Urteil des VG Stuttgart vom 11.03.2013

VG Stuttgart: aufschiebende wirkung, überwiegendes interesse, vollziehung, gefahr, ausnahme, nachahmung, bad, substanzverlust, propaganda, wiederherstellung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 11.3.2013, 8 S 159/13
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen, unter denen die Baurechtsbehörde die sofortige Vollziehung einer
Abbruchanordnung anordnen kann (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, vgl. Beschluss vom
11.07.1988 - 8 S 1775/88 - ESVGH 39, 234 [nur LS]).
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Sigmaringen vom 27. Dezember 2012 - 8 K 2405/12 - wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das
Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller „gegen die
baurechtliche Verfügung der Antragsgegnerin vom 21.05.2012 und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 21.08.2012“
wiederhergestellt. Mit dem auf § 47 Abs. 1 i.V.m. § 65 Satz 1 LBO gestützten Bescheid
vom 21.05.2012 wurden die Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs verpflichtet,
den auf der Rückseite des Carports auf ihrem Grundstück angebauten Fahrrad- und
Geräteschuppen abzubauen oder aber in der Weise zu verkleinern, dass mit der
Außenwand des Schuppens zur Grenze des Nachbargrundstücks eine Abstandsfläche
von mindestens 2,5 m eingehalten wird. Die im Beschwerdeverfahren dargelegten
Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist,
geben zu einer Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts keinen Anlass.
2 1. Das Verwaltungsgericht hat seinen Beschluss mit den beiden seine Entscheidung
jeweils selbständig tragenden Erwägungen begründet, dass die Erfolgsaussichten der
Klage der Antragsteller nicht gänzlich fehlten und kein besonderes öffentliches Interesse
an der sofortigen Vollziehung der Verfügung bestehe. Der Senat braucht im vorliegenden
Beschwerdeverfahren nicht zu entscheiden, ob die erste Annahme des
Verwaltungsgerichts zutrifft, dass die Erfolgsaussichten der von den Antragstellern
erhobenen Klage nicht gänzlich fehlten. Denn selbst wenn mit der Antragsgegnerin davon
auszugehen wäre, dass die angefochtene Verfügung rechtmäßig ist, lässt sich ihrem
Vorbringen im Beschwerdeverfahren nicht entnehmen, dass das erforderliche besondere
Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abbruchsanordnung im gegenwärtigen
Zeitpunkt vorliegt.
3 2. Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage
aufschiebende Wirkung. Deren Wegfall stellt nach dem Gesetz die Ausnahme dar und tritt
nur in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO ein. In dem hier einschlägigen Fall des § 80 Abs.
2 Satz 1 Nr. 4 VwGO muss das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung nicht
nur schriftlich begründet werden (§ 80 Abs. 3 VwGO), sondern auch - als überwiegendes
Interesse eines Beteiligten oder als öffentliches Interesse - materiell tatsächlich vorliegen
(vgl. Senat, Beschluss vom 11.07.1988 - 8 S 1775/88 - ESVGH 39, 234 [nur LS]). Das ist
hier weder im Hinblick auf das öffentliche Interesse (unten a) noch im Hinblick auf das
Interesse eines Beteiligten - insoweit kommen nur die Interessen des Beigeladenen in
Betracht (dazu unten b) - erkennbar.
4 a) aa) Das allgemeine öffentliche Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände
reicht regelmäßig nicht aus, um das öffentliche Interesse im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1
Nr. 4 VwGO zu begründen, denn dieses Interesse findet seinen Ausdruck bereits im Erlass
der baurechtlichen Verfügung selbst. Dies gilt auch dann, wenn die Verfügung sich bei
summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtmäßig erweist, so dass letzteres
hier zugunsten der Antragsgegnerin unterstellt werden kann. Denn es müssen weitere,
darüber hinausgehende und besondere Umstände vorliegen, um ausnahmsweise das
besondere öffentliche Interesse an der sofortigen, d.h. schon vor dem Eintritt der
Bestandskraft des Verwaltungsakts zulässigen Vollziehung zu bejahen. Dieses Regel-
Ausnahme-Verhältnis ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten (vgl. zu
alledem Senat, Beschluss vom 11.07.1988 a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom
19.06.1975 - III 766/75 - BRS 29 Nr. 173, und vom 13.03.1997 - 13 S 1132/96 - ESVGH 47,
177; Sauter, LBO, 3. Aufl., § 65 Rn. 72 m.w.N.).
5 Umstände, die ausnahmsweise die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen,
können etwa in der von der Anlage ausgehenden Gefahr für Leib und Leben liegen oder
aber in einer konkreten negativen Vorbildwirkung der Anlage in dem Sinne, dass das
Vorhandensein der Anlage bereits zur Errichtung weiterer illegaler Anlagen in der näheren
Umgebung geführt hat oder zumindest die Gefahr der Errichtung solcher Anlagen vor
Unanfechtbarkeit der Beseitigungsverfügung nachweislich droht (vgl. Senat, Beschluss
vom 11.07.1988 a.a.O.).
6 bb) Derartige besondere Umstände sind im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Die
Antragsgegnerin verweist hier auf die Kenntnis der Nachbarschaft von der baulichen
Anlage und eine daran anknüpfende „Mund-zu-Mund-Propaganda“. Dieses Vorbringen
entbehrt allerdings der Substanz; die konkrete Gefahr einer Nachahmung gerade während
des anhängigen Hauptsacheverfahrens lässt sich daraus nicht entnehmen.
7 Ebenso hat das Verwaltungsgericht überzeugend dargelegt, dass der in Rede stehende
Schuppen nicht etwa wegen seiner exponierten Lage oder seiner Einsehbarkeit die
Gefahr etwaiger Nachahmung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens begründet. Wie
sich aus den von der Antragsgegnerin selbst im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht
vorgelegten Lichtbildern ergibt, befindet sich der Schuppen in einem bebauten Gebiet und
ist allenfalls von dem südwestlichen Feldweg her zu sehen, während er von sonstigen
Standpunkten aus von dem (genehmigten) Carport verdeckt wird. Darüber hinaus macht
die Antragsgegnerin zwar geltend, dass der Schuppen bereits seit 2005 bestehe, legt aber
nicht dar, dass in diesem Zeitraum vergleichbare Anlagen errichtet worden wären. Eine
Nachahmungsgefahr gerade während des anhängigen Hauptsacheverfahrens liegt daher
eher fern; überdies wird bei bereits seit längerer Zeit bestehenden Schwarzbauten eine
sofortige Vollziehung der Abbruchanordnung in der Regel nicht in Betracht kommen (vgl.
Sauter, a.a.O., § 65 Rn. 74).
8 Soweit in der Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen
Vollziehung einer Abbruchanordnung auch im Hinblick darauf bejaht worden ist, dass die
Anlage ohne wesentlichen Substanzverlust - mit der Möglichkeit der anschließenden
Wiederverwendung der Bauteile - beseitigt werden könne (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 28.08.1995 - 11 B 1957/95 - NVwZ-RR 1996, 192), lässt sich dem
Vorbringen der Antragsgegnerin jedenfalls nicht entnehmen, dass eine derartige
Beseitigung ohne wesentlichen Substanzverlust hier möglich wäre. Es kann daher offen
bleiben, ob dieser Gesichtspunkt überhaupt ein Dringlichkeitsinteresse begründen könnte.
9 Die Antragsgegnerin weist schließlich noch auf den Zeitablauf bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens, auf die Notwendigkeit eines zeitnahen behördlichen Einschreitens
mit der Folge einer „ernsthaft diskriminierenden Wirkung auf Schwarzbauer“ sowie die
Wiederherstellung der Ordnungsfunktion des öffentlichen Baurechts hin. Doch vermögen
diese allgemeinen, nicht auf die hier konkret vorliegende Fallgestaltung bezogenen
Gesichtspunkte kein besonderes öffentliches Interesse an dem Sofortvollzug der
Verfügung zu begründen, denn eine Abbruchanordnung hat, auch wenn sie unter
Anordnung der sofortigen Vollziehung ergeht, keinen Strafcharakter und dient - abgesehen
von der bereits erörterten Abwehr einer konkreten Nachahmungsgefahr - auch nicht der
Abschreckung (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.06.1975 a.a.O.). Letzteres steht
auch der Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen
Vollziehung mit Blick auf den von der Antragsgegnerin erwähnten Nutzungsvorteil, den die
Antragsteller aus der baulichen Anlage ziehen, sowie im Hinblick auf die aus Sicht der
Antragsgegnerin gegebene „Hinhaltetaktik“ der Antragsteller entgegen.
10 b) Ein überwiegendes Interesse des Beigeladenen, das die sofortige Vollziehung der
Abbruchanordnung begründen könnte, legt die Antragsgegnerin nicht dar. Allein der
Umstand, dass hier aus Sicht der Antragsgegnerin der Verstoß gegen eine
nachbarschützende Vorschrift gegeben ist, rechtfertigt für sich genommen noch nicht die
sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung. Die von der Antragsgegnerin angenommene
„Unzumutbarkeit“ des Schuppens zu Lasten des Beigeladenen wird von ihr nicht näher
begründet.
11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung folgt (entsprechend der Wertfestsetzung des Verwaltungsgerichts)
aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs.1 GKG.
12 Der Beschluss ist unanfechtbar.