Urteil des VG Stuttgart vom 04.04.2009

VG Stuttgart (bundesrepublik deutschland, deutschland, antragsteller, aufenthalt im ausland, verhältnis zu, gefährdung, sicherheit, ausland, annahme, bad)

VG Stuttgart Beschluß vom 4.4.2009, 11 K 1296/09
Untersagung der Ausreise in das Ausland
Leitsätze
1. Bei der Beurteilung einer Gefahr i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 2, § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist allein auf die
Erkenntnismöglichkeiten des konkret handelnden Beamten zum Zeitpunkt des Einschreitens abzustellen.
2. Mit Blick auf den aus den Gesetzgebungsmaterialien erkennbaren Willen des Normgebers, wonach in die
Gefährdungsprognose nur Vorfälle innerhalb der letzten 12 Monate einfließen dürfen, sowie in Ansehung des mit
einer Ausreiseuntersagung verbundenen gravierenden Eingriffs in die grundgesetzlich geschützte Ausreisefreiheit
muss die in § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG vorausgesetzte Gefährdungslage eine hinreichende Aktualität aufweisen.
3. Angesichts des hohen Rangs der grundgesetzlich garantierten Reisefreiheit können szenetypische
Kleidungsstücke (dunkle Kleidung mit Kapuze oder Schal) eine Ausreiseuntersagung nicht rechtfertigen. Dies gilt
auch bezüglich widersprüchlicher Angaben zum Reiseziel und bei Sympathie für die linke Szene. Nur wenn sich
der Betroffene in der jüngeren Vergangenheit durch Gewalttätigkeiten hervorgetan hat, liegen „bestimmte
Tatsachen“ vor, die eine Gefährdung erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland begründen können.
Tenor
Die aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 03.04.2009 gegen den Bescheid der
Antragsgegnerin vom 01.04.2009 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.11 K 1302/09
Gründe
1
Der vom Antragsteller gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nach § 80 Abs. 5 und
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 14 PassG statthaft und auch sonst zulässig. Da der Bescheid der
Bundespolizeidirektion Stuttgart vom 01.04.2009 kraft Gesetzes (§ 14 PassG) sofort vollziehbar ist, war die in
diesem Bescheid enthaltene Anordnung des sofortigen Vollzugs überflüssig.
2
Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Aufschub der
Rechtswirkungen des Bescheids der Antragsgegnerin vom 01.04.2009 überwiegt das kraft Gesetzes
anzunehmende (§ 14 PassG) öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Bescheids. Denn es
bestehen bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach-
und Rechtslage ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids der Bundespolizeidirektion Stuttgart
vom 01.04.2009.
3
Rechtsgrundlage der Verfügung ist § 10 Abs. 1 Satz 2 PassG. Danach können die für die polizeiliche Kontrolle
des grenzüberschreitenden Verkehrs zuständigen Behörden einem Deutschen die Ausreise in das Ausland
untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass bei ihm die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1
PassG vorliegen. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist der Pass zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die
Annahme begründen, dass der Passbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche
Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Diese Bestimmung schränkt die Ausreisefreiheit, die als
Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist, in zulässiger Weise als
Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ein (vgl. BVerfG, Urt. v. 16.01.1957 - 1 BvR 253/56 - BVerfGE 6,
32).
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Die Antragsgegnerin hat die Ausreiseuntersagung ersichtlich auf eine Gefährdung sonstiger erheblicher
Belange der Bundesrepublik Deutschland gestützt (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG). Die Frage, ob und mit
welchem Gewicht durch die Anwesenheit eines deutschen Staatsangehörigen in einem anderen Land Belange
der Bundesrepublik Deutschland gefährdet werden, ist uneingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Unter sonstigen
erheblichen Belangen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 3 3. Alt. PassG sind solche
Interessen zu verstehen, die den beiden anderen Tatbestandsmerkmalen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG (innere
oder äußere Sicherheit) in ihrer Gewichtigkeit zwar nicht gleichstehen, aber jedenfalls nahe kommen (vgl.
BVerfG, Urt. v. 16.01.1957 a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 29.08.1968 - I C 67.67 - DÖV 1969, 74 und Beschl. v.
17.09.1998 - 1 B 28/98 - Buchholz 402.00 § 7 PassG Nr. 1). Als eine Gefährdung erheblicher Belange der
Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG können unter besonderen Umständen auch
Handlungen gewertet werden, die geeignet sind, dem internationalen Ansehen Deutschlands zu schaden (vgl.
BVerwG, Urt. v. 29.08.1968 a.a.O.). Sprechen bestimmte Tatsachen dafür, dass von einem Deutschen bei
seinem Aufenthalt im Ausland derartige Handlungen zu befürchten sind, so kann dies als Vorsorgemaßnahme
gegenüber einer solchen Gefahr den Erlass eines Ausreiseverbots, die Beschränkung des Geltungsbereichs
eines Passes/Personalausweises oder den Erlass einer Meldeauflage rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urt. v.
25.07.2007 - 6 C 39/06 - BVerwGE 129, 142; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 18.05.1994 - 1 S 667/94 - DVBl.
1995, 360; Beschl. v. 07.06.1995 - 1 S 3530/94 - NVwZ-RR 1996, 420; Beschl. v. 14.06.2000 - 1 S 1271/00 -
NJW 2000, 3658 und Urt. v. 07.12.2004 - 1 S 2218/03 - VBlBW 2005, 231; OVG Bremen, Beschluss vom
28.06.2000 - 1 B 240/00 - NordÖR 2001, 107).
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Nach Lage der Dinge dürfte die Antragsgegnerin zwar zu Recht davon ausgegangen sein, dass im
Zusammenhang mit der Durchführung des NATO-Gipfels u.a. in Strasbourg auch mit gewalttätigen
Ausschreitungen zu rechnen ist. Vorfälle bei internationalen Gipfel-Konferenzen in jüngster Vergangenheit
(G20-Gipfel London 2009; G8-Gipfel Heiligendamm 2007), sowie zahlreiche auch im Internet kursierende
entsprechende Aufrufe sprechen als Tatsachen ohne weiteres für eine solche Annahme.
6
Die Kammer hat in der vorliegenden Konstellation aber schon Zweifel, ob die Annahme der Antragsgegnerin
zutrifft, durch ein vom Antragsteller befürchtetes gewalttätiges Verhalten anlässlich von Demonstrationen im
Raum Strasbourg/Frankreich aus diesem Anlass könnte dem internationalen Ansehen Deutschlands Schaden
zugefügt und damit erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet werden. Zwar hat die
Rechtsprechung - gerade auch die der Kammer (vgl. Beschl. v. 28.09.2005 - 11 K 3156/05 - NJW 2006, 1017)
für Ausschreitungen deutscher Fußball-"Hooligans" anlässlich von internationalen Fußballspielen im Ausland
eine solche mögliche Schädigung des internationalen Ansehens Deutschlands angenommen. Von derartigen
Vorfällen ist der vorliegende Sachverhalt jedoch weit entfernt. Anders als "Hooligans", die anlässlich von
internationalen Sportveranstaltungen, namentlich Fußballspielen, ganz bewusst als Deutsche auch unter
Verwendung nationaler Symbole im Ausland auftreten, findet der - auch der gewaltsame - Protest sogenannter
"Gipfel-Gegner" (vgl. Internet: http://gipfelsoli.org) fernab solcher nationaler Bezüge in einem eher
internationalen Rahmen statt. Es dürfte daher auch für die internationale Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielen,
welche Staatsangehörigkeit die Teilnehmer an entsprechenden Ausschreitungen haben. Der Kammer ist -
gerade aus der allerjüngsten Vergangenheit im Zusammenhang mit Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel in
London - in den vergangenen Tagen keine Meldung in irgendeinem Medium erinnerlich, in der auf die
Staatsangehörigkeit etwaiger Randalierer abgestellt worden wäre. Äußerstenfalls unter Berücksichtigung der
tragischen Vorfälle in Lens/Frankreich im Jahre 1998, bei der ein französischer Gendarm von einer Gruppe
deutscher „Hooligans“ auf das Schwerste verletzt wurde, ist unter Umständen die Befürchtung zulässig, käme
es zu erneuten Verletzungen französischer Sicherheitskräfte durch gewalttätige - deutsche - Demonstranten
anlässlich von Protesten im Raum Strasbourg/Frankreich in den kommenden Tagen, könnte die Frage der
Nationalität der Randalierer gerade auch in der französischen Öffentlichkeit erneut in den Blick genommen und
möglicherweise doch das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beschädigt werden. Dies
kann letztlich aber dahinstehen.
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Denn nach dem Wortlaut des Gesetzes müssen für die Feststellung einer angenommenen Gefährdung
''bestimmte Tatsachen'' sprechen. Im Rahmen der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten ist für die
Kammer aber nicht zu erkennen, dass gerade der Antragsteller zu dem Personenkreis gehört, von dem bei
einem Aufenthalt in Frankreich vor, während und nach dem NATO-Gipfel eine Schädigung des Ansehens der
Bundesrepublik Deutschland ernsthaft zu befürchten ist. Unter Anwendung der Grundsätze zur sog
„Anscheinsgefahr“ (vgl. VGH Ba.-Wü., Urt. v. 07.12.2004 a.a.O.) ist es hierbei entscheidend, ob der handelnde
Beamte aus der ex-ante-Sicht mit Blick auf die ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Informationen
aufgrund hinreichender Anhaltspunkte vom Vorliegen einer Gefährdung ausgehen konnte und diese Prognose
dem Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters entspricht (vgl. VGH Ba.-Wü., Urt. v.
07.12.2004 a.a.O.; Urt. v. 22.7.2004 - 1 S 410/03 - NJW 2005, 88; Urteil vom 10.5.1990 - 5 S 1842/89 - VBlBW
1990, 469 und Beschluss vom 16.10.1990 - 8 S 2087/90 - NVwZ 1991, 493; Wolf/Stephan, Polizeigesetz für
Baden-Württemberg, 5. Aufl., § 1 RdNr. 34; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-
Württemberg, 5. Aufl., RdNr. 424).
8
Zwar können die zur Gefahrenabwehr berufenen Behörden die legitime Aufgabe präventiven
Rechtsgüterschutzes nur effektiv erfüllen, wenn sie unter Umständen auch auf unsicherer Tatsachengrundlage
einschreiten. Um zu vermeiden, dass ein im Rahmen dieser Aufgabe als Dienstpflicht auferlegtes Handeln in
die Illegalität gedrängt wird, ist bei der Beurteilung der Gefahr allein auf die Erkenntnismöglichkeiten des
konkret handelnden Beamten zum Zeitpunkt des Einschreitens abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.2.1974
- 1 C 31.72 - BVerwGE 45, 51; Würtenberger/Heckmann/Riggert, a.a.O., RdNr. 425). Aber selbst bei
Anwendung dieser Grundsätze der Anscheinsgefahr erweist sich der streitgegenständliche Bescheid nicht als
rechtmäßig. Der Beamte der Bundespolizei durfte auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden
Informationen bei pflichtgemäßem Handeln nicht davon ausgehen, dass im Falle des Antragstellers bestimmte
Tatsachen die Annahme einer Gefährdung im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG begründen.
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Im angefochtenen Bescheid der Antragsgegnerin wird zum einen darauf abgestellt, dass der Antragsteller im
Jahr 2004 in Berlin wegen räuberischen Diebstahls polizeilich in Erscheinung getreten sei. Nach polizeilicher
Lagebeurteilung sei der Antragsteller der gewaltbereiten linken Szene zuzuordnen.
10 Diese „Erkenntnisse“ werden jedoch nicht näher konkretisiert. Von der Antragsgegnerin wird auch nicht
dargelegt, ob die polizeiliche Erkenntnis zu dem räuberischen Diebstahl zu einer strafrechtlichen Verurteilung
geführt hat. Zugunsten des Antragstellers ist deshalb zu unterstellen, dass eine strafrechtliche Verurteilung
nicht erfolgt ist. Der Umstand, dass es nicht zu strafrechtlichen Verurteilungen gekommen ist, mindert aber die
Relevanz der von der Antragsgegnerin genannten „Erkenntnisse“ für die Gefahrenprognose. Einem
Restverdacht kommt im Verhältnis zu einer strafrechtlichen Verurteilung im Rahmen der Gefahrenprognose ein
geringeres Gewicht zu (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 07.12.2004 aaO.). Die nicht weiter konkretisierten
Hinweise im Bescheid der Antragsgegnerin vom 01.04.2009 zu dem dem Antragsteller vorgehaltenen
räuberischen Diebstahl im Jahr 2004 können somit nicht hinreichend verlässlich den Schluss zulassen, dass
sich der Antragsteller an von Gewalt geprägten Aktionen beteiligen wird.
11 Hinzu kommt Folgendes: Mit Blick auf den aus den Gesetzgebungsmaterialien erkennbaren Willen des
Normgebers (vgl. BTDrucks. 14/2726), wonach in die Gefährdungsprognose nur Vorfälle innerhalb der letzten
12 Monate einfließen dürfen, sowie in Ansehung des mit einer Ausreiseuntersagung verbundenen gravierenden
Eingriffs in die grundrechtlich geschützte Ausreisefreiheit muss die in § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG vorausgesetzte
Gefährdungslage eine hinreichende Aktualität aufweisen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 07.12.2004 a.a.O.).
Nach dem Inhalt des streitgegenständlichen Bescheids ist jedoch augenfällig, dass hinsichtlich des
Antragstellers polizeiliche „Erkenntnisse“ nur aus dem Jahr 2004 vorliegen. Dieser aus dem Jahre 2004
stammende Vorgang vermag aber aufgrund des Zeitablaufs eine aktuelle Gefährdungslage nicht zu begründen.
12 Die Antragsgegnerin hält in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 01.04.2009 dem Antragsteller weiter vor,
gegen mehrere Insassen des Busses, in dem der Antragsteller grenzpolizeilich kontrolliert worden sei, lägen
polizeiliche Erkenntnisse vor, die auf die Zugehörigkeit zur gewaltbereiten, linken Szene hinwiesen. Der
Antragsteller sei wie die anderen Insassen des Busses szenetypisch gekleidet gewesen und der linken,
gewaltbereiten Szene zuzuordnen. Dies habe sich durch dunkle Kleidung mit Kapuzen bzw. Schals geäußert,
die als Vermummungsgegenstände und zur Verschleierung der Identität bei Ausschreitungen/Straftaten benutzt
werden könnten. Angaben zum tatsächlichen Reiseziel habe der Antragsteller nicht gemacht und hierdurch
seine Reiseabsichten verschleiern wollen.
13 Eine rechtsstaatlich vertretbare Gefahrenprognose kann sich auf diese vagen „Erkenntnisse“ indes nicht
stützen (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 04.04.2009 - 1 S 809/09). Angesichts des hohen Rangs der
grundgesetzlich garantierten Reisefreiheit können irgendwelche der Polizei nicht genehmen Bekleidungsstücke
eine Ausreiseuntersagung nicht rechtfertigen. Dies gilt erst recht bezüglich angeblicher widersprüchlicher
Angaben des Antragstellers zum Reiseziel und der ihm unterstellten Sympathie für die linke Szene. Nur wenn
der Antragsteller sich in der jüngeren Vergangenheit durch Gewalttätigkeiten hervorgetan hätte, lägen
„bestimmte Tatsachen“ vor, die eine Gefährdung erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland
begründen könnten (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 04.04.2009 - 1 S 808/09). Konkrete Hinweise
hierauf sind dem streitgegenständlichen Bescheid vom 01.04.2009 indes nicht zu entnehmen.
14 Der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin verstößt zudem gegen die Verordnung (EG) 562/2006 des
Europäischen Parlamentes und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das
Überschreiten der Grenzen durch Personen - Schengener Grenzkodex (SGK) - (ABl. EG 2006 Nr. L 105/1).
15 Gemäß Art. 1 SGK sieht die Verordnung vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden,
die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union überschreiten, wobei Art. 2
Ziffer 9 und 10 SGK den Begriff der Grenzkontrollen näher definieren.
16 Gemäß Art. 3 SGK findet diese Verordnung auf alle Personen, die die Binnengrenzen eines Mitgliedsstaats
überschreiten, Anwendung, also auch auf den Antragsteller. Hierzu bestimmt Art. 20 SGK, dass die
Binnengrenze unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne
Personenkontrolle überschritten werden darf.
17 Von den vorgenannten Bestimmungen kann allerdings nach Titel III Kapitel 2 - Vorübergehende
Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen -abgewichen werden. Von dieser Möglichkeit hat
die Bundesrepublik Deutschland anlässlich des NATO-Gipfels Gebrauch gemacht. Nach dem in Art. 24 SGK
festgelegten Verfahren hat sie gemäß Art. 23 Abs. 1 SGK erklärt, für einen begrenzten Zeitraum an den
Binnengrenzen Grenzkontrollen wieder einzuführen und hierüber die anderen Mitgliedsstaaten und die
Kommission gemäß Art. 24 SGK in Kenntnis gesetzt.
18 Entscheidend ist insoweit, dass Art. 23 SGK die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den
Binnengrenzen nur im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren
Sicherheit erlaubt. Zwar hat die Bundesrepublik Deutschland, indem sie das genannte Verfahren nach Art. 23
und 24 SGK gewählt hat, zu erkennen gegeben, dass sie im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel von diesen
Voraussetzungen ausgeht. Diese Einschätzung ist im Grundsatz nicht zu beanstanden.
19 Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen ist in einem solchen Fall dann aber nur zulässig, wenn die
anschließend darauf fußenden Maßnahmen eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
inneren Sicherheit abwenden sollen. Das entgegen den Bestimmungen des SGK vorübergehend wieder
eingeführte Grenzregime darf dagegen zu anderen Zwecken nicht verwendet werden.
20 Mit dem auf § 10 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG fußenden streitgegenständlichen Bescheid will
die Antragsgegnerin aber allein verhindern, dass das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland
beschädigt und damit erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet werden. Eine solche
Maßnahme dient nicht der Abwendung einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
inneren Sicherheit. Ihre Anordnung im Rahmen der vorübergehend wieder eingeführten Grenzkontrollen an einer
Binnengrenze verstößt daher gegen die Bestimmungen des SGK.
21 Davon unberührt bleibt das Recht der Französischen Republik, die eine entsprechende vorübergehende
Wiedereinführung von Grenzkontrollen erklärt hat, aus eben dem Grund der Abwendung einer schwerwiegenden
Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit Einreiseverweigerungen auszusprechen.
22 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
23 Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs 2 GKG. Da vorliegend die Hauptsache vorweggenommen wird, ist
eine Reduzierung des Regelstreitwerts nicht angezeigt.