Urteil des VG Stuttgart vom 13.12.2010
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VG Stuttgart Urteil vom 13.12.2010, 11 K 1902/10
Rückforderung von Ausbildungsförderung
Leitsätze
§ 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG findet nur Anwendung bei nachträglicher Änderung der Verhältnisse, die bei Erlass des Bewilligungsbescheids vorgelegen
haben, setzt also eine Einkommensveränderung nach Erlass der Bewilligungsbescheids voraus.
Tenor
Der Bescheid des Studierendenwerks Hamburg vom 01.03.2010 und dessen Widerspruchsbescheid vom 04.05.2010 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung von Ausbildungsförderung.
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Der am … 1975 geborene Kläger studiert seit dem Sommersemester 2007 an der Hochschule Heilbronn - Technik, Wirtschaft, Informatik - im
Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen.
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Am 11.06.2009 beantragte der Kläger beim Studierendenwerk Hamburg die Bewilligung von Ausbildungsförderung für ein Auslandspraktikum in
den USA in der Zeit vom 01.08.2009 bis zum 28.02.2010. Mit Bescheid vom 26.08.2009 bewilligte das Studierendenwerk Hamburg
Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum August 2009 bis Januar 2010 in Höhe von 271,-- EUR monatlich. Mit Änderungsbescheid
vom 04.11.2009 setzte das Studierendenwerk Hamburg für den Bewilligungszeitraum November 2009 bis Januar 2010 Ausbildungsförderung
neu fest in Höhe von 343,-- EUR monatlich.
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Nach Vorlage sämtlicher Gehaltsabrechnungen für das Auslandspraktikum setzte das Studierendenwerk Hamburg mit Bescheid vom 01.03.2010
die dem Kläger zuerkannte Ausbildungsförderung neu fest für den Bewilligungszeitraum August 2009 bis Oktober 2009 in Höhe von 133,-- EUR
monatlich und für den Bewilligungszeitraum November 2009 bis Januar 2010 in Höhe von 205,-- EUR monatlich. Gleichzeitig wurde der Kläger
zur Rückzahlung von 828,-- EUR aufgefordert.
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Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 24.03.2010 Widerspruch ein und brachte zur Begründung vor, er habe alle Angaben zu seinem
Praktikumsgehalt rechtzeitig gemacht. Deshalb sei nicht nachvollziehbar, dass er zu viel Ausbildungsförderung erhalten habe. Nach den ihm
vorliegenden Gehaltsnachweisen habe er während seines Praktikums lediglich 5.606,84 US-Dollar verdient. Die Berechnungen des
Studierendenwerks Hamburg im Bescheid vom 01.03.2010 seien deshalb nicht zutreffend.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2010 wies das Studierendenwerk Hamburg den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, die
Rückzahlungsverpflichtung ergebe sich aus § 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG. Die Überzahlung des angerechneten Einkommens begründe die
Erstattungspflicht nach dieser Bestimmung. Auf ein Verschulden des Leistungsempfängers komme es nicht an. Auszugehen sei vom
Bruttoeinkommen im gesamten Bewilligungszeitraum. Nach der Praktikantenvergütung habe der Kläger brutto 6.829,94 US-Dollar (= 5.46,51
EUR) als Einkommen bezogen. Dies ergebe einen monatlichen Betrag von 841,08 EUR. Hiervon seien Werbungskosten in Höhe von monatlich
77,-- EUR abzuziehen. Von dem sich ergebenden monatlichen Einkommen in Höhe von 764,08 EUR sei weiter die
Sozialversicherungspauschale gemäß § 21 Abs. 2 BAföG (21,5 %) in Höhe von 164,28 EUR in Abzug zu bringen. Es verbleibe somit ein
anzurechnendes Einkommen in Höhe von 599,80 EUR monatlich.
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Am 27.05.2010 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, er habe nicht gewusst, dass für die Berechnung der
Ausbildungsförderung die Bruttoeinkünfte relevant seien. Er habe dem Beklagten regelmäßig seine Gehaltsunterlagen zugesandt; gleichwohl sei
eine Neuberechnung nicht erfolgt. Zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids sei die erhaltene Ausbildungsförderung für seinen
Lebensunterhalt verbraucht gewesen. Die Rücknahme sei ausgeschlossen, da er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut habe. Eine
Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit scheide nach § 45 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 SGB X aus.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Studierendenwerks Hamburg vom 01.03.2010 und dessen Widerspruchsbescheid vom 04.05.2010 aufzuheben.
10 Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
12 Er verweist auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
13 Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
14 Das Gericht kann trotz Ausbleibens eines Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da er bei der Ladung darauf
hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
15 Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
16 Das Studierendenwerk Hamburg hat den Förderungsanspruch des Klägers mit Bescheid vom 01.03.2010 neu berechnet und eine Überzahlung
in Höhe von 828 EUR ermittelt. Der Erstattungsbescheid des Studierendenwerks Hamburg vom 01.03.2010 enthält (konkludent) auch die
Aufhebung des früheren Bewilligungsbescheids (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.1981 - 5 C 61/79 - FamRZ 1982, 538; Urt. v. 21.07.1983 - 3 C 11/82 -
BVerwGE 67, 305 und Urt. v. 19.03.1992 - 5 C 41/88 - NVwZ-RR 1992, 423).
17 Der Beklagte hat den Aufhebungsbescheid zu Unrecht auf § 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG gestützt. Diese Bestimmung findet nur Anwendung bei
nachträglicher Änderung der Verhältnisse, die bei Erlass des Bewilligungsbescheides vorgelegen haben, setzt also eine
Einkommensveränderung nach Erlass des Bewilligungsbescheides voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.04.1992 - 5 C 41/88 - NVwZ-RR 1992, 423; a.
A. Ramsauer/Stallbaum/Sternal, BAföG, 4. Aufl., § 20 RdNr. 4, wonach § 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG auch die Fälle erfasst, in denen von Anfang an ein
unzutreffend niedriges Einkommen des Auszubildenden angesetzt worden ist).
18 Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor. Die Einkommensverhältnisse des Klägers haben sich nach Ergehen des Bewilligungsbescheids
vom 04.11.2009 nicht geändert. Der Kläger hat am 05.10.2009 und am 19.10.2009 dem Studierendenwerk Hamburg die von ihm tatsächlich
bezogene Ausbildungsvergütung mitgeteilt und entsprechende Nachweise vorgelegt. Gleichwohl hat das Studierendenwerk Hamburg im
Bescheid vom 04.11.2009 die vom Kläger tatsächlich bezogene Ausbildungsvergütung nicht berücksichtigt. Damit scheidet die Anwendung von
§ 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG vorliegend aus.
19 Da der Beklagte sachlich zutreffend von einer teilweisen rechtswidrigen Bewilligung von Ausbildungsförderung im Bewilligungszeitraum August
2009 bis Januar 2010 ausgegangen ist, kam als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheids und die Rückforderung von
überzahlter Ausbildungsförderung allein § 45 i.V.§ 50 Abs. 1 SGB X in Betracht. Der Beklagte hat den streitgegenständlichen Bescheid indes
nicht auf diese Bestimmungen gestützt. Der Bescheid vom 01.03.2010 kann auch nicht in eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X
umgedeutet werden. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen liegen nicht vor.
20 Ein fehlerhafter Verwaltungsakt kann gemäß § 43 Abs. 1 SGB X in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche
Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und
wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Unter diesen Voraussetzungen sind auch die Verwaltungsgerichte im Gerichtsverfahren
ermächtigt, fehlerhafte Verwaltungsakte umzudeuten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.07.1983 - 2 B 176/81 - NVwZ 1984, 545; Urt. v. 21.10.1987 - 5 C
34/84 - BVerwGE 78, 159; Urt. v. 23.11.1999 - 9 C 16/99 - BVerwGE 110, 111 und Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 4/01 - BVerwGE 115, 111). Wie § 43
Abs. 3 SGB X verdeutlicht, kann ein fehlerhafter gebundener Verwaltungsakt aber nicht in eine nicht getroffene Ermessensentscheidung
umgedeutet werden. Bei der Rücknahmeentscheidung gemäß § 45 SGB X handelt es sich jedoch - im Gegensatz zu § 20 Abs. 1 Nr. 3 BAföG -
um eine Ermessensentscheidung.
21 Auch die den Verwaltungsgerichten gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgegebene Prüfung, ob sich der angegriffene Verwaltungsakt aus einer
anderen als der angegebenen Rechtsgrundlage rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1982 - 8 C 12/81 - BVerwGE 64, 356; Urt. v. 19.08.1988 -
8 C 29/87 - BVerwGE 80, 96 und Urt. v. 30.06.1989 - 4 C 40/88 - BVerwGE 82, 185) führt nicht zu einem die Rechtmäßigkeit des angegriffenen
Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids bestätigenden Ergebnis. Mit der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsaktes (§ 45 SGB) lässt sich der streitgegenständliche Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid nicht rechtfertigen. § 45 SGB X ist
eine Ermessensnorm, die eine Abwägung zwischen dem Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsakts und dem
öffentlichen Interesse an einer Rücknahme erfordert (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.09.1987 - 5 C 26/84 - BVerwGE 78, 101). Entsprechende
Ermessenserwägungen sind aber weder im Ausgangs- noch im Widerspruchsbescheid angestellt worden, so dass aus der Sicht des § 45 SGB X
Wesentliches an dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid geändert werden müsste. Das steht einer richterlichen Rechtfertigung aus
anderen Gründen entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.06.1991 - 5 C 4/88 - BVerwGE 88, 342).
22 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.