Urteil des VG Stuttgart vom 12.06.2013

VG Stuttgart: pakistan, report, öffentlichkeit, amnesty international, zahl, muslim, religiöse erziehung, religionsfreiheit, genfer flüchtlingskonvention, flüchtlingseigenschaft

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 12.6.2013, A 11 S 757/13
Leitsätze
Ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya aus Pakistan, für den das Leben
und Bekennen seines Glaubens in der Öffentlichkeit identitätsbestimmender Teil seines
Glaubensverständnisses ist, besitzt die Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn er im Falle der
Rückkehr sein öffentliches Glaubensbekenntnis unterlassen würde (Fortführung der
Rechtsprechung des Gerichtshofs im Anschluss an die Urteile vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07
und 27.09.2010 - A 10 S 689/08).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010
- A 4 K 1179/10 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
2 Der 1979 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der
Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an; er stammt aus einem Dorf im pakistanischen
Teil des Punjab.
3 Zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit hat er Bescheinigungen der Ahmadiyya
Muslim Jamaat Frankfurt vom 02.10.2000, 28.10.2010 sowie vom 06.12.2011 vorgelegt.
4 Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 23.07.2000 auf dem Luftweg in die
Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24.07.2000 einen Asylantrag. Bei seiner
Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge am 04.08.2000 brachte er im Wesentlichen vor, er gehöre von Geburt an der
Religionsgemeinschaft der Ahmadis an und habe deshalb Verfolgungsmaßnahmen
erlitten. So sei er beim Besuch der Moschee geschlagen worden. Gleiches sei ihm beim
Tragen von religiösen Abzeichen widerfahren. Eines Nachts im Mai des Jahres 2000 sei
er beim Bewachen von Getreide durch Diebe zusammengeschlagen worden. Am
nächsten Tag habe sein Vater zusammen mit Freunden die Diebe zur Rede gestellt,
worüber diese sehr erbost gewesen seien und gedroht hätten, ihn zu töten. Die Familie
habe deshalb beschlossen, dass er sein Heimatland verlassen solle.
5 Mit Bescheid vom 15.09.2000 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich wurde dem
Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum
Verwaltungsgericht Stuttgart, die mit Urteil vom 22.05.2001 (A 8 K 12809/00) abgewiesen
wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an
einem glaubhaften individuellen Verfolgungsschicksal des Klägers. Im Übrigen könne bei
der gegenwärtigen Erkenntnislage eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan nicht
angenommen werden. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss
des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 09.10.2001 (A 6 S 688/01)
rechtskräftig.
6 In den Jahren 2001 bis 2005 stellte der Kläger insgesamt fünf erfolglose Folgeanträge.
7 Am 08.12.2008 stellte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten einen weiteren
Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich
die Rechtslage zu seinen Gunsten nachträglich verändert. Nunmehr sei von einer
Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 lit. b) der
Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund
der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen
Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom
Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum
könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten
werden. Der Kläger werde von diesen Einschränkungen vor allem der öffentlichen
Religionsausübungsmöglichkeiten in Pakistan persönlich betroffen, da er eine religiös
geprägte Persönlichkeit sei. So bete der Kläger regelmäßig und besuche die Moschee; er
sehe es als seine religiöse Pflicht an, sich zu seinem Glauben zu bekennen und für diesen
bei Andersgläubigen aktiv zu werben. Auch bekleide er Ämter innerhalb der religiösen
Gemeinde. Im Übrigen habe sich die Verfolgungssituation der Ahmadis in Pakistan
erheblich verschärft. Er habe erstmalig Anfang November 2008 von zwei
Glaubensgenossen erfahren, dass diese aufgrund von Europarecht durch das
Verwaltungsgericht Karlsruhe als Flüchtlinge anerkannt worden seien; er habe sich
deshalb am 01.12.2008 an seinen nunmehrigen Prozessbevollmächtigten gewandt.
8 Mit Bescheid vom 30.03.2010 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines
weiteren Asylverfahrens (Ziffer 1) und auf Abänderung des Bescheids vom 15.09.2000
hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (Ziffer 2) ab.
9 Am 31.03.2010 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Ziel
einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung nahm er im Wesentlichen auf sein bisheriges
Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug. Ergänzend trug er zur aktuellen Lage der
Ahmadis in Pakistan vor. Im Übrigen führte er aus, er selbst sei eine religiös geprägte
Persönlichkeit und seinem Glauben eng verbunden. Er bete regelmäßig, besuche die
Moschee und nehme an den Gemeindeveranstaltungen teil. Insbesondere habe er auch
eine Aufgabe innerhalb der Gemeinde, er sei als sog. „Ziafat“ tätig und als solcher für die
Organisation der Essenszubereitung bei Gemeindeveranstaltungen zuständig.
10 Mit Urteil vom 09.07.2010 - A 4 K 1179/10 - verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart
die Beklagte, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und hob die Ziffern 1
und 2 des Bescheids des Bundesamtes vom 30.03.2010 auf, soweit sie dem
entgegenstehen. Zur Begründung wies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf die
einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 20.11.2007 - A 10 S 70/06 -
und vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07) hin. Der Kläger sei von den Restriktionen, die nach
den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den genannten
Urteilen für die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis in Pakistan zu verzeichnen
seien, selbst betroffen. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung
stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dieser Mitglied der Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft sei. Das Gericht habe in der mündlichen Verhandlung den
Eindruck gewonnen, dass der Kläger eng mit seinem Glauben verbunden sei, diesen in
der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt habe und dies auch gegenwärtig in einer Weise
tue, dass er im Fall einer Rückkehr von der vom Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg beschriebenen Situation selbst betroffen werde. So habe der Kläger
nachvollziehbar geschildert, dass und wie er seinen Glauben hier in Deutschland lebe; er
sei aktives Mitglied seiner jetzigen religiösen Gemeinde. Über die geschilderte
gemeindeinterne Betätigung hinaus habe der Kläger dargelegt, auch an
öffentlichkeitswirksamen überörtlichen Veranstaltungen der Ahmadis teilgenommen zu
haben. Nach der Überzeugung des Gerichts sei es ihm ein inneres Bedürfnis, mit anderen
über seinen Glauben zu sprechen und für diesen aktiv zu werben.
11 Am 02.08.2010 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung.
12 Mit Beschluss vom 10.01.2011 wurde die Berufung ohne Beschränkung zugelassen.
13 Am 01.02.2011 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines förmlichen
Antrags und führte dabei im Wesentlichen aus: Es bestünden bereits erhebliche Zweifel,
ob die formellen Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71
Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts bestehe auch in der Sache kein Anspruch auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht folge in
fehlerhafter Weise der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 20.05.2008 vertretenen
Auffassung, dass sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung
der Qualifikationsrichtlinie wesentlich erweitert habe. An dieser vom Verwaltungsgericht in
Bezug genommenen Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (10 C 51.07) nicht
uneingeschränkt festgehalten werden. In rechtsfehlerhafter Weise habe das
Verwaltungsgericht auch die Ziffer 2 des Bescheids vom 30.03.2010 aufgehoben, mit der
das Bundesamt die Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom
15.09.2000 bezüglich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1
bis 6 AuslG abgelehnt habe. Die knappe und nicht näher nachvollziehbare Begründung
des Urteils deute darauf hin, dass das Verwaltungsgericht den Regelungsgehalt des § 31
Abs. 3 AsylVfG verkenne. Die Voraussetzungen für derartige Abschiebungsverbote lägen
im Übrigen nicht vor.
14 Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2011 informatorisch
angehört; insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
15 Durch Urteil vom 13.12.2011 (A 10 S 69/11) wurde die Berufung mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wurde: „Die Beklagte wird verpflichtet,
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen. Ziffer
1 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.03.2010 wird
aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.“ Zur Begründung wurde ausgeführt: Die
Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1
AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen vor. Mit Inkrafttreten des
Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 am 28.08.2007 sei eine relevante
Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. BVerwG,
Urteil vom 09.12.2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289; Urteil des Senats vom
27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris). Auch sei die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG mit der
Antragstellung am 05.12.2008 gewahrt worden.
16 Das Gericht gehe im Anschluss an seine Urteile vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) sowie
vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei
Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in
Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des
Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert habe.
17 Wie im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, gehe die
Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 lit. b) QRL nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz
hinaus, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16a Abs. 1 GG
unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt worden sei, jedenfalls
wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits
vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede stehe (vgl.
hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur
Glaubensfreiheit gehöre somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern
auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu
leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung seien nicht nur alle kultischen
Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst,
Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc.,
sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und
weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst würden schließlich auch das
Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen. Die
Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setze darüber hinaus voraus, dass eine relevante
Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt
werde, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine
schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmache (vgl. Art. 9
Abs. 1 Buchst. a und b QRL). Erst an dieser Stelle erweise sich im jeweils konkreten
Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen
Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden könne, ob der oder die
Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitze.
18 Auf der Grundlage der Feststellungen in den Urteilen vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07)
und vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) und deren Fortschreibung bis zur mündlichen
Verhandlung drohe einem bekennenden Ahmadi, der zu seinem Glauben in innerer und
verpflichtender Verbundenheit stehe und seinen Glauben in Pakistan öffentlich betätigen
wolle, eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts und damit
eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL.
19 Das Gericht habe, insbesondere auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung
durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, die Überzeugung gewonnen,
dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden sei und diesen in der Vergangenheit
sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Fall seiner Rückkehr nach
Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den
Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Nach dem
in der informatorischen Befragung gewonnen Gesamteindruck halte das Gericht die
Angaben des Klägers zu seiner Glaubensausübung in Pakistan für uneingeschränkt
glaubhaft. Im übrigen habe der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung
überzeugend ausgeführt, ein religiös geprägtes Leben in Pakistan geführt zu haben, auch
wenn er keine herausgehobene Funktion oder ein Amt in seiner Gemeinde bekleidet
habe. Er habe jedoch glaubhaft dargelegt, so oft als möglich, mindestens jedoch dreimal
am Tag, das Gebet in der Moschee der Ahmadis verrichtet zu haben. Dies spreche im
vorliegenden Fall bereits deshalb für einen engen Glaubensbezug, weil das Aufsuchen
der Moschee aufgrund der Berufstätigkeit des Klägers in der Landwirtschaft und der
Entfernung der Felder zu der Moschee mit einem erheblichen Aufwand verbunden
gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger glaubhaft geschildert, bei Bedarf in seiner
religiösen Gemeinde untergeordnete Tätigkeiten, etwa Reinigungsdienste, ausgeübt zu
haben. Auch wenn es sich dabei wohl nicht um eine religiöse Betätigung gehandelt haben
dürfte, die über die übliche Glaubensausübung in Pakistan hinausgehe, spreche sie doch
für eine enge und verpflichtende Verbundenheit zu dem Glauben der Ahmadiyyas. Was
die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angehe, seien
diese nach dem gewonnenen Eindruck glaubhaft. Das Gericht glaube dem Kläger
uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2000 jeweils in der
zuständigen Gemeinde der Ahmadis betätige, regelmäßig zum Gebet in die Moschee
gehe und verschiedene untergeordnete Tätigkeiten ausübe. So habe der Kläger etwa
überzeugend und glaubhaft geschildert, wie er sich unmittelbar nach seiner Einreise zu
der Ahmadi-Gemeinde nach XXXXXXX begeben und sich dort in vielfältiger Weise sozial
und kulturell engagiert habe. Insbesondere habe der Kläger in der Gemeinde
XXXXXXXXXX nicht nur die in der Heimat bereits geleisteten Hilfsdienste fortgesetzt,
sondern sich nunmehr auch öffentlichkeitswirksam religiös betätigt. So habe er sich bereits
in XXXXXXXXXX monatlich an einem Bücherstand vor dem Bahnhof beteiligt und
Andersgläubige in missionarischer Absicht angesprochen. Gerade diese missionarischen
Aktivitäten stellten ein wesentliches, wenn auch nicht zwingend erforderliches Indiz für die
Annahme einer verpflichtenden Verbundenheit mit dem Glauben der Ahmadis dar. Nach
seinem Umzug nach XXXXXXXX habe der Kläger vor allem auch diese missionarischen
Aktivitäten fortgesetzt und intensiviert. Der Senat glaube dem Kläger, im Jahre 2010 einen
Landsmann zum ahmadischen Glauben bekehrt zu haben. In diesem Zusammenhang
habe der Kläger weiterhin glaubhaft ausgeführt, ihm wohlgesonnene Landsleute
regelmäßig zum Besuch seiner eigenen Moschee in missionarischer Absicht eingeladen
zu haben. Dies zeige, dass es dem Kläger in Übereinstimmung mit den
Glaubensgrundsätzen der Ahmadis ein inneres Anliegen sei, eigene Landsleute von
seinem Glauben zu überzeugen. Darüber hinaus nehme der Kläger regelmäßig an
überregionalen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft
teil. Auch habe er nachvollziehbar geschildert, in seiner Familie ein streng
glaubensgebundenes Leben zu führen und sich insbesondere für die religiöse Erziehung
seiner kleinen Tochter einzusetzen. Diesem Eindruck stehe auch nicht entgegen, dass der
Kläger lediglich über ein eingeschränktes theologisches Wissen verfüge. Nach der
Überzeugung des Gerichts handele es sich bei dem Kläger um einen „einfachen“ Ahmadi,
der seinem Glauben jedoch verpflichtend verbunden sei und diesen insbesondere auch
öffentlichkeitswirksam, vor allem durch Entfaltung missionarischer Aktivitäten, leben wolle.
Damit gehöre der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben
in innerer und verpflichtender Verbundenheit stünden und die von den oben geschilderten
Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen
seien.
20 Da dem Kläger nach dem oben Gesagten die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1
AufenthG zuzuerkennen sei, bedürfe es keiner Entscheidung über die hilfsweise begehrte
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das
Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Ziffer 2 des versagenden Bescheides des
Bundesamtes vom 30.03.2010 aufgehoben; insoweit sei der Tenor wie erfolgt neu zu
fassen.
21 Das Urteil wurde der Beklagten am 17.01.2012 zugestellt.
22 Am 16.02.2012 legte die Beklagte die zugelassene Revision ein und begründete diese am
16.03.2012.
23 Mit Beschluss vom 12.05.2012 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren bis
zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorabentscheidungsersuchen
des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 aus. Nachdem der Europäische
Gerichtshof die Vorlagefragen durch Urteil vom 05.09.2012 (C-71/11 u.a.) beantwortet
hatte, wurde das Verfahren fortgesetzt.
24 Durch Urteil vom 20.02.2013 (10 C 23.12) hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil
vom 13.12.2011 auf und wies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Nicht mit Bundesrecht vereinbar sei
die vom Berufungsgericht gestellte Verfolgungsprognose. Der Verwaltungsgerichtshof
habe das Ergebnis, dass die beschriebenen Verfolgungsgefahren für bekennende
Ahmadis bestünden, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten,
nicht auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose entwickelt. Nicht zu
beanstanden sei der Ausgangspunkt, dass sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine
begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich
bestehenden Gruppenverfolgung berufen könne. Das Urteil lasse jedoch nicht erkennen,
aufgrund welcher Tatsachen und nach welchem Prognosemaßstab es dann die
hinreichende Verfolgungsbetroffenheit für bekennende Ahmadis bejahe, die ihren
Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten. Hänge die Verfolgungsgefahr
von einem willensgesteuerten Verhalten ab - hier: der Praktizierung des Glaubens in der
Öffentlichkeit -, sei für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben genau in
dieser Weise praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Das sei in dem
angefochtenen Urteil nicht erfolgt. Das Berufungsgericht habe weder - wie geboten - die
Zahl der ihren Glauben entgegen den genannten Verboten öffentlich praktizierenden
Ahmadis jedenfalls annäherungsweise bestimmt noch festgestellt, wie viele
Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe träfen. Nur wenn eine wertende
Betrachtung ergebe, dass für die Gruppe der ihren Glauben öffentlich praktizierenden
Ahmadis in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko bestehe, könne daraus der Schluss
gezogen werden, dass auch die vom Berufungsgericht als verfolgungsbetroffen gewertete
Gesamtgruppe der Ahmadis, zu deren religiösem Selbstverständnis die Praktizierung des
Glaubens in der Öffentlichkeit gehöre, einem beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt
sei.
25 Der Kläger und die Beklagte haben sich durch Schriftsätze jeweils vom 08.05.2013 sowie
vom 29.05.2013 zum Revisionsurteil sowie zu der vom Senat aufgeworfenen Frage nach
weiteren Ermittlungsansätzen für die Erstellung der Verfolgungsprognose geäußert.
Hierauf wird im Einzelnen verwiesen.
26 Auf Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der „Ahmadiyya Muslim
Jamaat“ Frankfurt unter dem 06.06.2013 eine Stellungnahme vorgelegt u.a. zu
Einzelheiten des Berichts- und Dokumentationssystem zu Übergriffen gegen Ahmadis in
Pakistan, das der von der Londoner Organisation betriebenen Website
„thepersecution.org“ zugrunde liegt.
27 Die Beklagte beantragt,
28 das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - zu ändern,
soweit die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
ausgesprochen sowie die Ziffer 1 des Bescheids vom 30. März 2010 aufgehoben wurde,
soweit er dem entgegensteht, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
29 Der Kläger beantragt,
30 die Berufung zurückzuweisen.
31 Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung erneut informatorisch angehört;
wegen der dabei gemachten Angaben wird auf die Anlage zur Niederschrift verwiesen.
32 Auf die den Beteiligten mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste wird verwiesen.
33 Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts (7 Bd), die Ausländerakten (3
Bd), die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart sowie die Akten des 10. Senats
hinsichtlich des streitgegenständlichen Folgeverfahrens vor.
Entscheidungsgründe
34 I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem
entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im
Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die
Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S.
35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war,
muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision
eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch
das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies
nicht anders.
35 II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach §
71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil
vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von
Wiederholungen verwiesen werden.
36 III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit
zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 „2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter
Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in
seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9
Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie -
geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem
Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen
Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit drohen .
39 Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach
Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend
anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne
des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die
aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende
Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte,
von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9
Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer
Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der
Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher
wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist.
Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den
Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen
nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen .
40 2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als
Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13).
Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu
der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr
von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der
Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der
unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion
entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des
Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder
gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden
Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall
der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas
anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits
praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten
Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer
Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht
hier jedoch nicht festgestellt .
41 2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch
Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612)
entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als
Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen
werden können .
42 2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein
grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen
Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf
Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK
genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie
als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als
Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch
Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine
Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst
muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich
vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1
GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung
vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9
Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der
grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK
in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine
schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a
der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit
des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch
solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit
der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht
für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob
diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in
einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift
(Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der
Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den
Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16
<19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund
ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten
können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit
eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für
den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts)
.
44 Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine
Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich
danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem
Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei
einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9
Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung
dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in
Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der
Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl.
Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1
vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine
strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der
„asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein
Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung
des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von
strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der
Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der
(physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der
Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der
Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein
Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung
aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene
Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt
sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot
der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende
Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung
darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten
Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem
Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des
Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen
(z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der
früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht
entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem
Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen
Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut
der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine
notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das
Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne
von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen
Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und
so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu
verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen
erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal
(Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 -
MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von
Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom
betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ
v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der
Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie
2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20.
Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung
der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer
Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von
objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte
sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion
drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche
Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die
Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder
Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden
Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei
strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche
Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das
erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so
auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und
C-99/11, Rn. 82) .
48 Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der
Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die
Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur
Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der
Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen
Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als
unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats,
dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität
des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen
Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl.
Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43).
Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung)
nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende
angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle
Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt
und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem
Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen
Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem
Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder
jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine
entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren
Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil
vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch
muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner
religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus,
dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er
diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im
Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere
der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die
Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend
empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu
verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens
für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss
der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon
Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des
Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die
innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis
eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem
Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob
und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich
die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland
anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London -
insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann
(so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O.
Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor
seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu
einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November
2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen
Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im
gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer
mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem
Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die
Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn
der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland
kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter
Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in
Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der
Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche
Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene
kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in
entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für
den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa
nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann
als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als
Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen
werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven
Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen
Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben
oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass
die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der
begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG
(Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab
orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche
Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140,
22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer
zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für
eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb
gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine
„qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller
festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in
Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in
der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile
vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1.
Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger
berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen
Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist,
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht,
insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder
einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu
werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische
Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA
S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland
auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung
der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe
insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung
der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan
(etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter
Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht
vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die
Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der
verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die
Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der
Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus
den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer
Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich
sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise
praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten
Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt
ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe
treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi
inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei
seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen
Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl
der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der
Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass
es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende
Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit
einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise
zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der
Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann
daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die
diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen
Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen
ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte
zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden
droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese
Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl.
Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine
Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen,
ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der
Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder
Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der
grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine
Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung
haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer
schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im
Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch
Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer
Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder
Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives
Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension
(so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S.
1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69)
davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich
eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der
Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass
dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen
Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass
es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der
Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund
ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte
gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus,
ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive
die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie
beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung
entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer
Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie
erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige
Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten
Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder
Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche
Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der
Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die
einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer
Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des
Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der
Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu
nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende
Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser
Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie
genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine
Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx,
Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl.
2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines
grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie
vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b
zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim
Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden
Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine
fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung
grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die
bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber
unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass
seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das
Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise"
keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten
Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund
der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer
Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden
Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend
ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im
Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der
HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende
ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 „Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in
der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht
sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich,
göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen
verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus
und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft
spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris
(Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die
Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte,
sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten"
Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn
als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung,
dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed
sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die
einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart
habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und
Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der
orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt
haben.
60 Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen
Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in
den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben
dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der
Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya
Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des
Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya
Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in
Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit
auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr.
Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe
der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier
unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag
deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom
20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein
(Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom
15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen
Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum
dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S.
6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als
andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre
Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb
und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl.
Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte
Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte
deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und
eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin -
eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH
am 22.01.1985, S. 7).
62 Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche
Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich
zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in
Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht
veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5.
Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen
aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen
Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen
Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches
Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999,
"Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du
Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und
insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen
konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer
Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten
Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung
Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus
schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl.
Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der
Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht
zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden
Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang
die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office,
Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom
07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht).
Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur
mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen
sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der
vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12
vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim
Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa
400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen
beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus
der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese
Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst
abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund
200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht
grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren
(vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000
„bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der
Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher
unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings
nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung
ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße
regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie
noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren
Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich
immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen
gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States
Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine
verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen
oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu
ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben
vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen
– angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für
die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis
in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information
Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und
Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig
(monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen
Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt
(www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den
Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und
landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise
vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom
06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen
ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in
einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend
bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht
der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen
nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden
Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich
Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge
der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in
diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und
Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich
nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst
wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt.
Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen
hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in
Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser
Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist,
dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit
seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen,
dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben
geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös
beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle
auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum
Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389)
vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses
sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen
Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie
verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der
Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen
seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer
repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden
statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine
Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in
angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche
Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das
öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote,
Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl
ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur
der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im
Einzelnen noch unten 2c).
65 2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen
und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt.
Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S.
Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.).
Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich
zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und
geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten
pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität
des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als
Mohammed anerkennt.
67 Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als
Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen
auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim
kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des
Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der
Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund
dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem
Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom
Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for
2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.
19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised
Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant
on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich
(wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen
Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen
der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76,
143):
70 „(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’
oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch
sichtbare Darstellung
71 a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten
Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’,’Shaabi’
oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede
sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten
Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit
Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 (2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’
oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch
sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten
Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird
mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 Sec. 298 C lautet:
77 „Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’
oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch
sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein,
oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt
oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in
irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit
Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 „Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch
Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar
den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm)
verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe
bestraft.“
80 Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl.
auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 - Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf
heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 - Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw.
Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe
oder beides);
83 - Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen
Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens,
Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 - Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange
Freiheitsstrafe).
85 Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur
die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon
ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG,
Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom
26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996,
82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen
forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten
Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu
vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs.
2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR,
Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/),
wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben
sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man
einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit
ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede
tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für
Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche
Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in
ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen
dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht
auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole
oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die
Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG,
Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des
Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der
Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für
die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für
richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit
Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch
deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch
Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle
eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden
einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen
und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt,
obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich
auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren
Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch
Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von
zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie
mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA,
Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious
Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office,
Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44,
19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung
von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine
effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken
entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter
maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken
bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw.
Anwendung unten d).
86 c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen
Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen
steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of
Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in
seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im
Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen
Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren
(wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-
jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis
bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab
Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff.
19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office
Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH,
Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber
eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre
1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des
Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren
(vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber
vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer
bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von
Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht
konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der
Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand
von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie
instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem
Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung
entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben.
Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung
eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist
und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695
Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen
gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über
5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011
waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht
rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen
Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie
angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen
gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere
aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem
Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch
verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende
Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw.
gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434
Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis
wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient
hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit
und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben
erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah
erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74
Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte
Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken,
dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt
Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden.
Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und
Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum
Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als
Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen
konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich
festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft,
und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die
ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren
Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den
Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf
beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter
Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom
02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan,
07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human
Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und
Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes
gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens
nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The
International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan,
14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter
auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom
02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human
Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human
Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar
lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen,
vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human
Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von
privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C
wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv
verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991
(bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-
Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren
der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“
durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von
Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec.
295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A -
juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer
begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten
der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für
blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder
Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus
eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen
und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan,
07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom
05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die
Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu
werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und
ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den
Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im
Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home
Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die
Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office,
Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA,
Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-
islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu
erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht
(vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom
Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar
hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human
Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und
ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender
darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von
amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights
Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen
der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl.
auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind
dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen
und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen
hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15
bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort
befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl.
Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller
Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295
und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religöse Gefühle
der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der
Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International
Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin
Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert,
insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters
für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights
Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.;
vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche
Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers
Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum
Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen
Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu
erwarten.
95 Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die
Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine
Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines,
S. 15).
96 In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen
der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of
Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6;
Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To
Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten
installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass
diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office,
Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch
Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International
Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven
Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster
Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das
tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch
keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine
faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah
keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008
gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of
Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist
nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie
schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne
von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch
radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw.
religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen,
auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious
Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department:
Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin
Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed
Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten
Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals
1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren
Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit
nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S.
Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4),
jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil
vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die
einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang
auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an
Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah
mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des
Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn
die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw.
unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden
bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört
werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan,
07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious
Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of
Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an
der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können;
Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten
überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report
Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung
gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der
Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als
verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer)
verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch
Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden,
stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige
Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem
Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme
des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der
Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben
und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier
existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den
Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder
weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes,
lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße
identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis
jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von
Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand,
dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder
behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater
Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende
Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.)
gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die
Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren
Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu
bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S.
Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In
diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende
Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu
verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom
Januar 2007, S. 16).
102 Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei
als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State,
International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten
Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in
internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International
Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.;
Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“
auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary
Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des
Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten
Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s
failed Commitment, S. 13 f.)
105 f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf
folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche)
Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine
zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA,
Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of
State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR –
SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and
Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group
vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim
Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights
Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information
Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148,
19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter
Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten
begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren
würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige
Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie
geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights
Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious
Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of
Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124
mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S.
9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei
wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis
niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies
gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene
Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein
vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei
die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie
erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden
regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und
Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die
Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution
of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der
Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs
beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung
ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht
beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören
(Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22;
Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl.
beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu
gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut
sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl.
ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom
07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar
2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s
failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen,
bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore
gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und
schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150
weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am
02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation
mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin
Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein
gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300
Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre
2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und
aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information
Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende
Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf
hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum
Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die
Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres
Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in
Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich
nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das
Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen
überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya
Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die
Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher
Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen -
ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand
seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös
motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre
2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann
aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s
failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten
der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of
Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia
Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche
Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu
auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012,
S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006
ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und
zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl.
Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen
sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden
seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten
(vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff.
19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore
(siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011
zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab
(vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff.
19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche
Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige
Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung,
Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der
Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden
beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der
Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass
Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei
sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind
die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im
traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im
Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht
bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den
Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden
Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales
Risiko“ besteht.
111 Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für
Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in
einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber
auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed
Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef
Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass
dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs
der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte,
am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500
Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl.
Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen
auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung
nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht
mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération
Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der
mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der
Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die
einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts
auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit
nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem
Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu
dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in
der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende
Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty
international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten
unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es
niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck
ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan,
07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung
und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S.
Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.;
UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist
dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu
begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch
in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich
letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch
strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine
Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn
namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den
Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem
Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender
Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische
Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater
Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die
Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher
Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt
beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch
ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber
den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos
ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights
Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der
muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya
Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die
Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf
öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden
Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL
darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9
Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer
Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art.
9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37).
Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das
Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr
öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine
Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl.
Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure
zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig
lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die
Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden
Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen,
können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten
Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen
Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende
Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw.
gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt
der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten
Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen
würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich
der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl
nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings
nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten
Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den
ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein,
eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber
nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich
die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht
geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen
und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise
berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits
ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen
dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der
Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen
Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene
Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten
Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar
überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar
verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen
können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man
diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation
der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch §
144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche)
Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht
auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag,
dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter
haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom
Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein
müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl
sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des
Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die
Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur
solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in
gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres
auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und
lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber
zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der
hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die
ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis
aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn
sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden
Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer
jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von
Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass
an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen
gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch
schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen
Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines
Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller
Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang
in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise
eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht,
macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei
der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann,
einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem
Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar
Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens
Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl.
nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach
um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur
Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem
realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
117 Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom
Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa
400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor
Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten
und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem
Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil
ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der
Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja
drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten,
lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige
Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird,
öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu
beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen
Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem
Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als
unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden
werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende
weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten
flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese
seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen
Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht
unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-
Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen
und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten,
ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine
Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch
um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche
Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der
Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in
quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in
diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller
Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben
gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht
annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss,
wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von
Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante
Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der
Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der
Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen
Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend
verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und
menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des
„effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart
gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen
Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher
Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung
staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen),
weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben
gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an
deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist,
sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den
Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist.
Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute
praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um
in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor
staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss
nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit
ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und
gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird,
und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in
unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater
feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise
verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die
Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls
aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen
vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder
noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall
begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser
letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne
des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender
Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in
die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein
interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in
zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem
pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen
Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und
2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt
dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der
Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission
to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin,
dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von
amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends
sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen
Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte
Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat,
wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas
höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau
etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report
Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar
2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf
nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort
unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin
Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für
den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den
Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl.
UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah
Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen,
weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere
Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer
kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach
den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger
Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen
würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen,
ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann,
was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher
Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer
Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht
eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen
dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann
mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem
Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch
außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger
Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass
dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt
nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind,
noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der
vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten
Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar
und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse
Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben
oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff
von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL
nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g)
auszugehen ist.
124 V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden
ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er
im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen
Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines
Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom
13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers
in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten –
dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende
Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich
danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor
Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben
in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten
Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen
sind.
126 VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b
AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO
nicht erfüllt sind.