 S 1873/10 - AuAS 2011, 14).
9 Selbst wenn man § 81 Abs. 1 HS 1 AufenthG, der keine Entsprechung im Ausländergesetz
1990 hat, und systematisch im Kapitel 7 Abschnitt 3 „Verwaltungsverfahren“ steht, lediglich
einen verfahrensrechtlichen, deklaratorischen Charakter beimessen (hierzu Hailbronner,
AuslR, § 81 Rn. 3) und keine allgemeine materiell-rechtliche Bedeutung zuerkennen
wollte, wird sich das Antragserfordernis als Voraussetzung für die Entstehung des
Anspruchs aber auch unmittelbar aus § 31 AufenthG ergeben. Das Aufenthaltsrecht, das
aus der ehelichen Lebensgemeinschaft resultiert, wandelt sich nach der Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft nicht automatisch in ein eheunabhängiges
Aufenthaltsrecht um oder verselbstständigt sich (so schon BVerwG, Urteil vom 16.06.2004
- 1 C 20.03 - InfAuslR 2004, 427 - zu § 19 AuslG 1990). Dies gilt erst Recht nach dem
Trennungsprinzip unter der Geltung des Zuwanderungsgesetzes. Der Ehegatte, dem
bislang ein akzessorisches Aufenthaltsrecht zur Verfügung stand, erhält durch § 31 Abs. 1
Satz 1 AufenthG die Möglichkeit, nach dem Wegfall des seinen Aufenthalt bislang
legitimierenden Aufenthaltszwecks im Bundesgebiet verbleiben zu können. Einen
Anspruch hierauf hat er jedoch nur, wenn er dies vor Ablauf der Geltungsdauer der
Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG oder § 30 AufenthG
entsprechend beantragt und damit auch zum Ausdruck bringt, dass er gewissermaßen auf
einen bestehenden ehebezogenen Aufenthaltstitel verzichtet.
10 Zwar hat der Antragsteller unter Zugrundelegung des bisherigen Akteninhalts die eheliche
Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau im Bundesgebiet seit dem 03.09.2008 bis zu ihrer
Aufhebung im Februar 2011 ununterbrochen mehr als zwei Jahre lang rechtmäßig geführt.
Der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Berufung auf die mittlerweile
erfolgte Trennung ist jedoch erst am 17.02.2012 gestellt worden, so dass vor der
Rechtsänderung zum 01.07.2011 kein Anspruch auf ein eheunabhängiges
Aufenthaltsrecht gegeben war. Da das Antragserfordernis als eine für das Entstehen des
Anspruchs konstitutive Voraussetzung somit erst unter der Geltung der Neufassung des §
31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt worden ist, dürfte für das Begehren des
Antragstellers insgesamt die ab 01.07.2011 gültige Gesetzesfassung maßgebend sein (im
Ergebnis ebenso BayVGH, Beschluss vom 18.09.2012 - 19 CS 12.1370 - juris und vom
20.07.2012 - 10 CS 12.917, 10 CS 12.919 - juris; VG Darmstadt, Beschluss vom
18.09.2012 - 6 L 935/12.DA - juris; VG Stuttgart, Urteil vom 05.06.2012 - 6 K 1144/12 -
juris; VG München, Urteil 18.01.2012 - M 25 K 11.5222 - juris). Der Anspruch auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis würde in diesem Fall an dem Erfordernis der dreijährigen
Ehebestandszeit scheitern.
11 Die Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der Fassung vom 01.07.2011 in
der vorliegenden Konstellation dürfte nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
12 Belastende Gesetze, die eine echte Rückwirkung beinhalten, sind regelmäßig mit dem
Gebot der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar (siehe näher Schmidt-
Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 77). Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts wird von einer echten Rückwirkung nicht nur gesprochen,
wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende
Tatbestände eingreift (BVerfG, Beschluss vom 28.11.1984 - 1 BvR 1157/82 - BVerfGE 68,
287, 306), sondern auch dann, wenn eine Norm den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von
Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht (BVerfGE, Beschluss
vom 14.05.1986 - 2 BvL 2/83 - BVerfGE 72, 200, 241 ff.). Da der Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis aber erst nach Inkrafttreten der neuen Fassung des § 31 AufenthG
gestellt worden ist und damit ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht vor diesem Zeitpunkt
nicht entstehen konnte, dürfte sich die Frage der echten Rückwirkung schon gar nicht
stellen (vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 18.09.2012 - 19 CS 12.1370 - juris;
Senatsbeschluss vom 20.09.2012 -11 S 1337/12 -).
13 Die ohne gesetzliche Übergangsregelung eingeführte Erhöhung der Mindestbestandszeit
in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, die für den Fall des Scheiterns der Ehe ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsieht, könnte im vorliegenden Fall wohl lediglich eine
unechte Rückwirkung entfalten (siehe hierzu näher Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf,
a.a.O., Art. 20 Rn. 78 ff.; BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 -2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2
BvL 58/06 - BVerfGE 127, 31, 47 mwN). Die Frage der (unechten) belastenden
Rückwirkung stellt sich nicht nur bei Ge- oder Verboten, sondern auch dann, wenn durch
ein Gesetz eine bestehende Rechtsposition verschlechtert wird (siehe hierzu BVerfG,
Beschluss vom 23.03.1971 - 2 BvL 2/66 u.a. - BVerfGE 30, 367, 386). Der Senat unterstellt
insoweit zugunsten des Antragstellers, dass die bei Eheschließung, jedenfalls aber bei
der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft bestehende Erwartung, schon nach
zweijähriger „Ehebestandszeit“ ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten zu können,
nicht nur eine rechtlich irrelevante bloße Aussicht oder Chance ist, sondern eine
Rechtsposition im Sinne dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellt
und die Anhebung der Mindestbestandszeit daher als ein belastendes Gesetz anzusehen
ist. Die unechte Rückwirkung zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Regelung nur auf
noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft bezieht
(so auch zum Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG BVerwG, Urteil
vom 30.03.2010 - 1 C 8.09 - InfAuslR 2010, 331 ).
14 Eine solche unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Die Gewährung
vollständigen Schutzes zugunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde
den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den
Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer
Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer
Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen. Soweit nicht
besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloße allgemeine
Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen
besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 - 2 BvL
1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 - BVerfGE 127, 31, 47 f. mwN).
15 Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende
Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in
hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der
Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der
Rechtslage sind abzuwägen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein.
Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen
Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks
geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht
des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die
Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt
(BVerfG, a.a.O.).
16 Die Anhebung der Mindestbestandszeit in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG dürfte diesen
Anforderungen genügen.
17 Mit dem eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten in § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG
will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass nach einer bestimmten
Mindestbestandsdauer der gelebten Ehe sich hieraus Verfestigungen der
Lebensverhältnisse des nachgezogenen Ausländers in Deutschland ergeben (vgl. VG
Düsseldorf, Urteil vom 13.07.2011 - 22 K 3024/11 - juris; siehe zum Zweck der Regelung
auch Hailbronner, AuslR, § 31 Rn. 1 sowie schon zu § 19 AuslG Entwurf der
Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrecht, BT-Drs. 11/6321, S.
10, 61 f.). Welche unionsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich eines solchen
Aufenthaltsrechts zu beachten sind, bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung.
Verfassungsrechtlich dürfte keine Verpflichtung des Gesetzgebers bestehen, eine solche
Regelung überhaupt vorzusehen. Der bei der Ausgestaltung des einfachen Rechts zu
beachtende Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG wird durch das Führen der ehelichen
Lebensgemeinschaft bestimmt (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, a.a.O., Art. 6 Rn.
6; Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 27 Rn. 38 mwN). Ist eine solche nicht (mehr) gegeben,
muss sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit (zum Einschätzungs-,
Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers siehe grds. BVerfG, Urteil vom
30.07.2008 - 1 BvR 3262/07 - BVerfGE 121, 317, 356 f. und vom 07.05.1991 -1 BvL 32/88 -
BVerfGE 84, 168, 184 f. und vom 24.10.1991 -1 BvR 1159/91 -juris), wie er den Zuzug und
Aufenthalt von Ausländern regelt, nicht in den durch Art. 6 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen
bewegen. Die weitreichende Gestaltungsfreiheit gilt nicht nur für das „Ob“ eines
eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten, sondern auch für dessen
Voraussetzungen und Inhalte. Die Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG u.a. als
wertentscheidende Grundsatznorm (Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, a.a.O., Art. 6 Rn.
3) gebietet es daher auch nicht, bei einer Verschärfung des ehegattenunabhängigen
Aufenthaltsrechts den Interessen der Ehepartner während einer „kriselnden“ Ehe
Rechnung zu tragen; der Senat teilt daher die mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG geäußerten
Bedenken des Verwaltungsgerichts zur Anwendung der Neuregelung im vorliegenden
Fall nicht.
18 Mit der Anhebung der Dauer der rechtmäßig im Bundesgebiet geführten ehelichen
Lebensgemeinschaft von zwei auf drei Jahre als eine Voraussetzung für die Erteilung
eines Aufenthaltstitels nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG verfolgt der Gesetzgeber
das Ziel, sog. Scheinehen, d.h. Ehen, die allein mit dem Ziel geschlossen werden, dem
Ehegatten ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen (vgl. hierzu in rechtstatsächlicher Hinsicht
bspw. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Missbrauch des Rechts auf
Familiennachzug - Scheinehen und missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen,
Working Paper 43, 2012, S. 10 ff.), mit ausländerrechtlichen Mitteln zu begegnen. Dies
verdeutlicht die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung
weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 13.01.2011. Dort heißt es (BT-
Drs. 17/4401, S. 9 f.):
19 „….Die Erhöhung der Mindestehebestandszeit ist erforderlich, um den Anreiz für
ausschließlich zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte
Eheschließungen (Scheinehen) zu verringern. Wahrnehmungen aus der
ausländerbehördlichen Praxis deuten darauf hin, dass die Verkürzung der
Mindestehebestandszeit auf zwei Jahre zu einer Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle
geführt hat. Darüber hinaus erhöht die Verlängerung der Mindestehebestandszeit die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Scheinehe nachgewiesen werden kann, bevor durch sie
ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründet wird. Die Erhöhung der
Mindestehebestandszeit führt nicht zu einer übermäßigen Belastung der Ehegatten,
wenn keine Scheinehe vorliegt. In Fällen besonderer Härte sieht Absatz 2 bereits nach
geltender Rechtslage eine Ausnahmeregelung vor….“
20 Der Gesetzgeber hat die „Grundkonzeption“ des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht
geändert. Der Regelung ist schon bisher immanent gewesen, dass derjenige, der die
Bestandszeit der ehelichen Lebensgemeinschaft unterschreitet und sich nicht auf eine
besondere Härte i.S.d. Absatz 2 berufen kann, keinen Anspruch auf ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht hat (vgl. hierzu auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.01.2012 - 6 K 6/12
- juris).
21 Es liegt im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die Erhöhung der
„Mindestehebestandszeit“ als ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel zur Verfolgung
des von ihm beabsichtigten und (verfassungs-)rechtlich nicht zu beanstandenden Zwecks
anzusehen. Sein (politischer) Gestaltungsspielraum erlaubt es ihm auch, in Verfolgung
dieses Interesses andere Belange zurückzuzustellen sowie Typisierungen und
Generalisierungen vorzunehmen. Dass die längere Mindestbestandszeit auch für die
Ehegatten solcher Ehen gilt, die keine Scheinehen (gewesen) sind, und der Gesetzgeber
keine Übergangsregelung vorgesehen hat, dürfte als Ausdruck der ihm obliegenden
Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu beanstanden sein, insbesondere
auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahren.
22 Der Anwendung der Neufassung des § 31 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG dürfte im
vorliegenden Fall auch nicht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Der
verfassungsrechtliche Vertrauensschutz bewahrt nicht vor jeder Enttäuschung.
Verfassungsrechtlich schutzwürdig ist nur ein betätigtes Vertrauen, d.h. eine
„Vertrauensinvestition“, die zur Erlangung einer Rechtsposition oder zu entsprechenden
anderen Dispositionen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 8.09 - InfAuslR
2010, 331 mwN). Dass solches beim Antragsteller gegeben sein könnte, ist
weder vorgetragen noch ersichtlich. Im vorliegenden Fall bestehen auch keine
Anhaltspunkte, die die Annahme einer besonderen Härte nach § 31 Abs. 2 Satz 1
AufenthG rechtfertigen könnten.
23 Es spricht somit vieles dafür, dass sich das Begehren des Antragstellers nach § 31 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der Fassung ab 01.07.2011 beurteilt und ihm daher mangels
Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung der dreijährigen rechtmäßigen ehelichen
Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet kein entsprechender Aufenthaltstitel zu erteilten
sein dürfte. Die Rechtsfrage, ob in der vorliegenden Konstellation die Alt- oder
Neufassung des § 31 AufenthG Anwendung findet, ist jedoch bislang nicht abschließend
geklärt. Der geschiedene und kinderlose Antragsteller hat erhebliche Bindungen im
Bundesgebiet (so ist er ausweislich der vorlegten Verdienstbescheinigungen nebst
Arbeitgeberbestätigung seit längerem beim gleichen Arbeitgeber mit einem
Nettoeinkommen von durchschnittlich mehr als 1.600 EUR im Monat beschäftigt), die im
Falle seiner sofortigen Ausreise voraussichtlich verloren gingen. Der Senat räumt daher
unter Beachtung der den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO bestimmenden
verfassungsrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschlüsse vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 -
NVwZ 2004, 93, und vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - ZAR 2007, 243; siehe auch
Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfaut/von Albedyll, a.a.O., § 80 Rn. 93 ff. mwN) dem Interesse des
Antragstellers, vorläufig im Bundesgebiet zu verbleiben, den Vorrang gegenüber dem
öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung ein. Aus
der erfolgten Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs kann der
Antragsteller allerdings keinen Vertrauensschutz herleiten. Entscheidet er sich, seinen
Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig fortzusetzen, so geschieht dies auf eigenes Risiko.
Geht das Hauptsacheverfahren zu seinen Lasten aus, kann er sich nicht darauf berufen,
dass sich in der Zwischenzeit sein Aufenthalt weiter verfestigt hätte.
24 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das
Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2
und § 52 Abs. 2 GKG.
25 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).